10 Jahre Finanzkrise: Eine Bestandsaufnahme

, von  Martin Samse

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10 Jahre Finanzkrise: Eine Bestandsaufnahme
Europäischer Finanzplatz Frankfurt am Main: Die westlichen Industriestaaten blicken heute auf horrende Staatschulden und weitgehend unregulierte, aufgeblähte Finanzsektoren Foto: Flickr / Andreas Wecker / CC BY NC-ND 2.0

Vor 10 Jahren stürzte die Weltwirtschaft in eine schwere Krise. Die darauffolgenden Krisenjahre haben bis heute tiefe Wunden sowohl in den Wirtschaftssektoren als auch im Selbstverständnis der westlichen Demokratien hinterlassen. Ein Überblick.

2008: Der amerikanische Traum platzt

Lehman Brothers, eine der größten und renommiertesten Banken im amerikanischen Finanzsektor, geht bankrott. Die Zahlungsunfähigkeit der Großbank entfesselt eine Kettenreaktion und löst eine Krise auf dem globalen Finanzsektor aus.

Zuvor waren tausende US-Amerikaner*innen aus ihren Häusern getrieben worden, da sie die steigenden Zinslasten auf ihre Hypotheken nicht mehr bedienen konnten. Diese Hypotheken waren von Bankern verbrieft und als Wertpapiere in undurchsichtigen Kreditpaketen gebündelt worden. So wurde eine tickende Zeitbombe im internationalen Finanzsystem installiert. Als die Preise für Immobilien in den Keller rauschten und die Schuldner*innen ihre Kredite nicht mehr bezahlen konnten, wurden die gehandelten Kreditpakete mit einem Schlag wertlos. Amerikanische Banken und Unternehmen gerieten in Schieflage und Eigenheime wurden reihenweise gepfändet.

Ein eigenes Haus zu besitzen ist für viele Amerikaner*innen ein essentielles Wohlstandsversprechen und steht sinnbildlich für die Erfüllung des amerikanischen Traumes. Die reihenweise Pfändung der Häuser verwurzelte eine tiefsitzende Verunsicherung in Teilen der amerikanischen Mittelschicht. Ihr Zorn bündelte sich vorübergehend in der Protestbewegung „Occupy Wallstreet“, doch die Rache für den geplatzten amerikanischen Traum sollte erst Jahre später erfolgen.

2010: Die Finanzkrise wird zur Eurokrise

Griechenland verkündet die drohende Staatspleite. Das Land benötigt dringend umfassende Finanzhilfen der Euro- und der EU-Länder, um nicht bankrott zu gehen. Die politische Elite in Europa beschließt Griechenland und den Euro um jeden Preis zu retten. Ein jahrelanges Tauziehen um die Zukunft des europäischen Währungsraumes beginnt.

Nachdem die EU-Staaten ihre Bankensektoren zunächst über die Krise gerettet hatten, gerieten einzelne Staaten nun selbst in Bedrängnis. Island, Italien, Zypern, Griechenland – eine zerstörerische Kettenreaktion bahnte sich an. Um diese aufzuhalten wurde Griechenland mit allen Mitteln im Euro gehalten. Rettungsschirm, Fiskalpakt, Austerität und Stabilitätsmechanismus: Die Politik wurde über Jahre bestimmt von Wortmonströsitäten, komplexen Sachverhalten und immer größeren Verbindlichkeiten zwischen den Staaten des Euroraums. Eine ebenso abstrakte wie „alternativlose“ Politik, in Anonymität erdacht und in Windeseile durch die nationalen Parlamente gepeitscht. Die gewählten Volksvertreter*innen wirkten wie Getriebene, die ihre Glaubwürdigkeit und ihr politisches Mandat für eine intransparente und kostspielige Politik verpfändeten.

Es war eine krisenpolitische „Fahrt auf Sicht“ mit ungewissem Ausgang, die scheinbar nur Verlierer*innen kannte: Während die Bürger*innen in Griechenland unter dem verhängten Spardiktat litten, sah man in Deutschland die Spareinlagen unter den historischen Niedrigzinsen dahinschmelzen. Sowohl in den „Geber-“ als auch in den „Nehmerländern“ griff der Populismus immer aggressiver um sich.

2013: Populisten im Aufwind

Die deutsche „Krisenkanzlerin“ Angela Merkel gilt als unverzichtbar und wird bei der Bundestagswahl im Amt bestätigt. Doch im größten europäischen „Geberland“ dreht sich allmählich der Wind.

Angela Merkel gab in den Jahren der Eurokrise den politischen Takt vor, doch die Rettungspolitik kostete einen hohen Preis, auch politisch. In der Eurokrise begann der Aufstieg der Alternative für Deutschland (AfD), die gesellschaftliche Abstiegsängste unter deutschen Wähler*innen zu instrumentalisieren begann. Die Botschaft: Mit der Banken- und Eurorettungspolitik betreibt die Bundesregierung vorsätzlich den Ausverkauf der deutschen Steuerzahler und setzt die materielle Zukunft des Landes aufs Spiel.

Diese Nachricht war Wasser auf die Mühlen all derer, die die Kraft der deutschen Wirtschaft (und des Volkes!) generell als gefesselt und unterdrückt ansehen. Die Querelen rund um die Finanz- und Eurokrise in Europa war der Türöffner für die Rückkehr des politischen Nationalchauvinismus in Deutschland.

2016: Sieg der Brexiteers

David Cameron, Premierminister Großbritanniens, lässt das Volk über den Verbleib in der Europäischen Union abstimmen. Ergebnis: Die Brit*innen sprechen sich knapp für einen Ausstieg aus. Die Gründe für den Ausgang des Referendums sind vielfältig, lassen sich jedoch zu einem beträchtlichen Teil direkt auf die Finanzkrise und ihre Folgen zurückführen.

Großbritannien stand einer vertieften europäischen Integration traditionell skeptisch gegenüber, immer wieder wurde mit einem Austritt aus der EU kokettiert. Wortführer war dabei die United Kingdom Independence Party (UKIP) rund um ihren langjährigen Vorsitzenden Nigel Farage. In seinen Statements wetterte er lautstark gegen die Bankenrettung, die Eurorettungspolitik und die vermeintliche Dominanz Deutschlands in der europäischen Haushaltspolitik. Für UKIP war die Finanz- und Eurokrise eine willkommene Steilvorlage, um die vermeintliche Inkompetenz und Demokratiefeindlichkeit der EU sowie die Einschränkung der wirtschaftlichen und finanziellen Souveränität der EU-Mitgliedsländer anzuprangern.

Neben der Kontrolle der Zuwanderung war die Verwendung der Gelder der Mitgliedstaaten im EU-Haushalt das dominierende Streitthema in Großbritannien. Die vorangegangenen Krisenjahre waren für die Brit*innen ein abschreckendes Beispiel dafür, wie den Mitgliedstaaten immer mehr Transferzahlungen abverlangt und wie ein souveränes Land strengen externen Auflagen unterjocht wurde. Mit dem Brexit entschieden sich die Brit*innen gegen die Idee einer sich stetig fortsetzenden europäischen Integration.

2018: Der Westen am Scheideweg

US-Präsident Donald Trump baut eine Mauer um sein Land, pöbelt gegen die „Mainstreammedien“ und brüskiert seine politischen Bündnispartner. Die Amerikaner*innen suchen ihr Heil im Protektionismus, in Europa quält man sich weiter mit den Folgen der vergangenen Krisenjahre.

USA: 10 Jahre nach der Lehman-Pleite sitzt ein ungehobelter Reality-Soap-Star im Weißen Haus. Sein Versprechen: Amerika wieder groß zu machen und den „Sumpf“ in Washington trocken zu legen. Er beruft sich auf eine Zeit vor dem ungezügelten Finanzkapitalismus, in der die Fabriken qualmten und der weiße Amerikaner das Sagen hatte. Dieses Versprechen verfing: Mit der Wahl Trumps entschieden die Amerikaner*innen sich mehrheitlich gegen den politischen Mainstream, die etablierten Institutionen und die globalisierten Märkte. Die amerikanische Wähler*innenschaft fordert nun aggressiv den amerikanischen Traum zurück, der zehn Jahre zuvor von einem entfesselten Finanzkapitalismus zerstört worden war.

Griechenland: Acht Jahre nach der drohenden Pleite tastet sich der Staat langsam zurück an die Finanzmärkte. Die ersten Anleihen wurden am Finanzmarkt positiv aufgenommen, doch die Konsolidierung dauert an: Das Land ächzt weiter unter historisch hohen Staatsschulden und fortschreitender Sparpolitik.

Großbritannien: Zwei Jahre nach dem Brexit-Referendum findet die Regierung um Staatschefin Theresa May keinen gangbaren Weg aus der EU. Laufend werden neue Pläne angekündigt und diskutiert. Der Exit vom Brexit macht nun die Runde – aber auch ein No-Deal-Szenario, ein ungeordneter Austritt. Was als Rebellion gegen eine als undemokratisch wahrgenommene EU begann, entwickelt sich zunehmend zu einer unwürdigen Farce.

Deutschland: Bundeskanzlerin Angela Merkel wird jede Woche aufs Neue angezählt. Bisher konnten weder Finanz-, Euro-, noch Flüchtlingskrise die Kanzlerin stürzen, doch der Kampf um ihr politisches Erbe ist voll entbrannt. Die euroskeptische AfD hat sich weiter radikalisiert und mit der Flüchtlingskrise ein neues Kernthema gefunden, seit 2017 sitzt sie fest im Bundestag. Dank der Partei gehören in Deutschland rassistische Ausfälle, NS-Nostalgie und (sekundärer) Antisemitismus wieder zum politischen Alltagsgeschäft.

Ausblick: Nach der Krise ist vor der Krise?

Die Bankenlandschaft wurde vorerst stabilisiert, der Flächenbrand unter den Eurostaaten vorerst gelöscht. Die Märkte wurden mit billigem Geld geflutet und die Schuldenkrise unter einem Berg neuer Schulden erstickt. Ernsthafte Regulierungsbestrebungen der Finanzmärkte in Europa wurden derweil aufgeweicht, verschleppt und teilweise beerdigt, derweil lähmen die geretteten „Zombiebanken“ bis zum heutigen Tage den Wirtschaftsraum in Europa.

Die westlichen Industriestaaten blicken heute auf horrende Staatschulden und weitgehend unregulierte, aufgeblähte Finanzsektoren. Eine in Teilen tief verunsicherte Wählerschaft stellt die klassischen demokratischen Institutionen und politisch-ökonomische Leitlinien radikal in Frage. Derweil warnen Expert*innen immer lauter vor den Folgen der Eurorettungspolitik, die wiederum neue Krisen heraufbeschwören kann. Gegen eine weitere Krise wären die Turbulenzen der letzten zehn Jahre wohl nur ein sanftes Schaukeln. Die Vergangenheit zeigt: Es braucht nur den Bankrott einer einzigen Bank und der Sturm ist entfesselt.

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