Europaweite Netzneutralität?
Das Prinzip der Netzneutralität schreibt vor, dass alle Daten im Internet von den Internetprovidern, also den Internetanbietern, gleich behandelt werden müssen, unabhängig von Sender, Empfänger oder Inhalt. So wird beispielsweise garantiert, dass alle Webseiten gleich schnell funktionieren – egal ob es sich bei dem Betreiber um ein Großunternehmen oder um einen Blogger handelt. Dieses Prinzip soll europaweit gesetzlich verankert werden, versprach Neelie Kroes, EU-Kommissarin für die Digitale Agenda, noch vor wenigen Wochen. Nun hat das Blog Netzpolitik.org einen Verordnungsvorschlag der EU-Kommission veröffentlicht, der die Netzneutralität praktisch abschafft. Netzaktivisten sind empört und mutmaßen über mögliche Folgen, sollte der Entwurf in Kraft treten. Auch die deutsche Regierung ist verärgert. Denn die Verordnung garantiert zwar den Internetnutzern die Freiheit, „Inhalte zu erlangen und zu verbreiten, Anwendungen und Dienste ihrer Wahl zu nutzen“. Internetprovider dürften laut Vorlage aber bestimmte Inhalte bevorzugt, also schneller übermitteln. Außerdem würde der Entwurf sie berechtigen, volumenbasierte Verträge mit Internetnutzern und Vereinbarungen mit Webseitenbetreibern abzuschließen. Sie könnten somit einen höheren Betrag für schnelleres Internet verlangen.
Hintergrund des Verordnungsvorschlages waren die Pläne der Deutschen Telekom. Das Unternehmen will das Datenvolumen für Internetnutzer begrenzen und bei Überschreitung dieses Volumens die Geschwindigkeit der Internetverbindung drosseln. Für eine schnellere Verbindung bei größerem Datenvolumen müssen die User zukünftig eine teurere Flatrate buchen. Nutzer des Telekom-Zusatzdienstes Entertain, in den sich Webseitenbetreiber einkaufen können, sind davon nicht betroffen.
Entstehung eines Zweiklassennetzes
Internetaktivisten befürchten durch solche Maßnahmen eine Art Zweiklassennetz. Die Webseitenbetreiber, die den Betrag für schnelles Internet an die Provider zahlen, steigen in die erste, schnelle Klasse des Internets auf. Die Anbieter, die solch einen Vertrag aus finanziellen Gründen nicht eingehen können, werden benachteiligt, da deren Webseiten in das langsamere Netz verdrängt werden. Besonders gemeinnützige Organisationen, Start-Up-Unternehmen, Blogger und kleinere Webchannels, die sich die teurere, obere Internetklasse nicht leisten können, wären von der Benachteiligung betroffen. Netzaktivisten befürchten, dass diese dann zusehends aus dem Netz verschwinden, weil die Internetnutzer zu schnelleren Konkurrenz-Portalen wechseln. Schließlich besuchen User nur die Webseiten regelmäßig, die ohne nervenaufreibende Wartezeiten funktionieren. Das Internet würde damit zunehmend an Individualität verlieren und einseitiger werden, befürchten viele User.
Netze der Zukunft
Da die Provider laut Verordnung bestimmte Inhalte bevorzugt übermitteln dürften, können sie Webseiten nicht nur nach den Verträgen, sondern eben auch nach Inhalten filtern. Das bedeutet, dass sie die Seiten überwachen und sogar Inhalte blockieren könnten. Es entstünde eine Art subjektives Internet, in dem die Provider bestimmen, welche Inhalte sie dem User präsentieren. Die Folge könnte eine Zersplitterung des „einen Internets“ sein. Viele verschiedene Netze, die von den Telekommunikationsunternehmen abhängig sind und eine bestimmte Ideologie repräsentieren, könnten entstehen, mutmaßt die Podcast-Sendung Übermorgen.TV. Konkurrierende Webseiten und Portale könnten die Provider in ihrem subjektiven Internet komplett ausblenden oder ihnen durch Drosselung schaden.
Kritik an EU-Verordnungsvorschlag
Dennoch stärkt die EU den Telekommunikationsanbietern den Rücken. Auf Kosten der Netzneutralität? Neelie Kroes sagt, es sei weder ihr Job, „Menschen davon abzuhalten, solche Dienste zu kaufen, noch Menschen daran zu hindern, diese Dienste anzubieten“. Im Klartext: Nicht die Politik ist für die Einheit des Internets verantwortlich, sondern der freie Markt. Zudem gab ein Sprecher von ihr bekannt, es handele sich bei der Verordnung um einen Entwurf, der bereits mehrere Wochen alt sei. Die Endfassung, die erst im September veröffentlicht wird, soll die Netzneutralität garantieren.
Der deutschen Regierung geht der Entwurf jedenfalls nicht weit genug. Die EU-Verordnung sorge für die „Abschaffung von Netzneutralität und Diskriminierungsfreiheit", so die SPD-Europaabgeordnete Petra Kammerevert gegenüber der Frankfurter Allgemeine Zeitung. Auch Wirtschaftsminister Philipp Rösler äußert Kritik an den Plänen: „Das, was wir gesehen haben, reicht uns in Bezug auf die Gewährleistung der ’Netzneutralität’ nicht aus“. Er kündigt eine bundesweite Verordnung zur Sicherung des Prinzips an.
In der EU-Vorlage ist allerdings festgeschrieben, dass kein Mitgliedsstaat den Providern verbieten darf, Verträge mit Webseitenbetreibern oder Internetnutzern abzuschließen. Sollten das EU-Parlament und der EU-Rat diesen Entwurf im September so übernehmen, wäre eine Verordnung des Bundeswirtschaftsministers bedeutungslos. Im nächsten Frühjahr soll die EU-Verordnung verabschiedet werden.
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