Liebe Europäer*innen,
das heutige Datum hätte über die Jahre nicht unterschiedlicher aussehen können. Am 9. November 1918 rief Philipp Scheidemann die erste Deutsche Republik aus: Ab dem Tag, der als Novemberrevolution in die Geschichtsbücher einging, war Deutschland keine konstitutionelle Monarchie mehr, sondern eine parlamentarisch-demokratische Republik. Nur fünf Jahre später scheiterte am 9. November 1923 der Hitlerputsch: Die Absetzung der Reichsregierung blieb zumindest vorerst aus. Am 9. November 1938 brannten jüdische Geschäfte und Synagogen: Die Reichspogromnacht stand am Anfang einer jahrelangen systematischen Verfolgung von jüdischen Menschen.
Kaum etwas mache ihr mehr Angst als die verbreitete Ansicht, Antisemitismus und Nationalsozialismus seien nach dem zweiten Weltkrieg ausgestorben, sagte in der vergangenen Woche Rachel Liven im treffpunkteuropa.de-Interview. Die Themen, die den 9. November geprägt haben, gehören noch lange nicht der Vergangenheit an. Wir dürfen nicht auf Anschläge wie jenen in einer Synagoge in Halle warten, um zu verstehen, dass wir die Freiheiten, für die schon damals gekämpft wurde, noch immer nicht in ihrer Gesamtheit und schon gar nicht für jede*n erreicht haben. Verfolgung von und Diskriminierung in all ihren Formen gegen Menschen, die anders sind als die Mehrheitsbevölkerung, vermeintlich anders leben, aussehen, sprechen, lieben oder glauben, ist niemals verschwunden. Dass der 9. November sich nun jährt, erinnert uns daran Verantwortung dafür zu übernehmen, dass die Geschichte nicht zu einer sich wiederholenden Endlosschleife wird.
1938 und 1989: Gedenktage, die nicht unterschiedlicher sein könnten
Nicht nur das 30-jährige Jubiläum des 9. Novembers 1989, sondern auch die Erfolge der Rechtspopulist*innen, die vergangenen Landtagswahlen in den ostdeutschen Bundesländern und die Wünsche nach einer medialen Berichterstattung über den Osten, die über Klischees und Vorurteile hinausgeht, haben einen weiteren 9. November in den letzten Wochen wieder und wieder ins öffentliche Bewusstsein gerückt: Am 9. November 1989 erklärte ein Sprecher der Sozialistischen Einheitspartei der DDR neue Reiseregulierungen versehentlich für unverzüglich in Kraft tretend. Die Mauer fiel und machte den Weg für die Wiedervereinigung frei.
Mit fünfzehn bemerkte ich, dass ein Bild im Schlafzimmer meiner Eltern eben jenen Mauerfall darstellte. Es hatte dort schon immer gehangen, aber erst da wurde mir klar, wie viel die Wende jener Generation bedeutete, die in einem geteilten Deutschland aufgewachsen war. Fünf Jahre später wurde ich in Südkorea gefragt, ob ich glaubte, dass das, was Deutschland zur Wiedervereinigung verholfen hatte, auch auf der koreanischen Halbinsel funktionieren könnte. Erst da verstand ich, dass wir nicht das einzige Land sind, das eine Teilung erlebt hat. Vor einigen Monaten bekam ich dieselbe Frage auf Zypern gestellt. In meinem ersten Jahr an der Uni erzählte eine Freundin von den Unterschieden zwischen Ost und West, die sie als Brandenburgerin im Rheinland vorfand. Mir fiel auf, wie fremd mir, die ich in Westfalen aufgewachsen war, die Geschichte Ostdeutschlands ist: Im Geschichtsunterricht in der Oberstufe hatte die DDR genau drei Schulstunden eingenommen. Vielleicht ist das diese westdeutsche Arroganz, die uns heute oft vorgeworfen wird.
Ein Aufruf zur Erinnerungskultur
Dieser Brief an Europa ist auch ein Aufruf zum Reden. Wir haben es geschafft, eine Welt zu kreieren, in der Nachrichten in Sekundenschnelle von Vancouver nach Kapstadt gelangen, und doch sind wir erschreckend gut darin, nicht mit Menschen ins Gespräch zu kommen, die anders denken oder auf andere Erfahrungen zurückblicken als wir. Dieser Brief ist ein Aufruf, das Gespräch mit eben jenen Menschen zu suchen, die Erfahrungen von außerhalb unseres Bewusstseins mitbringen. Die deutsche Geschichte hat Traumata produziert, die innerhalb von Familien weitergereicht werden, ohne dass sie an die Öffentlichkeit geraten: Deshalb ist dieser Brief auch ein Aufruf zu mehr Verständnis dafür, dass das Vergangene auch heute noch politisch ist und aufgearbeitet werden muss.
Dieser Brief soll aber mehr als nur das sein. Die Erinnerung an den 9. November 1938 hat die Notwendigkeit spürbar gemacht, Zeitzeug*innen erzählen zu lassen. Wer in der Reichsprogramnacht geboren wurde ist heute 81 Jahre alt: Nach uns wird eine Generation kommen, die nicht mehr die Möglichkeit hat, mit eben diesen Zeitzeug*innen zu sprechen. Nichts anderes gilt für die Zeit, die Deutschland nach 1945 erlebt hat: Die DDR darf sich in unserem Bewusstsein nicht in ein Schweigen hüllen, das Platz für Verherrlichen und Verteufeln gleichermaßen lässt. Insofern ist dieser Brief vor allem ein Aufruf zum Zuhören - und zum Konservieren von Geschichten, damit auch die Generationen nach uns sie noch erfahren.
Eure Marie
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