Wie wir am 4. Advent eine Hochseeinsel besetzten

Bericht vom JEF-Seminar auf Helgoland

, von  Hauke Petersen

Wie wir am 4. Advent eine Hochseeinsel besetzten

1950 besetzten zwei Studenten Helgoland um gegen die Wiederbewaffnung und für ein friedliches Europa zu demonstrieren. 60 Jahre danach begibt sich die JEF auf Spurensuche. Ein Bericht über den Workshop der JEF Schleswig-Holstein, Fortschritte in der Programmdebatte und Bemerkenswertes auf einer kleinen Insel.

Die Besetzung vor 60 Jahren

„Nie wieder Krieg!“, „Nie wieder Waffen in deutschen Händen“, so dachten die beiden Heidelberger Studenten René Leudesdorff und Georg von Hatzfeld vor 60 Jahren. Doch nur Worte waren den beiden zu wenig – es musste etwas symbolträchtiges, medienwirksames gegen die angestrebte Wiederbewaffnung Deutschlands getan werden. Von Hatzfeld hatte die Idee, das auch fünf Jahre nach Kriegsende von Großbritannien als Übungs-Bombenziel genutzte Helgoland zu besetzen und so ein wirksames Zeichen gegen Krieg und Militärismus zu setzen. Und tatsächlich: Am 20. Dezember 1950 trotzten die beiden Wind und Wetter, erreichten Helgoland, hissten die Europa-Flagge (neben der Deutschland-Flagge) und setzten so den entscheidenden Impuls, der Großbritannien zur Übergabe der Insel an Deutschland am 1. März 1952 bewegte.

Die Rückkehr der JEFer 2010

Dies nahm eine Gruppe Junger Europäischer Föderalisten zum Anlass, am vierten Advent-Wochenende 2010 nach Helgoland zu fahren und abermals die Europa-Flagge zu hissen. Wir, die 15 „neuen Besetzer“ aus Sachsen, Thüringen, Niedersachsen, Hamburg und Schleswig-Holstein, mussten zunächst einmal den winterlichen Widrigkeiten auf den Straßen und Schienen trotzen, um mit etwas Glück und einigen Telefonaten die Fähre nach Helgoland pünktlich zu erreichen. Auf der Insel angekommen, wurden wir zunächst vom Tourismusdirektor und der stellvertretenden Bürgermeisterin im Rathaus der Insel begrüßt. Dort wurden wir über einige skurrile Begebenheiten aufgeklärt – zum Beispiel dürfen Helgoländer nur „bis zur Konfirmation“ auf der Insel Fahrrad fahren. Helgoland ist nach der Straßenverkehrsordnung nämlich auto- und fahrradfrei. Aber auch die kleineren und größeren Probleme und Chancen der Insel standen zur Diskussion – von der zunehmenden Überalterung der Bevölkerung bis zur intensiven Nutzung von EU-Förderprogrammen.

Nach dem Einchecken in der Jugendherberge, die wir übrigens fast für uns alleine hatten, erkundeten wir zunächst die Insel - immer dabei die Europa-Flagge. Wir bewunderten das Wahrzeichen der Insel, die Lange Anna und das Gipfelkreuz (!), das mit 61 Metern nicht nur die höchste Erhebung Helgolands, sondern auch des Kreises Pinneberg ist, sowie den örtlichen Supermarkt.

Der Abend stand mit einem Vortrag und einem Film ganz im Zeichen der wechselvollen Geschichte Helgolands, das mal dänisch, mal englisch und mal deutsch war; eine wahrlich europäische Insel.

Am zweiten Seminartag haben wir uns in einem Workshop mit europäischen Identitäten beschäftigt, die zunächst mal als Bild auf Papier gebracht werden sollten. Eine anspruchsvolle Aufgabe, die außergewöhnliche Ergebnisse produzierte: Über konzentrische Kreise und Großkapitalisten mit Zylinder bis hin zum europäischen Haus war der Phantasie keine Grenzen gesetzt. Auf Grundlage der Bilder stiegen wir in eine intensive Diskussion ein, über Konstruktionen von Identitäten, europäische Öffentlichkeit und wie die JEF eine solche schaffen kann.

Nach dem Mittagessen wurden einige grundlegende Schriften der Europäischen Bürgerbewegungen diskutiert. Wir nahmen das Hertensteiner Programm, das Manifest von Ventotene, die Churchill-Rede von 1946 („Vereinigte Staaten von Europa“) und andere Texte auseinander, sprachen über die Unterschiede von „Unionisten“ und „Föderalisten“ und konnten so eine Grundlage für die Programmdebatte, die am nächsten Tag auf uns zu kommen sollte, legen.

Ein Wiedersehen mit René Leudesdorff

Darauf trafen wir René Leudesdorff, der uns in einer besonderen Führung den ehemaligen Flakturm und heutigen Leuchtturm zeigte, in dem die beiden Studenten vor Wind, Wetter und möglichen Bomben Unterschlupf fanden. Die Schwierigkeiten, auf einer menschenleeren, komplett zerstörten Insel für ein wenig Wärme und eine nötige Örtlichkeit zu sorgen, konnte Herr Leudesdorff uns anschaulich näherbringen. Nach einer Kaffee-Pause fanden wir uns im Museum der Insel ein. Obwohl die Ausstellung über die Besetzung erst einen Tag später eröffnet werden sollte, bekamen wir eine exklusive Sonderführung. Im Anschluss trug René Leudesdorff uns vor, auf welcher Basis die beiden Studenten von damals ihre gewaltlose Aktion durchführten und wie dadurch zum ersten Mal eine Form des zivilen Ungehorsams in der jungen Bundesrepublik zum Leben erweckt wurde. Viele andere Vereine, Verbände und Aktionen nahmen die gewaltlose Form der Helgoland-Besetzung später – meist unwissend – als Vorbild, siehe Greenpeace, Gorleben oder Stuttgart21. Das Treffen mit dem Zeitzeugen Leudesdorff war sicherlich einer der Höhepunkte des Wochenendes.

René Leudesdorff (hält die Fahne) mit den JEFern

Der Abend wurde dann gemütlich mit weihnachtlichem Schoko-Wichteln begonnen, bei dem die TeilnehmerInnen sich über regionale Süßspeisenspezialitäten freuen durften. Später besuchten wir den örtlichen Weihnachtsmarkt, darauf dann die örtliche Diskothek, mit den Einheimischen wurde Kontakt aufgenommen, und ganz in JEF-Manier war die folgende Nacht für einige von uns eher kurz.

Der Sonntag: Erster Schritt in der Programmdebatte

Am Sonntag nutzten wir die Gelegenheit, um über die anstehende Programmdebatte der JEF Deutschland zu diskutieren. Die Diskussion entfaltete sich vor allem an der Frage, wie wir in Zukunft mit der Forderung nach der Überwindung der Nationalstaaten/Nationen umgehen wollen. Auch hier gab es wieder einige sehr intensive Kontroversen und ist sicher, dass diese uns in Zukunft sicherlich noch einige Male über den Weg laufen werden.

Auch René Leudesdorff und Georg von Hatzfeld hatten vor 60 Jahren die Idee der Überwindung der Nationen im Kopf, als sie die Europa-Flagge auf Helgoland hissten. Der Ironie der Geschichte war es geschuldet, dass durch ihren Erfolg bei der Besetzung die abgelehnte Wiederbewaffnung Deutschlands nicht verhindert wurde, sondern durch die Lösung dieses Konflikts erst möglich gemacht hat. Die europäische Integration hat aber, und daran haben die beiden Studenten aus Heidelberg ebenfalls einen entscheidenden Anteil mit ihrer Aktion gehabt, Kriege zwischen den zuvor verfeindeten Nationen in der Mitte Europas undenkbar gemacht. In diesem Geist bestiegen wir, die 15 JEFer aus ganz Deutschland, wieder die Fähre und beschlossen so ein spannnendes, intensives Seminarwochenende in einer außergewöhnlichen Umgebung. Die Idee einer Neu-Auflage wurde übrigens schon heiß diskutiert!

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