Belarus – die letzte Diktatur Europas?

, von  Christoph Sebald

Belarus – die letzte Diktatur Europas?
Aufmarsch der letzten Diktatur Europas? Socialism Expo, bestimme Rechte vorbehalten.

Belarus – eine Nation zwischen Europa und Russland?

Einerseits befindet sich Belarus nahe den geographischen Mittelpunkten Europas, auch seine historischen Wurzeln liegen eindeutig in Europa. So stand Belarus seit dem 13. Jh. zuerst unter litauischer, dann unter polnischer Herrschaft. Gerade die oberen Gesellschaftsschichten sind deshalb oft katholisch und nicht russisch orthodox. Auch hat Weißrussland im Gegensatz zu Russland nicht unter der Herrschaft der Tataren gestanden. Dadurch ähneln sich die gesellschaftlichen Strukturen in den Städten Polens, Litauens und Weißrusslands stark. Zwar zeichnet sich Belarus durch ein geringes BIP aus, doch ist es nicht arm und bis auf seine „politische Rückständigkeit“ relativ modern. Außerdem ist Belarus im Erscheinungsbild sauberer und europäischer, eben „westlicher“ als Russland, leidet nicht unter einer gescheiterten Liberalisierung - Stichwort: Oligarchen - und besitzt einen ausgeprägten Sozialstaat. Andererseits ist Belarus unter russischer Herrschaft, erstmals ab 1793, aber vor allem ab 1945, stark „russifiziert“und urbanisiert worden. So ist die zweite Amtssprache immer noch Russisch. Nach Zusammenbruch der Sowjetunion 1990, folgte 1991 die Unabhängigkeit. Seit der EU Osterweiterung 2004 steht Belarus zwischen den politischen Riesen EU und Russland.

Belarus – die letzte Diktatur Europas?

Generalisierungen sind unangebracht. Versteht man unter Diktatur, dass jemand ’diktiert’, so kann man von Weißrussland als Diktatur sprechen, doch wenn eine Diktatur als ’gegen das eigene Volk diktieren’ verstanden wird, ist die Frage heikel. Verglichen mit anderen Diktaturen ist Belarus gemäßigt, auch wenn das politische System ohne Frage nicht den Demokratie- und Menschenrechtsstandards von OSZE und EU entspricht. Weißrussen sprechen selbst oft von Autoritarismus, auch weil es der eher großen Mehrheit relativ gut geht, da nur der aktiv oppositionelle Teil unter Repressionen zu leiden hat. Deshalb verhalten sich viele Leute passiv. Sanktionen können bei politisch oppositioneller Aktivität von u.a. dem Verlust von Arbeits- oder Studienplatz bis hin zu direkter Gewalt reichen. Das autoritäre Prinzip umfasst die ganze Gesellschaft und herrscht auch am Arbeitsplatz. Wer zu spät kommt, unentschuldigt fehlt oder gar während seiner Arbeitszeit anderen Tätigkeiten nachgeht, der wird Entlassen. Dies wird mit solch drakonischen Mitteln wie Polizeirazzien in Geschäften oder anderen Einrichtungen des öffentlichen Lebens sichergestellt. Der Begriff Diktatur ist jedoch gerade deshalb problematisch, weil er die Integrität aller anderen EU Staaten impliziert, was nicht bei allen der Fall war oder ist.

Belarus – Phlegmatismus als Mentalität?

Die passive politische Haltung ist vor allem auf die „Russifizierung“ und Urbanisierung in Sowjetzeiten zurückzuführen, da damals Bildung und Lebensqualität spürbar gestiegen sind. Auch propagiert Lukaschenko geschickt, dass Weißrussland im Vergleich mit anderen ehemaligen Staaten der Sowjetunion relativ gut dasteht -Stichwort: „Vollkasko-Sozialstaat“. Dies führte bis in die jüngste Vergangenheit zu einer hohen Reizschwelle in der Bevölkerung, von der Lukaschenko lange profitiert hat. Gerade ältere Leute verbinden Lukaschenko überdies mit einem ’russischen Herren’, weshalb er bei ihnen beliebt ist. Dabei muss man sich in Erinnerung rufen, dass Weißrussland in der Sowjetunion eines der fortschrittlichsten Gebiete war. Die EU affine Opposition findet gerade in diesen Bevölkerungsteilen weniger Sympathie. Außerdem führt die mediale Landschaft zu einer medialen Omnipräsenz Lukaschenkos, welche es den Oppositionellen schwierig macht sich vor Wahlen zu profilieren und gleichzeitig dauerhaft ein positives Bild Lukaschenkos zeichnet. Staatliche Medien, die zur Lukaschenko-freundlichen Berichterstattung instrumentalisiert werden, sind staatlich subventioniert, während private Medien mit starken, oft wirtschaftlichen Repressionen und Einschränkungen zu kämpfen haben. Nur wenige Medien, die politische Inhalte transportieren und oft aus dem Ausland senden wie z.B. Belsat, können sich dem Druck Lukaschenkos entziehen. Viele private Medien entweichen ins Boulevard, um weiterhin publizieren oder senden zu können. Der weißrussische Phlegmatismus ist also weniger Mentalität, als vielmehr rationalen Gesichtspunkten geschuldet.

Belarus – mit dem Rücken zur Wand!

Der Lebensstandard fällt jedoch mit der Währung wie ein Blick auf die Inflationrate von 35%, Stand: Juni 2011, zeigt. Die drohende Staatspleite könnte eine ernsthafte Krise auslösen. Die Leute haben sich bereits mit Devisen und Gütern eingedeckt und aus Angst vor einem Kaufkraftverlust der Währung die Geschäfte leer gekauft. Devisen sind schon jetzt nicht mehr erhältlich. Zwar hat sich Belarus an Russland und China orientiert, doch fordern diese für Hilfskredite den Ausverkauf weißrussischer Betriebe, insbesondere des staatlichen Gaskonzerns und des Pipelinenetzes. Da die OSZE bei den Präsidentschaftswahlen 2010 massive Wahlfälschung festgestellt und staatliche Gewalt gegen Oppositionelle zum Eklat geführt hat, ist Weißrussland weitgehend von westlichem Kapital abgeschnitten. Lukaschenko ist nun in der Zwickmühle. Öffnet er sich westlichem Kapital durch Reformen, muss er einen Machtverlust hinnehmen. Biedert er sich weiter Russland an, muss er die wirtschaftliche Rettung mit dem Ausverkauf staatlicher Konzerne teuer bezahlen.

Belarus – jüngste wirtschaftliche Entwicklungen

Jüngste Ereignisse sprechen dafür, dass Lukaschenko sich eher Russland, als der EU in die Arme werfen will. So hat Belarus sowohl mit Russland als auch mit China Verhandlungen über den Verkauf des 20 Milliarden schweren staatlichen Kalikonzerns zur Überbrückung der Haushaltslöcher in die Wege geleitet. Auch ist ein russisch geführter Fonds mit einem Überbrückungskredit eingesprungen. Mit diesem Rettungskredit gehen jedoch Verhandlungen über eine Übernahme der weißrussischen Beltransgaz, welche für die Gastransporte von Russland nach Europa verantwortlich ist, durch Gazprom einher. Andererseits hat Lukaschenko den IWF um neue Kredite gebeten und im Fernsehen verkündet, dass er „einen räuberischen Ausverkauf des Landes“ nicht zulassen werde. Der IWF macht seine Kreditvergabe jedoch von Reformen abhängig, außerdem gilt Belarus seit den Präsidentschaftswahlen – wie oben erwähnt – als politisch isoliert. Die Lage spitzt sich also zu!

Belarus – die Causa Tschernobyl

Der Havarie des Unglücksreaktors 1986 hatte enorme Auswirkungen für Weißrussland. Ganze Landstriche wurden mit Cäsium 137 verseucht. Trotz allem soll in Belarus ein neues Atomkraftwerk vom Typ des havarierten Unglücksreaktors, noch dazu unter russischer Federführung, entstehen. Zwar ist Tschernobyl in den Köpfen der Leute noch präsent, doch versucht die Regierung dies immer mehr herunterzuspielen und z.B. die entvölkerten und verseuchten Landstriche wieder zu besiedeln. Auch wurden bestimmte Zahlungen für die Geschädigten eingestellt. In der Presse werden die Themen zwar diskutiert, aber durch das staatliche Monopol lediglich instrumentalisiert, um ’einhellige Zustimmung’ in der Bevölkerung zu suggerieren. Die Anti-Atombewegung, welche alljährlich am Jahrestag der Katastrophe auf die Straßen geht, wird systematisch von der Bevölkerung ferngehalten. Ob das eigentliche Ziel, nämlich energiepolitische Unabhängigkeit von Russland, durch das Atomkraftwerk erreicht werden kann, ist mehr als fraglich. Oppositionelle sehen das Atomkraftwerk sogar als völlige energiepolitische Auslieferung an Russland.

Belarus – was ist mit der Jugend?

Das Bildungswesen ist relativ solide. So kann jeder Bürger kostenlos zur Schule gehen oder sogar studieren, wenn er sich im Anschluss zu einem dreijährigen Dienst verpflichtet. Dies schlägt sich auch in einer sehr niedrigen Analphabetenrate nieder (0,4%). Die Förderung, ja sogar der Studienplatz können jedoch bei oppositioneller Tätigkeit gestrichen werden. Im Rahmen des Dienstes werden Jugendliche oft in strukturschwache Gebiete verschickt wobei sie in diesem Fall allerdings mit einem Gehaltsbonus rechnen können. Gerade dort ist die Vernetzung relativ gering, was politisches Engagement noch zusätzlich erschwert. Für die Wenigen, die sich über das Internet organisieren, gehören eine hohe Internetkriminalität und systematische Überwachung, beispielsweise das Hacken oppositioneller Webseiten, zum Alltag. Das Schulsystem ist weitgehend autoritär geprägt und dient der Reproduktion des Systems. Eigenständiges Denken wird nicht ausgebildet, weshalb junge WeißrussInnen für westliche Arbeitgeber oft unattraktiv sind. Lediglich in Schulen mit westlichen Trägerschaften ist eine gewisse Offenheit zu beobachten. Hier wird eine Art ’Elite’ des Landes herangebildet. Ein Studium in der EU können sich nur wenige leiste, da man um z.B. in Deutschland studieren zu dürfen 7000 € auf einem EU Konto benötigt. Aufgrund dieser EU „Bildungsbarrieren“ gehen die meisten Jugendlichen nach Russland, da man dort im Gegensatz zur EU visafrei einreisen kann und trotzdem gutes Geld verdient. Jedoch lassen die jüngsten Massenentlassungen in russischen Staatsbetrieben die Arbeitslosigkeit auch in Weißrussland rapide steigen. Die wenigen Perspektiven der Jugend bröckeln!

Belarus – was bringt die Zukunft?

Die Zukunft ist offen. Sicher ist nur: Angesichts der prekären wirtschaftlichen Lage muss Lukaschenko handeln. Egal für welchen Weg sich Lukaschenko entscheidet, weder ist mit einer konsequenten „Russifizierung“, noch mit einer starken Annäherung an die EU und damit an westliche Werte, zu rechnen. Doch gerade die Bedeutung Belarus als wirtschaftliche Drehscheibe zwischen Russland und der EU verdient auch Abseits manipulierter Präsidentschaftswahlen unsere Aufmerksamkeit. In Weißrussland wird die energie-strategische Zukunft der EU erheblich beeinflusst. Vieles deutet darauf hin, dass sich Weißrussland mittelfristig entweder Moskau oder der EU wirtschaftspolitisch unterordnen wird müssen. Eine Rettung aus eigener Kraft ist nahezu ausgeschlossen, eine mehr oder minder unabhängige Existenz zwischen den politischen Schwergewichten Russland und EU offensichtlich auch. Trotz der zunehmend prekären Lage der Zivilbevölkerung ist mit einer Revolution derzeit nicht zu rechnen. Doch weiß man nie, wie lange die Menschen stillhalten, wenn es erst einmal zu gravierenden Einschnitten in ihre Lebensqualität oder gar zu einer Verknappung der Lebensmittel kommt.

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