Vom Aufschrei aller politisch relevanten Parteien Deutschlands im Zuge der geplanten Wiedereinführung von Grenzkontrollen in Dänemark bis hin zur langwierigen Debatte um einen EU-Beitritt der Türkei – ein zentrales Argument ist stets die europäische Identität. Dies gilt umso mehr für die Grundlagen der Arbeit der JEF und der Europa-Union.
Man kann mit gutem Recht behaupten, dass europäische Identität zu einem geflügelten Wort der öffentlichen Debatte geworden ist. Frappierend ist jedoch die begriffliche Unschärfe, die eine nahezu beliebige Ausdeutung und Instrumentalisierung zulässt. Wir meinen, hierbei zwei grundlegende Hauptströmungen unterscheiden zu können, eine totalitäre und eine liberale Strömung.
Das totalitäre Verständnis der europäischen Identität
Nach außen hin kann der Begriff der europäischen Identität als Grundlage radikaler Ausschließungsphänomene missbraucht werden. Er wird als Argument vor allem dann angeführt, wenn Staaten, Religionen oder Kulturkreise als außerhalb der gemeinsamen Wertebasis stehend beschrieben werden sollen. Durch eine bewusste Auswahl von vermeintlich essentiellen Bestandteilen dieser Wertebasis aus dem breiten Fundus der europäischen Ideengeschichte lassen sich so gezielte Ausschließungen vornehmen.
Ein Großteil der polemischen Argumente, die etwa gegen einen EU-Beitritt der Türkei vorgebracht werden, ist dem totalitären Verständnis der europäischen Identität geschuldet. Der totalitäre Charakter dieses Verständnisses wird vor allem dann deutlich, wenn wir den Blick darauf richten, welche innere Kohärenz hierdurch der europäischen Wertegemeinschaft unterstellt wird.
Nähert man sich dem Begriff der Identität semantisch, so wird in Rückgriff auf mathematische Logik deutlich, dass mit identisch eine totale Gleichheit aller Elemente gemeint ist, die dem Identität konstituierenden Kollektiv inne wohnen. Dies meint eine Normierung bis hin zur Gleichschaltung der Werte und der Kultur aller europäischer Bürgerinnen und Bürger. Paradoxerweise widerspricht diese totalitäre Grundhaltung genau denjenigen Werten, die notwendige Bedingung des europäischen Einigungsprozesses waren und sind.
Das liberale Verständnis der europäischen Identität
Es gibt also durchaus Werte, die grundlegend für die europäische Integration sind. Ihrer konkreten Ausgestaltung ist dabei eine bemerkenswerte Dynamik eigen. Konstant bleiben allerdings stets die großen Grundsätze des europäischen Wertegefüges: Liberalität und Vielfalt. Nicht umsonst lautet das Motto der Europäischen Union „In Vielfalt geeint“.
Europas Spezifikum wird also zum einen durch die kulturelle Vielfalt und die individuelle Freiheit seiner Bürger beschrieben. Zum anderen beziehen europäische Bündnisse aus ebenjenen Grundfesten ihre Legitimation. Die europäische Identität in diesem liberalen Verständnis grenzt sich zudem nur dann von anderen Kulturkreisen ab, wenn diese eine Unvereinbarkeit mit der eigenen Liberalität und Demokratie an den Tag legen. Freilich besteht hier eine Spannung zwischen der liberalen Interpretation europäischer Identität und der potenziellen Totalität des Begriffes Identität selbst.
Identität birgt auch im liberalen Sinne ein totalitäres Potenzial
Sowohl die beschriebene Semantik von Identität als normierende und gleichschaltende Kraft, als auch der Fakt, dass die von uns vorgenommene idealtypische Aufspaltung in liberales und totalitäres Verständnis so in der Realität nicht vorkommt, führen zu einer Vermengung der beiden Konzepte. Da hierbei jegliche Trennschärfe verlorengeht, ist beim Gebrauch des Terminus Identität immer auch eine totalitäre Bedeutung konnotiert. Mag der Sprecher auch einen liberalen Ansatz wählen – bei einem Großteil der Zuhörerschaft kommen aus Gründen sprachlicher Gewohnheiten und instinktiv verstandener Sprachlogik auch die potenziell totalitären Elemente an.
Der Begriff der Identität birgt also ein totalitäres Potenzial, das seine Gefährlichkeit vor allem aus einer Überhöhung quasi-nationaler Symbolik bezieht. Der Grad ist schmal. In Zeiten wiedererstarkender Nationalismen in den europäischen Staaten kommt integrierenden Symbolen naturgemäß eine besondere Bedeutung zu. Pro-europäische Akteure sollten sich zweifellos auf sie beziehen können.
Dabei muss jedoch der Tritt in die Euro-Nationalismus-Falle vermieden werden. Was als kleineres Übel erscheint, kann in letzter Konsequenz zur Antithese ebenjener Grundsätze werden, für die sich die Verfechter des europäischen Einigungsprozesses einsetzen – Liberalität und Vielfalt.
Nicht auszudenken, was aus dem hochgelobten europäischen Projekt würde, wenn sich die Geschichte wiederholte und aus der romantisierten und übersteigerten Genese von Nationen imperialistische, kolonialistische, gar faschistische Auswüchse folgten. Um dem totalitären Potenzial einer europäischen Identität zu entgehen und dabei Gemeinsamkeiten in ihrer liberalen Ausprägung zu bewahren, schlagen wir einen neuen Begriff vor.
Selbstbewusstsein statt Identität
Als Ersatz für Identität bietet sich aus unserer Sicht der Begriff des Selbstbewusstseins an. Er löst das Dilemma zwischen liberal verstandenen Gemeinsamkeiten und totalitärer Begrifflichkeit. Wiederum lässt sich dies semantisch begründen. Das reflexive Element „Selbst“ gepaart mit „Bewusstsein“ spielt nicht nur darauf an, dass ein komplexes Wertegefüge wie das europäische zwingend veränderlichen Konstruktionen folgt und nicht etwa natürlicherweise vorgegeben ist.
Es wird hier auch der entscheidende Unterschied zu Identität als totaler Gleichheit deutlich. Die suggerierte Bewusstseinsebene spielt auf das Individuum an, das nicht zwingend alle Werte und kulturelle Eigenschaften eines europäischen Bewusstseins teilen muss. „Bewusstsein“ lässt den entscheidenden Grundelementen freien Lauf – Liberalität und Vielfalt.
1. Am 29. Juni 2011 um 09:37, von Christoph Als Antwort Europäische Identität – ein totalitärer Begriff
Genauso wie Identität ist das Selbstbewusstsein ein nach Innen gerichteter Begriff, der das Außen nicht mit einbezieht. Gerade aber in der sich aktuell abzeichnenden partikulär-nationalistischen Tendenz birgt der Begriff Selbstbewusstsein eine ganz andere Gefahr, nämlich den Rückzug auf nationales Identifikationspotenzial. Das wird unter anderem auch dadurch begünstigt, da es de facto keine wirkliche europäische Identität gibt. Unser Wertegerüst wird traditionell als „westliches Wertegerüst“ rezipiert, die Identifikation findet vor allem mit Bezug auf Region und Nationalstaat statt. Dies wird durch multiple Faktoren begünstigt. Deshalb würde ich einen anderen Terminus zur Debatte stellen, der in meinen Augen im Zusammenleben, sowohl nach Innen wie auch nach Außen, positiv konotiert ist und weniger Risiken birgt. „Anerkennung“ sowohl der europaweit geltenden Werte, als auch der regionalen Unterschiede und der z.B. kulturellen Unterschiede mit unseren Nachbarn. So wäre man wirklich „In Vielfalt geeint“.
2. Am 30. Juni 2011 um 09:38, von Martin Meiske Als Antwort Europäische Identität – ein totalitärer Begriff
Lieber Markus, lieber Christopher,
zunächst einmal vielen Dank für diesen scharfsinnigen und gut strukturierten Artikel!
Ich habe jedoch eine Sorge, wenn wir eurer Empfehlung folgen: Identität ist eine Selbsterfahrung, die stetig im Wandel, ein Vielzahl von Regionen und Gruppen mit einbezieht, derer ich mich verbunden fühlen kann. Die Menschen fühlten sich in der Vergangenheit zunächst ihrer Stadt zugehörig, später zusätzlich einer bestimmten Region, dann einer Nation und mit einer zunehmenden Öffnung des Erfahrungshorizontes als Europäer oder sie bezeichnen sich gar als Weltbürger. Es gibt in dieser Reihung kein Entweder oder, jeder muss für sich selbst herausfinden, zu welchem Teil er diesen Begriffen verbunden ist und sich bewusst machen wie sie entstehen.
Wir können nicht einzelne Ebenen dieser Reihe, wie die europäische Identität, ausklammern. Integrieren, den Menschen klar machen, in welchem Umfang das Teil ihrer Identität ist durch die Förderung von Austauscherfahrung und Kommunikation innerhalb Europas und über dessen Grenzen hinaus - das ist in meinen Augen der richtige Weg. Wir können dem „totalitären Missbrauchs“ des Begriffes nicht mit seiner Entkopplung der anderen Identitätsebenen antworten. Viel wichtiger ist, dass wir den Menschen in der Diskussion um Identität, beispielsweise die Ideengeschichte der Nation vor Augen führen. Die dort auffindbare Ambivalenz von positiver Identitätsstiftung und vielfach aber eben auch ausschließender Elemente muss dargestellt werden. Bringt man letztere Ausschlusstendenzen in den Historischen Kontext des 19. und 20. Jh. muss diese Form der Identitätsstiftung in weiten Teilen ein abschreckendes Beispiel sein.
Aus dieser Erfahrung heraus, und die Europäische Idee bietet sehr wohl genug positive Ansatzpunkte zur Überwindung der alten Form von Identitätsstiftung, müssen wir ein in Vielfalt geeintes Identitätsbewusstsein fördern. Die Frage sollte am Ende also nicht heißen: „Fühlst du dich eher als Deutscher oder eher als Europäer?“ Sich als Europäer fühlen könnte etwa heißen, sich einer Art und Weise verbunden fühlen auf dem Kontinent Europa mit seinen Gemeinsamkeiten und Unterschieden umzugehen. Gleichzeitig fühle ich mich aber auch als Deutscher. Das halte ich für absolut gewünscht, wobei man auch versuchen muss mit dem Hinweis auf die (Ideen-)Geschichte, den ausschließenden Elementen heutiger nationaler Identitätsbildung entgegenzuwirken.
Ich möchte auch davor warnen alle Identitätsebenen auf den Begriff Selbstbewusstsein umzumünzen. Auch dann müsste man auf breiter Ebene auf die Geschichte des Begriffes Identität verweisen. Die Neuschöpfung führt eher in die Falle, dass wir alte Fehler in der Identitätsstiftung vergessen und sie wiederholen.
Liebe Grüße aus Berlin, Martin
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