Musik im Dienst von Patriotismus: Können Lieder uns spalten?

, von  Milena Tatalovic, übersetzt von Hannah Illing

Musik im Dienst von Patriotismus: Können Lieder uns spalten?
Der „Marsch auf die Drina“ diente auch als musikalische Untermalung bei der Verleihung des Literaturnobelpreises an Ivo Andrić. Thematisch passend. Heißt doch das bekannteste Werk des jugoslawischen Autors „Die Brücke über die Drina“ (siehe Bild). image: Brenda Annerl/ Flickr/CC BY 2.0

„Musik vereint Menschen von verschiedenen kulturellen Hintergründen“ ist eine Phrase, die man oft in Reden hört. Ja, Musik verbindet Menschen. Sie kann eine Person bereichern und Selbstvertrauen, Motivation und ein Gefühl der Zugehörigkeit vermitteln. Aber was passiert wenn man Lieder, kollektives Gedächtnis und nationale Identität verbindet? Milena aus Serbien beschreibt wie die Frage nach Patriotismus und Musik eine brennende Diskussion anfeuern kann.

Vor einer Weile feierte ich ein traditionelles serbisches Fest mit dem Namen „Slava“. Das ist eine orthodoxe serbische Tradition, in der die Menschen einen Heiligen feiern – den Schutzpatron ihrer Familie. Ich war mit neun oder zehn Person zwischen 28 und 40 Jahren zusammen. Bei diesen Versammlungen diskutieren die Leute meistens über Musik, Filme, die aktuelle Politik und das tägliche Leben. Später am Abend, nach einem guten Essen und ein paar Stamperl Pflaumenschnaps, können diese Gespräche in eine aufgeheizte Diskussion über Geschichte, Kriege, „sie und uns“ und Ähnliches ausarten. Ich war von einer Reportage inspiriert, die ich vor kurzem gesehen hatte und so nutzte ich die Gelegenheit, ein paar Erkundigungen einzuholen. Ich fragte alle: „Wenn ihr eure nationale (serbische) Identität mit einem Lied repräsentieren könntest, welches Lied wäre es?“ Und ich fügte hinzu: „Würdet ihr dasselbe Lied vor einem Serben und vor einem Ausländer spielen?“ Es schien als hätte ich den wunden Punkt getroffen. Die Diskussion heizte sich immer mehr auf. Die Leute begannen, Vorschläge für mögliche Lieder zu geben. Die beliebtesten Antworten waren zwei traditionelle Lieder: „Dort, weit weg“ und „Marsch auf die Drina“. Niemand erwähnte die aktuelle Nationalhymne. Stattdessen begann eine intensive Debatte über Geschichte und unsere Wurzeln.

Historischer Hintergrund der Lieder

Um zu verstehen, wie diese Lieder eine Debatte provozieren können, muss man einen kurzen Blick auf ihren historischen Ursprung werfen. Beide Lieder stammen aus dem ersten Weltkrieg. „Dort, weit weg“ wurde 1916 auf der griechischen Insel Korfu komponiert. Es erinnert an den Rückzug der serbischen Armee durch Albanien und umkreist die Themen Trauer und Sehnsucht nach einem fernen Heimatland. „Marsch auf die Drina“ ist ein patriotischer serbischer Marsch, den der jugoslawische Komponist Stanislav Binički kurz nach der Schlacht von Cer 1914 komponiert hat. Es erinnert an den serbischen Sieg und ist dem Lieblingskommandanten des Komponisten gewidmet, der in der Schlacht gekämpft hat.

Die historische Entwicklung der beiden Lieder ist ähnlich. Sie wurden mit den wechselnden Ideologien in der serbischen Gesellschaft benutzt und missbraucht. „Dort, weit weg“ wurde im sozialistischen Jugoslawien verboten. Die Herrscherklasse glaubte, dass das Lied das Wiederaufleben des serbischen Nationalgefühls befeuern würde. Dieses Verbot hatte allerdings keine Auswirkung auf die Vorliebe der Menschen für dieses Lied und es wurde ein mächtiges Symbol serbischer Kultur. Für die serbische Diaspora war es sogar eine Art Nationalhymne. Dass das Lied auf seinen letzten Wunsch hin sogar bei Nikola Teslas Beerdigung in New York gespielt wurde, zeigt seine Popularität. „Marsch auf die Drina“ war besonders während und nach dem zweiten Weltkrieg beliebt: Es wurde als Symbol serbischen Widerstands gegenüber den Großmächten gesehen. Es gab sogar Versuche, es zur Natonalhymne zu machen. Funktionäre verwarfen diese Idee aber damals mit dem Argument, dass das Lied als Militärmarsch zu „provozierend“ sei.

Politiker haben in den 1990er Jahren beide Lieder für Progpagandazwecke missbraucht. Die Lieder enthalten daher auch eine politische Dimension. Statt eines Symbols für die Heimatliebe stellen sie für manche Serben ein Symbol für Krieg und Zerstörung dar. Ursprünglich war es aber nicht die Absicht der Lieder gewesen, Gewalt oder Hass gegenüber einer anderen Nation zu provozieren - weder durch die Melodie, noch durch den Text.

„Marsch auf die Drina“ wurde bei der UN-Generalversammlung 2013 gespielt. Dies führte zur Rücktrittsforderung von Seiten bosnischer Organisationen an den damaligen Präsidenten der UN-Generalversammlung, den serbischen Politiker Vuk Jeremic. Während wir auf unserer Party über patriotische Lieder diskutierten, erinnerte sich jemand an diesen Vorfall. Sofort begann ein Streit:

  • „Wer sind die denn, uns zu sagen, dass wir uns für unser kulturelles Vermächtnis schämen sollten? Was ist denn mit ihren Liedern?“
  • „Aber wir haben auch schlechte Dinge getan! Es ist auch wahr, dass diese Lieder in den 1990er Jahren auf den Schlachtfeldern gesungen wurden.“
  • „Aber es ist auch nicht so, dass die keinen Grund haben, sich für etwas zu schämen..!

Eine andere Person behauptete, dass das Lied „Dort, weit weg“ eigentlich türkisch sei und dass wir Serben es gestohlen hätten. Wie jeder, der die Balkan-Mentalität auch nur ein bisschen kennt, ahnen wird, artete die Diskussion an dieser Stelle vollkommen aus. „Sie haben das Lied von uns genommen!“ und andere, weniger vorsichtige Beschuldigungen begannen. Man debattierte über „uns und sie“, auf historischem Niveau. Irgendwo in der Mitte des beliebten serbischen Diskussionsthemas über Kommunisten und Royalisten erkannte ich, dass es Zeit war, nach Hause zurückzukehren. Ich hatte kein heimliches Motiv mit meiner Anfangsfrage nach dem Lied gehabt, außer die Identität in Bezug auf Musik zu untersuchen. Es hat sich aber herausgestellt, dass diese Art von Fragen eine ganze Flut heftiger Meinungen verursachen können.

Patriotismus und Jugend heute: Hat sich etwas verändert?

Ich stellte dieselbe Frage ein paar jungen Leuten, zwischen 17 und 21 Jahren alt. Für sie präsentierte überraschenderweise die Nationalhymne „Bože Pravde“ (Gott der Gerechtigkeit) die serbische Identität. Als ich die beiden anderen patriotischen Lieder erwähnte, erhielt ich keine starke Meinung dazu. Die Jugendlichen kannten sie natürlich, aber sie wussten sehr wenig über ihren Ursprung und ihren historischen Gebrauch bzw. Missbrauch. Ich fragte mich, warum die jungen Leute sich so wenig mit diesen Liedern identifizieren können. Ist es, weil sie die Kriege und den Ideologiewandel der 1990er Jahre nicht erlebten? Die ältere Generation erlebte den Wechseln von der langjährigen kommunistischen Hymne „Hej Sloveni“ (He, Slawen) zu „Bože Pravde“ Anfang der 2000er bewusst mit. Diese Generation musste auch ihre Reisepässe drei Mal innerhalb von 15 Jahren ändern, erst wegen des Zerfalls von Jugoslawien und später wegen der Schaffung des Staatenbundes Serbien und Montenegro.

Die neue Natonalhymne „Bože Pravde“ ist eigentlich gar nicht so neu. Es war die Hymne des Königreichs der Serben, Kroaten und Slowenen nach dem ersten Weltkrieg. Der Text der aktuellen Hymne wurde leicht modifiziert, um zu bekräftigen, dass Serbien keine Monarchie mehr ist. Die Worte „Königreich“ und „König“ wurden durch „Menschen“ und „Land“ ersetzt.

Die Jugendlichen hinterfragen die Hymne nicht. Sie wuchsen in einer Republik auf, hörten immer dieselbe Hymne und es ist verständlich, dass die Mehrheit sich mit ihr identifiziert. Sie wissen allerdings wenig über den historischen Ursprung patriotischer Lieder und den Missbrauch von Propaganda. Wenn man in einem sozialen Netzwerk wie Facebook oder YouTube surft, kann man Diskussionen über Patriotismus unter jungen Leuten verfolgen. Sie sind bereit, mit verschiedenen Kommentatoren verschiedener Nationalitäten zu diskutieren. Ihr Ziel ist es, Patriotismus zu „beweisen“, obwohl sie die Fakten gar nicht gut kennen. So wie im Text in „Marsch auf die Drina“ – „kämpft, geht weiter, ihr Helden“ – sind die Jugendlichen vom Balkan bereit, ihren Nationalstolz und ihre Lieder online zu verteidigen. Ob sie diese Entschlossenheit auch zeigen würden, wenn sie dazu aufgefordert würden, „für ihr Land zu sterben“, ist eine andere Frage.

Adelina Peeva, die Regisseurin der Reportage, die mich zu diesem Artikel inspiriert hat, sagte: „Als ich begann das Lied zu suchen, von dem ich dachte, es könnte uns zusammenbringen… da habe ich nie geglaubt, dass die Funken von Hass so leicht zum Brennen gebracht werden können.“ Der Balkan hat einst eine gemeinsame Geschichte geteilt und teilt immer noch viele gemeinsame kulturelle Veranstaltungen. Dies wird aber nicht akzeptiert – der Kampf um nationale Identität ist stark. Es scheint, als hätten Lieder nach wie vor die Macht, uns zu spalten.

Der Artikel wurde zuerst auf der Seite unseres Partners historycampus.org veröffentlicht. Der History Campus ist eine Plattform für junge Menschen, um aus persönlicher Perspektive das Zusammenspiel zwischen Geschichte, Gesellschaft und aktueller Politik zu zeigen und ein Verantwortungsgefühl für ein gemeinsames Europa zu entwickeln. Hier geht’s zum Original.

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