Ein föderales Europa ist ein handlungsfähiges Europa

Interview mit Daniel Cohn Bendit und Guy Verhofstadt

, von  Aurélien Brouillet, übersetzt von Franziska Simon

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Ein föderales Europa ist ein handlungsfähiges Europa
Guy Verhofstadt und Daniel Cohn-Bendit (rechts) Foto: Audiovisuelle Dienste des Europäischen Parlaments, bestimmte Rechte vorbehalten

„Für Europa! Ein Manifest“ ist der Titel des Buches von Daniel Cohn Bendit und Guy Verhofstadt. Es ist ein starkes Plädoyer für eine europäische Föderation und eine Mahnung and die Bürger und die Regierungen Europas. Unsere französische Ausgabe nutzte die Vorstellung des Buches in Paris, um den beiden Autoren einige Fragen zu stellen.

Woher kam die Idee, ein solches Buch zu schreiben?

Guy Verhofstadt: Wir waren wütend. Die Eurokrise besteht seit 2008 und die immer häufiger stattfinden Krisengipfel sowie die halbherzigen Maßnahmen, die niemanden überzeugen konnten, haben nur dazu geführt, die Situation zu verschlechtern. Dennoch weiß jeder wo das Problem liegt. Für eine funktionierende Einheitswährung brauchen wir eine richtige Währungsunion.

Daniel Cohn-Bendit: Wir wurden oft gefragt, wieso wir dieses Buch zu zweit geschrieben haben, obwohl wir aus zwei unterschiedlichen politischen Lagern kommen. In der aktuellen politischen Landschaft gibt es vier Strömungen. Da ist zum einen die soziale, die die links/rechtstradionelle Aufspaltung in sich vereint. Dann gibt es noch die demokratische, die die Demokraten von den Autoritären trennt, die ökologische und die europäische. Guy und ich sind Anhänger der letzteren.

Wir kämpfen für ein föderales Europa, weil es ein handlungsfähiges Europa ist. Ein Europa, das über einen eigenen Haushalt verfügen würde, könnte zum Beispiel auch mit der Industrie verhandeln. Um solch ein politisches Europa gründen zu können, braucht Europa einen Europäischen Senat und ein mit mehr Befugnissen ausgestattetes Europäische Parlament. Um das zu erreichen, müssen wir bei den nächsten Wahlen im Jahr 2014 ein verfassungsgebendes Parlament wählen können, das die Einberufung einer konstitutionellen Konvention einfordert, um ein Gesetz zu verfassen, über welches in allen Europäischen Mitgliedstaaten durch die Mehrheitsregel der Bevölkerung und Staaten per Referendum abgestimmt wird. Diejenigen Staaten, die das nicht akzeptieren, werden zur Verantwortung gezogen werden.

Welchen politischen Impuls wollen Sie mit dem Manifest geben?

Guy Verhofstadt: Es ist wichtig, dass wir in 2014 neben den trägen Europäern und den Euroskeptikern eine große proeuropäische Allianz bilden. Wir brauchen eine proeuropäische politische Kraft, die den Willen zum Ausdruck bringt, diesen Sprung hin zu einem föderalen Europa zu begehen und damit die einzige Möglichkeit aufzeigt, die Souveränität der Bürger zu garantieren. In der Welt von morgen existiert die Souveränität in den Nationalstaaten nicht mehr. Ein Blick auf die Banken und die Industrie genügt, um dies zu erkennen. Die Probleme müssen auf europäischer Ebene gelöst werden und dies geht nur durch den föderalen Sprung. Es fehlt uns an einer wahrhaftigen europäischen föderalen Kraft inmitten der Demokratie. Die Spinelli-Gruppe hat begonnen, dies zu strukturieren, aber wir müssen viel weiter gehen und eine politische föderale Kraft hervorbringen.

Daniel Cohn-Bendit: Ich bin diesbezüglich viel skeptischer als Guy. Die verschiedenen Parteien bleiben auf nationaler Ebene strukturell organisiert und aus diesen Parteien sehe ich nur schwer föderale Persönlichkeiten emporkommen. Momentan beobachte ich bei den Parteien eher einen ziemlichen strukturellen Patriotismus, der es schwer macht, diese Idee bis 2014 zu realisieren. Wir brauchen zunächst einen Anstoß. Wir müssen die öffentliche Meinung dieser Idee gegenüberstellen und eine Debatte mit den Souveränisten anstoßen, um diese mit ihren Lügen zu konfrontieren. Die Bedeutung dieses Buches ist es, die politischen Parteien in Europa mit ihrer Verantwortung zu konfrontieren. Bei diesem Prozess werden sich die politischen Kräfte herausschälen, die dann vielleicht dazu bereit sind, eine Allianz einzugehen.

Momentan hat man eher den Eindruck, dass die politischen Eliten, sei es in den nationalen Parlamenten oder im Europäischen Parlament, dem Föderalismus feindlich gegenüber stehen. Wie soll man sie von diesem Projekt überzeugen?

Guy Verhofstadt: Durch die Krise, die einen Einschnitt in der Welt der Politik darstellt, werden sie gar nicht darum herumkommen, sich damit auseinanderzusetzen. Man kann diese Krise nicht überwinden, wenn man weiterhin ausschließlich national denkt. Je länger die Krise andauert, desto stärker wird der Druck hin zu einem föderalen Europa. Wir wurden oft gefragt, ob es nicht idealistisch sei, ein föderales Europa einzufordern. Ich würde sagen, dass es im Gegenteil geradezu unrealistisch ist zu glauben, dass man sich mithilfe der aktuellen Methoden aus der Krise befreien kann. Das ist naiv.

Der Föderalismus ist realistisch, weil er die einzige Lösung ist. Das sieht man auch an den aktuellen politischen Entwicklungen. Während Frau Merkel im Oktober eine Bankenunion noch abgelehnt hat, setzt sie sich jetzt dafür ein. Aus den Vorstößen, die weit davon entfernt waren akzeptiert zu werden, werden durch die aktuellen Geschehnisse die plausibelsten Konzepte. Dies war bei der Bankenunion der Fall und das wird auch beim Schuldenausgleich der Fall sein.

Glauben Sie nicht, dass die Politik diese Entwicklung den Bürgern vorenthält?

Daniel Cohn-Bendit: Die jetzige Politik lügt ihre Bürger an. Deshalb brechen wir durch unser Buch auch eine Schneise in dieses Lügengeflecht. Wir bewegen uns auf eine Föderalisierung hin. Am Beispiel der Europäischen Zentralbank kann man dies sehr gut sehen. Vor zwei Jahren sagte man noch, dass sie niemals Schulden von Staaten, die in Schwierigkeiten sind, aufkaufen würde, heute macht sie nichts Anderes. Die Dinge entwickeln sich. Zu sagen, dass sich dahinter ein heimlicher Föderalismus verbirgt, führt dazu, dass sich die Menschen betrogen fühlen und das wiederum bedeutet nur Wasser auf die Mühlen der politischen Rechten. Wir befinden uns in einem historischen Prozess, der uns dahin führt, die Souveränität zu teilen.

Wir brauchen eine europäische Armee und eine einzige Vertretung Europas auf dem internationalen politischen Parkett. Der Föderalisierung steht zu allererst für die Leistungsfähigkeit Europas. Die nationale Souveränität wird durch die Globalisierung und die Märkte gefährdet. Wenn wir eine Souveränität zurückgewinnen möchten, dann ist dies nur durch eine europäische Souveränität möglich.

Führt der Föderalismus nicht dazu, dass die Regionalpolitik zerstört wird?

Guy Verhofstadt: Der föderale Sprung bedeutet eine Verstärkung der Zusammenarbeit auf europäischer Ebene. Auch für die Euroregionen. Das alles kann verstärkt werden, weil die Entscheidungen dann auf europäischer Ebene getroffen werden könnten. Die Möglichkeit auf regionaler Ebene zu kooperieren wird Begeisterung auslösen. Diese ist momentan noch begrenzt, aber wir müssen eine richtige Strukturpolitik entwickeln und dies wird auf europäischer Ebene einfacher zu verwirklichen sein.

Daniel Cohn-Bendit: Im Moment wird die Regionalpolitik durch die Rückbesinnung auf die nationale Ebene zurückgedrängt. In Nordfrankreich wollte man beispielsweise nach Verhandlungen mit Belgien und der EU eine Eisenbahnlinie bauen. Alle waren damit einverstanden, aber das Vorhaben wurde dem französischen Parlament vorgelegt und so wurde entschieden, lieber eine Autobahn zu bauen. …Ein föderaler Staat ist kein Superstaat. Und hier zeigt sich die Lüge, er ist das Gegenteil, er ist ein viel „weicherer“ Staat als der nach französischer Konzeption.

Werden die Franzosen auf diese Argumente reagieren angesichts ihrer jakobinischen Tradition?

Daniel Cohn-Bendit: Wer nicht wagt, der nicht gewinnt. Wenn man den Franzosen nichts anbietet, werden sie keiner Sache zustimmen. Man muss den Franzosen über politische Projekte, die Frankreich mehr beschützen, Lösungen anbieten. Europa beschützt Frankreich und erlaubt ihm mit den Schocks, die uns die Globalisierung auferlegt, zu leben. Das muss man den Bürgerinnen und Bürgern erklären. Wenn die Grünen die Wette eingehen, ein wirklich europäisches Projekt anzubieten, werden sie 16 % bekommen.

Die Bürger zögern und wissen nicht, was sie tun sollen. In solch einer Situation muss man ein wirkliches politisches Projekt vorschlagen, das man den Souveränisten entgegenstellen kann und sich allen anschließenden politischen Debatten stellen. Wenn diese uns sagen, dass alle Grenzen geschlossen werden sollen, muss man entgegnen können, dass sich die Hälfte des Einkommens eines Winzers aus dem Export ergeben kann.

Guy Verhofstadt: Ich bin davon überzeugt, dass nur die Politiker eine öffentliche Meinung hervorbringen können und nicht andersherum. Die Politik soll nicht der öffentlichen Meinung folgen, sondern eine Vision schaffen und versuchen, die Bürger davon zu überzeugen. Das ist wahre Demokratie. Die öffentliche Meinung kann sich natürlich ändern. Als in den Niederlanden der europäische Verfassungsvertrag abgelehnt wurde, hatte dies bei den letzten Wahlen eine Niederlage für europaskeptische Parteien zur Folge wie es sie noch nie zuvor gegeben hat. Wenn wir den Menschen gut erklären, wie die momentane Welt funktioniert, kann man sie auch überzeugen. Aber dazu brauchen wir eine Kraft, die dies verteidigt.

Gibt es Unterschiede bei den unüberwindbaren Werten innerhalb der Mitgliedstaaten, die diese Vision der Dinge verdammen?

Daniel Cohn-Bendit: Hat Frankreich die gleichen Werte? Gibt es von Le Pen bis Mélénchon die gleichen Werte? Werte entwickeln sich weiter. Ich nehme immer das gleiche Beispiel: Frankreich bezieht sich immer auf das Jahr 1789 und damit auf die Französische Revolution. Nur vergisst man dabei, dass dieses Land 150 Jahre gebraucht hat, um das Frauenwahlrecht einzuführen. Werte sind nichts statisches, sie ändern sich, das ist ein Prozess. Für die Sprachen bedeutet dies eine Herausforderung. Man muss die Demokratie hin zu einer gemeinsamen Kultur mit unterschiedlichen Sprachen umorganisieren. Mit den heutigen technologischen Entwicklungen stellt das jedoch kein Problem dar. Wenn man im Europäischen Parlament intervenieren möchte, wird man in alle Sprachen der Welt übersetzt. Das Problem liegt eher in der Organisation der Demokratie, das ist eine Herausforderung, die man meistern muss.

Guy Verhofstadt: Indien ist ein gutes Beispiel. Dort gibt es verschiedene Religionen, eine Vielzahl an Sprachen und Ethnien. Indien ist keine Nation, sondern ein Kontinent und trotzdem eine der größten Demokratien der Welt. Sprachenvielfalt ist ein Trumpf und wir müssen die multikulturelle Gesellschaft akzeptieren. Wir haben Europa verloren, als wir im 20. Jahrhundert monolinguale und monoethnische Blocks geschaffen haben. Denken Sie nur an Kafka der Jude war, in Prag gelebt und auf Deutsch geschrieben hat. Der Multilinguismus wurde im 20. Jahrhundert zerstört, obwohl er das Wesen Europas war. Wir müssen dieses Wesen wiederfinden. Europa muss in Bildung und Kultur investieren. Europa ist eine Zivilisation mit gemeinsamen Werten, die stärker sind als die Werte innerhalb eines Landes.

Sie sprechen häufig von der Rolle der Politik, wenn es darum geht, ein föderales Europa zu errichten. Haben andere Akteure, wie beispielsweise die Zivilgesellschaft, nicht auch eine wichtige Rolle?

Guy Verhofstadt: Natürlich! Jeder Bürger und jede Bürgerin muss die Möglichkeit haben, sich politisch einzubringen. Das machen wir mit der Spinelli-Gruppe. Deren Anstrengungen müssen wir verstärken, aber der wichtigste Moment bleiben die Europawahlen. Es ist deshalb unabdingbar, dass es eine politische Kraft gibt, die bei den Europawahlen die föderale These konsequent verteidigt, um das Projekt voranzubringen.

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