Libyen und die Responsibility to Protect

Hintergründe zur Intervention in Libyen

, von  Rene Wadlow, Übersetzt von Daniel Kosak

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Libyen und die Responsibility to Protect
NATO Kampfflugzeuge. Einige NATO-Staaten intervenieren in Libyen und nehmen dabei die R2P wahr. NATO-Photo, © 2011, DND-MDN Canada

Wenn eine humanitäre Intervention tatsächlich einen inakzeptablen Angriff auf die Souveränität darstellt, wie sollen wir dann auf Ruanda und Srebrenica antworten – auf grobe und systematische Menschenrechtsverletzungen, die alle gemeinsamen Grundsätze der Menschheit missachten?

Der damalige UN-Generalsekretär Kofi Annan im Jahr 2000.

Die Luft- und Seeangriffe der aus Frankreich, Großbritannien, den USA und weiteren Verbündeten bestehenden Koalition der Willigen in Libyen sind die erste größere Aktion im Geiste der Responsibility to Protect (kurz: R2P; deutsch: Verantwortung zum Schutz). In den 1990er Jahren gab es große Diskussionen zwischen Regierungen und Nichtregierungsorganisationen (NGOs) über „das Recht oder die Pflicht zur humanitären Intervention“. Dieses Konzept wurde von Bernard Kouchner entwickelt, einem NGO- Aktivisten und späteren französischen Außenminister. Der Begriff selbst scheint zuerst von dem franko-rumänischen Schriftsteller Eugène Ionesco benutzt worden zu sein.

Die oftmals hitzigen Diskussionen, die auf Kouchners Vorschläge folgten, führten dazu, dass die kanadische Regierung eine „Internationale Kommission zu Interventionen und staatlicher Souveränität“ einrichtete, die im Dezember 2001 ihren Bericht „The Responsibilty to Protect“ veröffentlichte.

Die drei Bestandteile der R2P

Die Befunde dieses Berichts wurden von den Vereinten Nationen auf einem Weltgipfel im September 2005 weitgehend angenommen. Der zentrale Grundsatz der Responsibility to Protect ist, dass jeder Staat die Verantwortung hat, seine Bürger von Massenmorden, Genozid, ethnischen Säuberungen und ähnlichen Massenverbrechen zu schützen. Wenn ein Staat jedoch nicht in der Lage oder nicht willens ist, diese Aufgabe zu erfüllen, fällt die Responsibility to Protect der internationalen Gemeinschaft zu – d.h. grundsätzlich den Vereinten Nationen, die der organisierte Ausdruck der internationalen Gemeinschaft sind. Die Responsibility to Protect umfasst drei verschiedene Bestandteile:

1) Die Responsibility to Prevent (Pflicht zur Prävention)

2) Die Responsibility to React (Pflicht zur Reaktion)

3) Die Responsibility to Rebuild (Pflicht zum Wiederaufbau)

Die internationale Gemeinschaft trägt die Verantwortung zu handeln, um die Rechte derjenigen zu schützen, die von internen Konflikten betroffen sind, besonders das Recht auf Freiheit von willkürlichen Tötungen, Folter und dem massenhaften Verlust von Leben – tatsächlich oder bevorstehend. Die Responsibility to Protect ist ein wichtiger Schritt zu einer kosmopolitischen, konstitutionellen Rechtsordnung, die den alten Rahmen des Völkerrechts ersetzt, der auf der territorialen Integrität und Nicht-Einmischung basiert.

Der Fall Libyen

Es ist noch zu früh um zu sahen, wie die Intervention in Libyen sich entwickeln wird. Zu diesem Zeitpunkt müssen wir uns eingestehen, dass es möglicherweise nicht möglich sein wird, in jedem gerechtfertigten Fall eine Intervention durchzuführen. Trotzdem ist das kein Grund, eine Intervention nicht durchzuführen.

Die wahre Aufgabe in Libyen besteht darin, zu einem vereinbarten Ende der Kämpfe zu kommen und den Weg frei zu machen, für die notwendigen konstitutionellen Reformen und die Schaffung einer neuen Libyschen Republik auf breiter Grundlage.

Nach den weitgehend gewaltlosen Volksrevolutionen in Tunesien und Ägypten begannen auch in Libyen Proteste gegen die politische und wirtschaftliche Situation. Anstatt in einen Dialog einzutreten, wählte der libysche Staatsapparat eine Politik der Repression. Diese führte zu dem jetzt zu beobachtenden großen Ausmaß an bewaffneter Gewalt, löste einen großen Strom von ausländischen Arbeitskräften aus dem Land heraus aus und zwang viele Libyer dazu, ihre Heimatstädte zu verlassen.

Nur ein Waffenstillstand wird es ermöglichen, die grundsätzlichen konstitutionellen Probleme anzugehen, die das Land seit seiner Unabhängigkeit betreffen. Zum Zeitpunkt der Unabhängigkeit im Jahr 1951 lag die Macht bei König Sayyid Idris as Senussi (1890-1983), dem Anführer einer wichtigen islamischen Bruderschaft, der sich mehr um religiöse Reformen kümmerte als um die Struktur des Staates und die Qualität der Verwaltung. Seine Regierung hatte einige dezentrale, föderale Aspekte, aber basierte größtenteils auf den bereits bestehenden Stammesverbänden.

Gaddafis Machtergreifung

Als die Offiziere unter der Führung von Oberst Muammar Gaddafi sich im September 1969 an die Macht putschten, gab es ein kurzes Zeitfenster für Diskussionen über die Form der Regierung, die sie entwickeln würden. Es herrschte Übereinstimmung über eine stärkere Zentralisierung der Macht sowie die Beibehaltung der religiösen Politik des früheren Königs und der Senussi Bruderschaft, die man als Neo-Salafiyya bezeichnet hat. Aber um einer zukünftigen arabischen Einheit keine Hindernisse in den Weg zu legen, wurden keine offiziellen Verfassungsstrukturen für den Staat geschafften.

Oberst Gaddafi wollte die parlamentarische Regierungsform und repräsentative Wahlen abschaffen, und stattdessen Volkskomitees, einen Volkskongress und Revolutionskomitees einführen, die alle von den ideologischen Annahmen seiner Dritten Universellen Theorie zusammengehalten wurden, einem Konzept das Antiimperialismus, die arabische Einheit, islamischen Sozialismus und direkte Volksdemokratie umfasst.

Differenzen über den Charakter des Staates führten zu erheblichen Konflikten in den herrschenden Kreisen, vor allem im Jahr 1975. Aber alle offenen Diskussionen über den Charakter des Staates, das Verhältnis zwischen Staat und Gesellschaft und die Rolle der Stämme und der religiösen Bruderschaften wurden als subversiv und Verrat angesehen. In der Praxis lag die Entscheidungskompetenz in den Händen von Oberst Gaddafi, seiner Familie, seiner Freunde und Stammesverbündeten.

Waffenstillstand nötig

Kurzfristig könnten Verhandlungen nach einem Waffenstillstand dazu führen, dass Oberst Gaddafi, seine Söhne und Verbündeten weiterhin eine Rolle in der libyschen Machtstruktur spielen. Das Ausmaß an Gewalt ist jedoch ein klarer Beweis, dass die staatlichen Strukturen nicht funktionieren, und dass ein Parlament es den Forderungen des Volkes ermöglichen würde, gehört zu werden und Grenzen für die Ausübung der Macht zu schaffen.

Historisch gab es in Libyen die sechzehn Marabtin Stämme, die für ihre religiöse Weisheit angesehen waren und als Vermittler und Schlichter in den politischen Strukturen des präkolonialen Libyen wirkten. Die Tradition des versöhnlichen Ausgleichs könnte immer noch bestehen und traditionelle Möglichkeiten der Vermittlung sollten erkundet werden.

Ein Waffenstillstand muss der erste Schritt sein und die Vereinten Nationen die geeignetste Institution um die Einhaltung des Waffenstillstands zu gewährleisten, wenn die Diskussionen über eine neue Verfassung beginnen.

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