Vom Tandem zum Anhängevelo

, von  Moritz Rudolph

Vom Tandem zum Anhängevelo

Das deutsch-französische Tandem ist nicht einfach aus dem Tritt gekommen. Es hat sich gewandelt und fährt jetzt als deutsches Fahrrad mit französischem Anhängevelo über den Kontinent. Denn die Krise hat die Machtverhältnisse zugunsten Berlins umgestaltet und legt zugleich wirtschaftspolitische Differenzen zwischen beiden Ländern frei. Der europäische Integrationsmodus wird künftig ein anderer sein.

Es knirscht im deutsch-französischen Gebälk. Zwar einigten sich Bundeskanzlerin Merkel und Frankreichs Präsident Hollande Ende Mai auf gemeinsame Vorschläge zur Reform der Wirtschafts- und Währungsunion. Doch darf dies nicht über die Verstimmungen der vergangenen Monate hinwegtäuschen. Beinahe wöchentlich nahmen sich die Regierungsparteien beiderseits des Rheins wechselseitig aufs Korn. Kurz vor dem Treffen kritisierte Hollande erneut den Sparkurs, der ihm aus Brüssel und Berlin anempfohlen wird; er lasse sich nicht „diktieren“, was er zu tun habe. CDU/CSU-Politiker reagierten und warfen dem sparunwilligen Hollande vor „im Unterricht nicht aufgepasst“ zu haben.

Eine Woche zuvor reiste bereits Bundesaußenminister Westerwelle nach Paris, um das angeknackste deutsch-französische Verhältnis zu kitten. Im Gepäck hatte er die Widerlegung dreier „Mythen über Deutschland“ aus Sicht der Bundesregierung: Deutschland sei weder unsolidarisch, noch habe es sich seinen wirtschaftlichen Erfolg auf Kosten der Armen im Land erkauft, noch sei es vom Dogma der Austerität befallen.

Westerwelle reagierte damit auf ein Ende April veröffentlichtes Europamanifest der französischen Sozialisten. Darin kritisierten sie den Europa- und insbesondere Eurokurs der „unnachgiebigen Egoistin“ Angela Merkel. „Der europäischen Rechten demokratisch die Stirn zu bieten, heißt, die deutsche Rechte politisch zu konfrontieren“, heißt es in dem Papier.

Die Verbalattacken sind Ausdruck tiefer liegender Verschiebungen in der EU-Statik. Die Krise brachte zwei Tendenzen zum Vorschein, die das deutsch-französische Gespann aus dem Rhythmus bringen: eine ideologische Kluft und die Machtasymmetrien zwischen Berlin und Paris.

Ideologischer (Rhein-)Graben

Wirtschaftspolitisch ist der Rhein ein Ozean. Er trennt zwei Länder, die unterschiedlichen ökonomischen Dogmen anhängen. In Deutschland sind Haushaltsdisziplin, die Steigerung der preislichen Wettbewerbsfähigkeit zur Ankurbelung des Exports und eine strikt auf Inflationsvermeidung fixierte Geldpolitik Eckpfeiler des wirtschaftspolitischen Diskurses. Wer gewählt werden möchte, kommt daran nicht vorbei. In Frankreich hingegen spielen Kaufkraft, Binnenmarkt, Stimulierung der Wirtschaft über Ausgabenprogramme und expansive Geldpolitik sowie allgemein der Staat als Modernisierungsagentur eine größere Rolle. Kurzum: Die Deutschen argumentieren auf dem Boden liberaler (vor allem neoklassischer) Wirtschaftstheorien, während die Franzosen eher zum Keynesianismus neigen. Der wirtschaftspolitische Graben, den der Rhein markiert, zeigt sich auch in der gegenwärtigen Krise, die Berlin mit Sparen, Paris aber durch Investitionen und Wachstum überwinden will. Vertieft wird er durch die aktuelle politische Konstellation – eine rechte Regierung in Berlin, eine linke in Paris.

Dennoch möchte sich keiner mit dem Makel der Ideologie beschmutzen; seit dem Ende des Ost-West-Konflikts gehört dies nicht mehr zum Pool des Sagbaren (deshalb verwehrt sich Westerwelle so deutlich gegen den Dogma-Begriff). Stattdessen bemühen sich beide Seiten, ihre Position als allgemeinwohlstiftend zu verkaufen. Die zur Zeit unter Krisendruck stattfindende Reform der Wirtschafts- und Währungsunion bietet beiden Regierungen die Möglichkeit, ihre eigene Position auf Jahrzehnte hin in die Euro-Architektur einzuschreiben.

Machtverlagerung nach Berlin?

Wenn Ideologien aufeinanderprallen, bleibt die Frage: Wer setzt sich durch? Hier kommt die zweite Kluft zwischen Berlin und Paris ins Spiel: Die Verschiebung der Kräfteverhältnisse nach Osten.

Aufgeschreckt durch krisenhafte Prozesse mäandert die Macht derzeit durch Europa, um sich eine neue Bleibe zu suchen. Die Verschiebung, die sie dabei erfährt, ist eine doppelte: Zum einen beobachten wir eine Diffusion der Macht – weg von Brüsseler und Straßburger EU-Institutionen, hin zu den Nationalstaaten; Europa wird intergouvernementaler. Der supranationale Moment der Europäischen Union ist vorerst vorbei. Europas Nationalstaaten halten das Zepter wieder fester in der Hand. Gleichzeitig – und dies ist die zweite Machtverschiebung – wird es nicht von allen gleichermaßen kraftvoll geschwungen. Die Mitgliedstaaten profitieren in unterschiedlichem Maße vom Machtgewinn gegenüber Brüssel, einige verlieren sogar. Paris gewinnt mehr hinzu als Rom, Madrid oder Athen. Doch dieses Machtgefälle zwischen verschiedenen EU-Staaten, zwischen Europas Zentrum und seiner Peripherie, folgt einem altbekannten Muster. Wirklich neu ist allerdings der enorme Bedeutungszuwachs, den Berlin gegenüber Paris erfährt. Diese Verschiebung innerhalb des Zentrums kündigt einen qualitativen Bruch im europäischen Integrationsmodus an, hielten sich doch bislang französische und deutsche Macht die Waage und sorgten gegenseitig für eine Balance im europäischen Staatengefüge. Diese Beschränkung deutschen Einflusses fällt nun weg; Berlin übernimmt die Führung in Europa.

Die Hauptlast umverteilender Maßnahmen, wie etwa dem Eurorettungsschirm, wird von der Bundesrepublik geschultert und verschafft ihr eine vorteilhafte Verhandlungsposition. Gestärkt wird das bevölkerungsreichste EU-Land durch das Image des ökonomischen Musterknaben, das wuchs, als die anderen in der Krise schrumpften. Bei den Ratingagenturen wird dies mit einer Top-Kreditwürdiskeitsnote (AAA) belohnt, die ebenfalls in die Waagschale der Macht geworfen wird.

Die Beschlüsse der vergangenen drei Jahre spiegeln die starke Position der Bundesrepublik wider. Insbesondere der Fiskalpakt, aber auch „Sixpack“, „Europäisches Semester“ oder „Euro-Plus-Pakt“ verschärfen den Stabilitäts- und Wachstumspakt und gehorchen der Berliner Austeritätslogik. Im Januar lancierte Merkel überdies die Idee eines „Pakts für Wettbewerbsfähigkeit“ für die Eurozone, der noch in diesem Jahr umgesetzt werden soll. Er könnte die passende Innenarchitektur des Fiskalpakts liefern, die den Mitgliedstaaten Strukturanpassungen abverlangt. Paris hätte das gern anders gehabt.

Aus dem Tandem ist ein Fahrrad mit Anhängevelo geworden; hinten sitzt Frankreich. Es darf und muss zwar mittreten, ist aber weit davon entfernt, ein gleichberechtigter Antrieb zu sein.

Aus diesem Grund attackieren die Franzosen mit schärferer Zunge; sie sehen, dass sich die Machtverhältnisse zu ihren Ungunsten verschoben haben; sie müssen kämpfen, um gehört zu werden. Die Bundesregierung kann sich hingegen sanft ermahnend zurücklehnen; Macht macht souverän.

Quo vadis, Tandem? – Wer organisiert die europäische Integration?

Wie geht es nun weiter mit dem (ehemaligen) Tandem, wer treibt die europäische Integration künftig voran? Mehrere Möglichkeiten liegen auf dem Tisch:

Ein scharfes Aufbegehren Frankreichs gegen den deutschen Eurokurs ist unwahrscheinlich. Zu fest ist die deutsche Sparlogik bereits verankert – in der Euro-Architektur, in weiten Teilen der Kommission und vor allem in der Zivilgesellschaft; sie ist hegemonial geworden.

Eine Angleichung der wirtschaftspolitischen Vorstellungen ist kurzfristig ebenso unwahrscheinlich. Zu tief ist der ideologische Rheingraben. Doch wird die neue Euro-Architektur allen Mitgliedstaaten neue Handlungszwänge auferlegen, die die Möglichkeit keynesianischer Wirtschaftspolitik weiter einschränken. Dies könnte langfristig zur Erosion der französischen Position beitragen.

Am Ende könnte ein Scheinkompromiss herauskommen, der es Hollande ermöglicht, mit einem „Wachtsumspakt“ sein Gesicht zu wahren, den paradigmatischen (Spar-)Kern jedoch nicht antastet.

Dass das gleichberechtigte Tandem wieder zum Laufen gebracht wird, ist vorerst nicht zu erwarten. Das Machtgefälle zwischen Berlin und Paris ist zu groß. Langfristig könnten sich die Kräfteverhältnisse zwar wieder zugunsten Frankreichs verschieben (Stichwort Demografie), doch auf absehbare Zeit wird das nicht geschehen. Deutschlands großer Vorteil ist, dass es seine Auffassungen von Wirtschaftspolitik in die Euro- und EU-Institutionen einschreiben konnte.

Vorstellbar wäre eine vertiefte Arbeitsteilung zwischen beiden Ländern: Während Berlin die Wirtschafts- und Währungsunion organisiert, profiliert sich Paris als außen- und sicherheitspolitische Schaltzentrale. Libyen, Mali und vielleicht bald auch Syrien sind jüngste Beispiele für den Pariser Führungsanspruch in Interventionsfragen. Dies würde zudem eine good cop-/bad cop-Aufgabenteilung ermöglichen: Frankreich interveniert militärisch, während Deutschland Aufbauarbeit leistet und gute diplomatische Beziehungen zu fast allen Regierungen der Erde unterhält.

Stützräder für das Tandem sind eine Möglichkeit, es wieder zum Laufen zu bringen. Polen böte sich als dauerhafter Ergänzungspartner an. Ob allerdings mit der Wiederbelebung des Weimarer Dreiecks der deutsche Machtzuwachs gezügelt werden kann, bleibt fraglich. Ob ein Balancing gelingt, hängt von der konkreten Allianzbildung ab, die allerdings auch – bei kluger Diplomatie – zugunsten Berlins ausfallen kann.

Die Verschrottung des Tandems ist unwahrscheinlich. Es verwandelt sich bloß. Der intergouvernementale Integrationsmodus bleibt wichtig. Bei anstehenden Herausforderungen – etwa der weiteren Überarbeitung der Wirtschafts- und Währungsunion und der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik oder einer Reform der EU-Institutionen – kommt es weiterhin auf die beiden wichtigsten Nationalstaaten an. Berlin ist zwar mächtig, doch kann es – vor allem in nicht-ökonomischen Fragen – nicht gänzlich ohne Paris agieren; seine Stellung in Europa ist nur halbhegemonial.

Möglich, dass die mit weiteren Kompetenzen ausgestatteten supranationalen Institutionen irgendwann die Machtfrage zwischen den Mitgliedstaaten irrelevant machen. Doch bis dahin schiebt sich das deutsche Fahrrad mit französischem Anhängevelo und EU-Wimpel weiter über den Kontinent.

Dieser Artikel erschien zuerst am 11. Juni 2013 im Move-Magazin.

Ihr Kommentar
  • Am 28. Juni 2013 um 22:19, von  Patrick Haase Als Antwort Vom Tandem zum Anhängevelo

    Finde ich sehr interessant, deinen Ansatz. Aber er widerspricht etwas dem föderalen Ansatz - denn wenn ein Land sich nur um einen bestimmten Teil kümmert, dann dringt dies vllt. auch nicht überall in der europäischen Union gleichermaßen durch und es könnte womöglich dazu führen, dass dem Subsidiaritäts-Prinzip auch nicht geholfen ist; dazu gehört ja auch die ausreichende Möglichkeit der Teilhabe an der Politik der europäischen Ebene im Mehrebenensystem. Und ich würde mir eigentlich eher wünschen, dass wir zusammenarbeiten in der Europäischen Union als getrennt. Mit dem EAD haben wir ja bereits auch eine Struktur für die GASP. Es wäre besser hier nun eine Kompetenzverteilung innerhalb der External Action Plans anzustreben - das ist erfolgsversprechender. Außerdem würde ich auch beim Diskurs zur Wirtschaftspolitik hinzufügen, dass wir in Deutschland eher ordo-liberal und monetaristisch orientiert sind - das ist ja auch klare Grundlage der sozialen Marktwirtschaft. Frankreich ist eher keynesianistisch und sozialisitsch im Moment - Grundlage ihrer zentralen Marktwirtschaft mit harten Ordnungsrahmen (alle Wege führen nach Paris). Dieser Widerspruch existiert aber mehr in der Politik, als in der Wirtschaft. Und ich würde zu bedenken geben, dass wir Krisenpolitik von diesen generell wirtschaftspolitischen Kurs entkoppeln sollten. Denn in der Krise brauchen wir die drei Säulen: 1.) Strukturprogramme 2.) Verwaltungsreform 3.) Konsolidierung. Außerdem ist dem langfristigen Ziel einer politischen und wirtschaftlichen Union nicht geholfen, wenn wir unsere Unterschiede zu sehr betonen. Wir sollten uns vielmehr die Frage stellen wieso diese Unterschiede existieren und wie wir sie beseitigen können.

  • Am 4. Juli 2013 um 12:15, von  Moritz Rudolph Als Antwort Vom Tandem zum Anhängevelo

    Lieber Patrick,

    danke für deine Anmerkungen. Tatsächlich widersprechen die zum Schluss entwickelten Szenarien dem föderalen Ansatz. Dass dies problematisch ist, sehe auch ich so. Jedoch ging es mir nicht darum, meine Vorstellungen von einer guten Ordnung Europas zu umreißen. Ich habe vielmehr ein bisschen spekuliert, wie es denn kommen könnte. Vor dem Hintergrund wiedererstarkender Nationalstaaten ist die skizzierte Arbeitsteilung ein möglicher Weg, den die Regierungen einschlagen könnten, um Machtungleichgewichte zu kompensieren. Wenn Berlin schon ökonomisch den Ton angibt, könnte Paris darauf drängen, sich umso engagierter in die Außen- und Sicherheitspolitik einzubringen. Dass dies die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik untergrübe, liegt auf der Hand.

    Dass die wirtschaftspolitischen Unterschiede — ordoliberales Deutschland und keynesianisches Frankreich — bestehen, sehe auch ich so; ebenso, dass sie politisch gesetzt und reguliert ist. Grundsätzlich sind sie deshalb umgestaltbar. Doch die vergangenen Jahre zeigten eine erstaunliche Beharrlichkeit des wirtschaftspolitischen Grabens; die politische Setzung des wirtschaftspolitischen Kurses wird offenbar von zähen Elementen gestützt — vorherrschenden volkswirtschaftllichen Lehren an den Universitäten, politische Kultur, ökonomische Struktur etc. Ich bin skeptisch, ob die Krisenpolitik von diesen wirkmächtigen Grundlinien entkoppelt werden kann; sie läuft nicht ideologiefrei ab und derzeit sieht es so aus, als setzte sich die deutsche Linie durch — die Reformen der vergangenen Monate spiegeln dies. Einen europäischen Minimalkonsens gibt es allenfalls über das Das, nicht aber über das Was; Strukturprogramme und -reformen ja; aber welche? Konsolidierungen ja, aber wie sollen die aussehen — Erhöhung der Einnahmen oder Senkung der Ausgaben? Handelsbilanzen in das makroökonomische Risiko-Monitoring einbeziehen ja; aber nur Defizitländer ermahnen oder auch die Überschussländer wie Deutschland?

    Natürlich könnten die Unterschiede aufgelöst werden; angesichts der starken Position Berlins ist dies nicht unwahrscheinlich. Doch sollten wir nicht vergessen, dass dies auf Macht und nicht notwendigerweise auf Konsens oder gar Vernunft gründete.

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