Die Europäische Perspektive: Junckers Rede zur Lage der Union

, von  Gesine Weber, Juuso Järviniemi, Laura Mercier

Die Europäische Perspektive: Junckers Rede zur Lage der Union
Für Jean-Claude Juncker war es die dritte Rede zur Lage der Union in seiner Amstzeit als Kommissionspräsident. EU2017EE Estonian Presidency / flickr / CC BY 2.0

Mit der jährlichen Grundsatzrede „State of the Union“ zieht der Präsident der Europäischen Kommission Bilanz und gibt einen Ausblick für die kommenden Herausforderungen seiner Amtszeit. Die Gunst der Stunde nutzen, so ließe sich Jean-Claude Junckers Appell überschreiben. Unsere Redakteure kommentieren.

Mut für die Europäische Union beweisen

von Laura Mercier, Chefredakteurin Le Taurillon

„Helmut Kohl und Jacques Delors haben mich gelehrt, dass Europa nur mit Mut vorankommt.“ In seiner Rede zur Lage der Union hat sich Jean-Claude Juncker mutig für die Zukunft der Europäischen Union gezeigt: Angekündigt hat er unter anderem Reform- und Entwicklungsvorschläge ganz im Sinne der Einheit und der Effizienz. Die Wirksamkeit der EU kann nur mit institutioneller Klarheit gestaltet werden. Der Präsident der EU-Kommission befürwortet dazu vor allem die Schaffung eines neuen Amtes eines Europäischen Wirtschafts- und Finanzministers, das mit dem des heute zuständigen europäischen Kommissars zusammenfallen soll, und wünscht die Verschmelzung des Amt des Präsidenten der Europäischen Kommission mit dem des Präsidenten des Europäischen Rates.

Unter den Prioritäten der EU-Kommission ist die Stärkung der Demokratie und der Achtung der Rechtsstaatlichkeit in Europa am dringendsten. „Unsere Union muss einen demokratischen Sprung nach vorn machen“. Der Fahrplan ist jetzt auf die Europawahl 2019 gerichtet: Jean-Claude Juncker hat an die europäischen Parteien appelliert, den Wahlkampf früher als 2014 zu beginnen. Dazu plädiert er für die „Spitzenkandidaten“ und für die Idee, transnationale Listen aufzustellen.

„ Nach einer ehrgeizigen Rede ist die Zeit nun auch für die Mitgliedsstaaten gekommen, ihrerseits Mut zu beweisen.“

Eineinhalb Jahr vor der Europawahl ist es unaufschiebbar, die europäischen Bürger mit der EU zu versöhnen. Europa muss sich mit den Bürgern aufbauen und reformieren, und dies auf einer Basis des Kompromisses zwischen den Mitgliedstaaten. Die Reformvorschläge von Juncker werden sicherlich umstritten sein, und sein Wille, die Einbindung aller Mitgliedstaaten in die EU zu verstärken, ist klar: Das Szenario eines Europas der verschiedenen Geschwindigkeiten ist nicht jenes, das die EU-Kommission verfolgen möchte. Bis 2019 ist es notwendig, dass die europäische Bürger eine klare Vision von der Entwicklung der EU erhalten können, und dazu müssen sich die Mitgliedsstaaten auf einen Fahrplan einigen, wie sie sich Europa vorstellen. Nach einer ehrgeizigen Rede ist die Zeit nun auch für die Mitgliedsstaaten gekommen, ihrerseits Mut zu beweisen.

Ein Plädoyer für institutionelle Klarheit

von Juuso Järviniemi, Chefredakteur The New Federalist

Ein Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten wird schon lange diskutiert, und mit der Wahl Emmanuel Macrons zum französischen Präsidenten hat die Idee an Bodenhaftung gewonnen. Heute jedoch stellte Juncker eine Vision für ein vereintes Europa vor. Anstatt von mehr Institutionen und speziellen Arrangements, möchte Juncker weniger sehen. Die Herausforderung wird es sein, politische Zustimmung unter den Mitgliedsstaaten zu sichern. Im Falle des Erfolgs, wäre Europa aber stärker.

„ Anstatt von mehr Institutionen und speziellen Arrangements, möchte Juncker weniger sehen. Die Herausforderung wird es sein, politische Zustimmung unter den Mitgliedsstaaten zu sichern. Im Falle des Erfolgs, wäre Europa aber stärker.“

Sollte ein „Kerneuropa“ Wirklichkeit werden, würde es vermutlich aus Mitgliedern der Eurozone bestehen. Juncker versuchte dementsprechend, die Eurozone stark in den Rahmen der EU einzubinden. Die Idee eines separaten Eurozonen-Parlaments wies er zurück und verwies stattdessen auf den bereits existierenden Kommissar, der die damit verbunden Angelegenheiten regeln soll. Sein Vorstoß, dass die verbliebenen Mitgliedsstaaten ohne Euro dem Klub beitreten sollten vervollständigt die Idee, dass die Eurozone und die EU eins sein sollen.

Der Ruf nach klaren institutionellen Strukturen war nicht beschränkt auf Fragen der Eurozone. Rumänien und Bulgarien in die Schengenzone einzuladen, war ein anderes Beispiel dafür, die Anzahl der Ausnahmen im EU-System zu reduzieren. Der bemerkenswerteste Ruf nach Klarheit war jedoch der Vorschlag, die Positionen der Präsidenten der Kommission und des Europäischen Rates zusammenzulegen. Dieser föderalistische Vorschlag hat das Potenzial, die Führung in Europa zu rationalisieren und eine Antwort auf die jahrzehntealte Frage zu bieten: „Wen rufe ich an, wenn ich mit Europa sprechen möchte?“

Mehr gemeinsame Integration statt einer EU der zwei Geschwindigkeiten

von Gesine Weber, stellvertretende Chefredakteurin Treffpunkteuropa

Viele mögen Jean-Claude Juncker an 364 Tagen im Jahr für einen farblosen Eurokraten halten, aber seine Fähigkeit, programmatische Grundsatzreden zur Zukunft der EU zu halten, kann man ihm nicht absprechen. Das hat er bei der diesjährigen Rede zur Lade der Union wieder eindrucksvoll unter Beweis gestellt: Juncker spricht vom Wind in den Segeln Europas, davon, dass die EU nun Kurs halten und die Segel in Richtung Zukunft setzen müsse, um das Ziel einer demokratischen, geeinten und starken Union der Werte zu erreichen. Junckers Plädoyer ist leidenschaftlich europäisch, ein klares Bekenntnis zu mehr gemeinsamer Integration anstatt zu einem Europa der zwei Geschwindigkeiten. In seinen Worten schwingen Lust und Mut zu einem Aufbruch in ein neues Europa mit, das zugleich ein Europa der Bürger*innen und Staaten ist. Mit seinen Vorschlägen wie etwa einem einzigen Präsidenten der Europäischen Union oder der Einrichtung einer Verteidigungsunion bis 2025 lässt Juncker die Herzen von Europabefürworter*innen höherschlagen.

„Wir haben damit begonnen, unser Dach zu reparieren. Aber wir müssen diesen Job zu Ende bringen, jetzt da die Sonne scheint – und solange sie scheint.“, so der Präsident der Kommission. Damit hat er Recht: In den letzten Jahren hat die Union keinen Moment erlebt, in dem der übereinstimmende Wille zur Weiterentwicklung der EU auf politischer Ebene so stark war wie heute. Nach den Wahlen in Deutschland ist wahrscheinlich, dass das deutsch-französische Tandem sich in der Pflicht sieht und verstärkt Initiativen vorbringt – das ist eine durchaus erfolgversprechende Vorstellung für die Implementierung von Reformen von oben. Das Problem eines Schwelbrands des Euroskeptizismus und wachsenden Nationalismus auf niedrigerer Ebene lässt Juncker aus. Das ist nicht nur naiv, sondern vor allem gefährlich: Derzeit ist schwer vorstellbar, dass die ungarische oder polnische Regierung wichtige Reformen mittragen werden, noch dass sie die Vorteile einer immer engeren Union nach innen kommunizieren und ihre Bürger*innen davon überzeugen.

„Das Problem eines Schwelbrands des Euroskeptizismus und wachsenden Nationalismus auf niedrigerer Ebene lässt Juncker aus. Das ist nicht nur naiv, sondern vor allem gefährlich.“

Juncker begeistert mit seiner Rede diejenigen, die ohnehin schon auf der Seite der Europäischen Union stehen. Um aber für die Zukunft Segel setzen und den Kurs halten zu können, ohne dass Mitgliedstaaten über Bord gehen, braucht es europäisch handelnde Regierungen in den Mitgliedstaaten und europäisch denkende Bürger*innen. Hier muss die EU Überzeugungsarbeit leisten – und zwar durch Schaffung einer de-facto-Solidarität und nicht nur durch eine programmatische Rede einmal im Jahr.

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