Die Präsidentschaftswahl: eine Chance für Stabilität
Während die Legislative seit fast zehn Monaten defekt ist, wurden die Bulgar*innen auch aufgerufen, über das Amt des/der Staatspräsident*in sowie des/der Vizepräsident*in abzustimmen - ein in Europa einzigartiges Amt.
Bei der letzten Wahl im Jahr 2016 gewann der ehemalige Kampfpilot und Generalmajor Rumen Radev, unterstützt von der Bulgarischen Sozialistischen Partei (Bulgarska Sotsialisticheska Partiya), mit Leichtigkeit gegen die Mitte-Rechts-Kandidatin der GERB (Graždani za evropejsko razvitie na Bǎlgarija), Tsetska Tsatcheva. Der Sieg des ex-Militärs, der für eine Annäherung seines Landes an Moskau eintritt, motivierte den oppositionellen Premierminister Bojko Borissow zum Rücktritt.
Rumen Radev genießt, wie es bei Präsident*innen in parlamentarischen Systemen häufig der Fall ist, einen guten Ruf und da die gesetzgebende Gewalt seit fast einem Jahr nicht mehr funktioniert, scheint das Staatsoberhaupt der einzige Garant für die politische und institutionelle Stabilität Bulgariens zu sein.
Mit fast 49% der Stimmen ist Rumen Radev der Sieg in der für den 21. November angesetzten Stichwahl so gut wie sicher. Die Bulgar*innen entscheiden sich somit im Hinblick auf das höchste Staatsamt für Stabilität klar gegen die GERB. Rumen Radev wurde von den meisten Anti-System-Parteien unterstützt.
Der wichtigste Herausforderer des amtierenden Präsidenten ist der Geschichtsprofessor Anastas Gerdzhikov, der von der GERB unterstützt wird. Einer der Präsidentschaftskandidaten, der Ultranationalist Boyan Rasate, wurde aus dem Rennen genommen, nachdem er sich, unterstützt von Neonazis, an der Zerstörung eines LGBT-Zentrums beteiligt hatte. Die extreme Rechte, nun nicht mehr im Parlament vertreten, weiß offensichtlich nicht mehr, was sie noch tun soll.
Der Präsidentschaftswahlkampf wurde von der anstehenden Parlamentswahl in den Schatten gestellt, die sich mehr auf die Corona- und Impfkrise (Bulgarien hat mit 20% die niedrigste Impfquote in der EU) und die Energiekrise (durch das Land verläuft die Turkstream-Pipeline, eine der russischen Gasverbindungen, die die Ukraine umgeht) konzentrierte.
Trotz seines Rücktritts wurde bei den vorgezogenen Parlamentswahlen 2017 der derzeitige Premierminister Bojko Borrisow wieder an die Macht geholt, was zu Spannungen zwischen ihm und dem Präsidenten führte. Erst die vom Regierungschef Anfang 2020 angeordnete Durchsuchung der Büros des Präsidialamts im Zusammenhang mit einem Korruptionsfall brachte den Stein ins Rollen und führte zu beträchtlichen Demonstrationen gegen die Regierung, der ein laxes Vorgehen in der Korruptionsbekämpfung vorgeworfen wurde.
Ab dem Sommer 2020 begann sich die politische Lage im Land also zu verschlechtern. Die riesigen Demonstrationen gegen die Regierenden führten nicht zum Rücktritt des Premierministers, sondern zu einer - geringfügigen - Vorverlegung der Parlamentswahlen.
Regierung gesucht
Die Wahl fand im April 2021 statt und brachte, trotz einer sinkenden Wahlbeteiligung (49,1 %), einen starken Aufschwung der Anti-System-Parteien und dadurch große Verluste der traditionellen Parteien hervor.
Die GERB von Premierminister Borissow verlor im Vergleich zur Wahl 2017 fast 7 % der Stimmen und 20 Sitze, mit einem Viertel der Stimmen sichert sie sich nur 75 der 240 Sitze im Parlament. Überraschend erfolgreich, ist die Partei Ima takăv narod (ITN), was man mit „Es gibt ein solches Volk“ übersetzen kann. Angeführt von ihrem charismatischen Parteichef, dem Moderator Slavi Trifonov, landete die populistische ITN mit 17 % der Stimmen und damit 51 Sitzen, auf dem zweiten Platz.
Die Sozialisten verzeichnen mit dem Verlust von 37 Sitzen den schwersten Verlust dieser Wahl. Als traditionelle Opposition erhielt sie weniger als 15% der Stimmen, 12,4%, um genau zu sein. Die liberale DPS, die die türkische Minderheit im Land vertritt, schaffte die 10 %-Marke (30 Sitze), während die pro-europäische Antikorruptionskoalition Demokratisches Bulgarien mit 9,3 % der Stimmen und 27 Sitzen knapp an den 10 % vorbeischrammte. Aufstehen! Mafia raus, eine Koalition linker Parteien, die direkt aus den Protesten von 2020 hervorgegangen ist, stellt nun 14 Abgeordnete. Die extreme Rechte, bis dahin überrepräsentiert, konnte keine wählbare Alternative bieten und flog aus dem Plenarsaal.
Es ist schwierig in einem so zersplitterten Parlament eine Mehrheit zu bilden. Nachdem die GERB daran gescheitert war, beauftragte der Präsident die ITN mit der Bildung einer Koalition. Ihr Führer, Slavi Trifonov, hatte bereits eine Zusammenarbeit mit der GERB und der BSP sowie einer persönlichen Führung der Regierung ausgeschlossen. Nur waren seine potenziellen Anti-System-Verbündeten nicht stark genug, um eine stabile Mehrheit zu bilden. Auf diese zweite, folgte sehr bald die dritte Niederlage der Sozialisten, die letzte, wie es die Verfassung vorschreibt. So werden für den Sommer Neuwahlen angesetzt.
Bei den zweiten Parlamentswahlen des Jahres in Bulgarien gewann ITN 6 % der Stimmen dazu und nimmt den ersten Platz vor GERB ein (65 bzw. 63 Sitze). Die BSP stürzt weiter ab (-7 Sitze, 36 Sitze), während die Koalition Demokratisches Bulgarien 7 Sitze (insgesamt 34) gewinnt und den Sozialisten dicht auf den Fersen bleibt. Die DPS und Aufstehen! Mafia draußen stabilisieren sich bei 10 % und 5 %.
Die Situation bleibt unverändert. Die ITN, durch den ersten Platz beflügelt, lehnte Verhandlungen ab, setzt alles auf eine Karte und schlug eine Minderheitsregierung ohne Verbündete vor. ITN, von interner Uneinigkeit und dem Zorn seiner potenziellen Verbündeten gehindert, muss jedoch sich jedoch ein Scheitern eingestehen. Wie zuvor gelang es GERB und BSP nicht, ein starkes Regierungsbündnis zu schmieden. Daher wird die dritte Parlamentswahl dieses Jahres verordnet, die am selben Tag wie die erste Runde der Präsidentschaftswahlen stattfinden soll.
Wahlbeteiligung und Hoffnung sinken
Angesichts unendlichen Zauderns und einer Unfähigkeit der politischen Klasse, sich zu einigen und Kompromisse einzugehen, sind die Bulgar*innen entmutigt. Die Wahlbeteiligung, die im Juli noch gesunken war, hat sich bei etwa 40% eingependelt. Überraschenderweise war es die pro-europäische sozialliberale Koalition „Weiter im Wandel“, der auch die transeuropäische Volt-Partei angehört, die von einer gewissen Politikentfremdung profitierte und ein Viertel der Stimmen auf sich vereinigen konnte. Enttäuscht von der mangelnden Geschlossenheit der ITN versetzten die Wähler*innen der Partei einen Schlag, sodass sie 14 % ihrer Stimmen verlor und unter 10 % fiel. Die GERB konnte den ersten Platz nicht zurückerobern und wurde mit 23% der Stimmen Zweiter und die BSP führte ihren Abwärtstrend fort und überzeugte nur noch knapp 10 % der Wähler. Die Liberalen der DSP erhielten fast 13% der Stimmen, während die Bewegung, welche aus den Demonstrationen von 2020 hervorgegangen ist und in „Aufstehen! Wir kommen“ umbenannt wurde, auf unter 5 % abstürzte. Die bevorstehenden Verhandlungen zur Bildung einer Regierung werden nicht einfach sein. Wenn die Parteien scheitern, wird es für die Bulgar*innen noch schwieriger werden, sich das nächste Mal an den Urnen zu entscheiden.
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