Die UNO ist kein einfaches Gelände für die Europäische Union. Ihre politischen Ergebnisse werden von einer strikt zwischenstaatlichen Logik angetrieben und sind daher vollständig auf ihre Mitglieder angewiesen. Volle Mitgliedschaft wird daher nur international anerkannten Staaten gewährt.
Nichtsdestotrotz hat es die EU seit ihrem ersten Kontakt mit der UNO in den 1960er Jahren geschafft, sich eine bemerkenswerte Positionierung und beachtlichen Einfluss in den Strukturen der UNO zu verschaffen. Die EU hat sich nach der Mission der UNO, „internationalen Frieden, Menschenrechte und Entwicklung zu fördern“, ausgerichtet und sich dem politischen Prinzip des Multilateralismus verschrieben. Die Union hat einen erweiterten Beobachterstatus erhalten, der ihr das Recht gibt, gemeinsame Positionen zu präsentieren, zu intervenieren und Vorschläge einzubringen. In einigen UN-Organisationen wie der Welthandelsorganisation (WTO) ist die EU sogar vollwertiges Mitglied und hat die gleichen Rechte wie Mitgliedsstaaten.
Der Gesamteinfluss der EU innerhalb des UN-Systems bleibt jedoch eingeschränkt und hängt von ihren Mitgliedsstaaten ab: Die EU hat kein Stimmrecht, kann nicht Mitträgerin von Beschlussvorschlägen sein oder Kandidaten vorschlagen. Außerdem ist sie weder ein Mitglied der Generalversammlung noch des Sicherheitsrates. Trotz Artikel 34, der EU-Mitgliedsstaaten dazu auffordert, ihre Politik in UNO-Angelegenheiten zu koordinieren, weist die EU einen Mangel an Kohärenz und Einheit auf, wenn es um schwierige politische Fragen geht, wie z.B. Abrüstung oder Themen des Sicherheitsrates.
Vor diesem Hintergrund wird ein europäischer Sitz in der Generalversammlung und dem Sicherheitsrat im Rahmen einer möglichen UNO-Reform immer stärker diskutiert. Die Anhänger eines solchen Plans sind davon überzeugt, dass eine umfassendere europäische Integration Prozesse innerhalb der UNO erleichtern und dadurch zu schnelleren und effektiveren Lösungen in internationalen Krisen führen könnte. Skeptiker hingegen bezweifeln, dass eine stärkere Position der EU in der UNO angesichts beispielsweise der restriktiven Migrationspolitik einen Gesamtnutzen mit sich bringen würde.
The New Federalist: Wie würden Sie den neuen Koalitionsvertrag Deutschlands hinsichtlich der Außenpolitik bewerten?
Richard Gowan: Es ist ein ziemlich zurückhaltender Text, der ein Interesse am Multilateralismus betont. Der Einsatz in beispielsweise der UNO-Friedensmission in der Ukraine zeigt außerdem einerseits Berlins Bereitschaft, die UN ernst zu nehmen, und andererseits die immer wichtiger werdende Rolle Deutschlands innerhalb der UNO-Strukturen. Insgesamt ist die Außenpolitik nicht gekennzeichnet durch große Veränderungen, sondern sie schlägt den Weg der Politik früherer Koalitionen ein. Ich hoffe, dass wir weiterhin einen klaren Einsatz für Multilateralismus sehen werden.
The New Federalist: In der Politik Deutschlands sehen wir auch bezüglich der Frage eines europäischen und deutschen Sitzes im UN-Sicherheitsrat eindeutig eine Pfadabhängigkeit. Ist es vor diesem Hintergrund glaubhaft, dass die deutsche Regierung einen europäischen Sitz einem deutschen vorzieht, so wie es im neuen Koalitionsvertrag steht?
Richard Gowan: Ich glaube nicht, dass Deutschland sich ernsthaft vorstellt, dass ein Sitz für die EU im Sicherheitsrat in absehbarer Zeit möglich sein wird. Darüber hinaus glaube ich nicht, dass deutsche Regierungsbeamte an die Möglichkeit eines deutschen Sitzes im Sicherheitsrat glauben, obwohl Deutschland sich weiterhin dafür stark macht, um andere Länder daran zu erinnern, welchen Einfluss Deutschland innerhalb des UNO-Systems hat.
„Französische Beamte wollen ihre Autonomie nicht zugunsten eines EU-Sitzes opfern.”
The New Federalist: Wird Frankreich trotzdem als letztes EU-Mitglied im UN-Sicherheitsrat bereit sein, seine Mitgliedschaft zugunsten einer europäischen Mitgliedschaft aufzugeben?
Richard Gowan: Nach dem Brexit wird Frankreich das einzige EU-Mitglied im UN-Sicherheitsrat sein und die Franzosen haben signalisiert, dass sie in Ratsangelegenheiten enger mit Deutschland zusammenarbeiten wollen. Trotzdem haben sie deutlich zu verstehen gegeben, dass die Möglichkeit einer Umwandlung ihres Sitzes in einen EU-Sitz nicht bestehe. Obwohl Präsident Macron in der Tat sehr pro-europäisch eingestellt ist, hat er betont, dass Frankreich eine unabhängige Weltmacht ist und französische Beamte ihre Autonomie nicht zugunsten eines EU-Sitzes opfern werden.
The New Federalist: Obwohl die Wahrscheinlichkeit für einen offiziellen EU-Sitz gering ist, können wir neue europäische Initiativen und eine etwas engere europäische Integration innerhalb der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik ausmachen. Hat dies Folgen für die UNO und, wenn ja, welche?
Richard Gowan: Die Frage ist eher, was der Schwerpunkt einer stärkeren Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der UNO wäre. Indem sie einige Themen wie die Sicherheit im in der Sahelzone auf die Agenda der UNO gebracht hat, hat Europa den Einsatz stark erhöht, aber die Franzosen haben immer noch den Eindruck, dass sie den Großteil davon tragen müssen. Obwohl andere EU-Mitglieder mehr in Sicherheitsaspekte investiert haben, entspricht der Einsatz im Allgemeinen nicht den Vorstellungen der Franzosen. Unter diesen Bedingungen bleibt eine europäisierte UN-Politik unwahrscheinlich.
The New Federalist: Würde eine stärkere europäische Außenpolitik dennoch politische Prozesse in der UNO erleichtern und ihre Missionen sowie die UNO als multilaterale Institution stärken?
Richard Gown: Die Stimme der EU ist in mancher Hinsicht bereits vereint und hat innerhalb des UNO-Systems Gewicht. Nichtsdestotrotz bleibt der Prozess einer einheitlichen europäischen Position heikel, denn die Energie, die in die Suche nach einer gemeinsamen inneren Position gesteckt wird, kann nicht in Verhandlungen mit Dritten investiert werden. Gerade im Brexit-Kontext, der einen Verlust von diplomatischem Gewicht zur Folge hat, sollte die EU eine feste und gemeinsame Position zu UNO-Angelegenheiten formulieren. Die EU ist angesichts von Herausforderungen wie Sicherheitsfragen beim Thema Russland und der amerikanischen Außenpolitik unter der Trump-Regierung in die Defensive gegangen. Deswegen ist es wichtig, dass die EU eine gemeinsame Position einnimmt.
The New Federalist: Wie Sie schon gesagt haben, spricht die EU in einigen UN-Organisationen mit einer Stimme, in anderen hat sie den Status eines vollberechtigten Partners erhalten. Sollte dieser Status auf andere Organisationen ausgeweitet werden?
Richard Gowan: Es gibt bereits Mechanismen, die gemeinsame EU-Positionen gewährleisten, wie z.B. die Lastenteilung von einem Land, das die Position der EU oder offizielle Vereinbarungen zu einer gemeinsamen EU-Position vertritt. Nichtsdestotrotz haben diese Mechanismen Grenzen und manche Länger wie Ungarn untergraben bewusst die Position der EU, indem sie nicht mit gewissen Werten einverstanden sind, für die die EU eine Zeitlang geschlossen eingetreten ist. Ob die EU den Status eines vollberechtigten Partners erhält, hängt daher von dem jeweiligen Bereich ab. In manchen, wie z.B. Budgetverhandlungen, ist europäische Kohäsion wichtig, da die EU ein wichtiger Beitragszahler zum Budget der UNO ist. Im Bereich atomare Abrüstung hingegen ist und bleibt die EU tief gespalten.
The New Federalist: Denken Sie vor dem Hintergrund der unterschiedlichen Meinungen zu wichtigen Themen, dass es notwendig ist, dass die EU Entscheidungen hinsichtlich ihrer Außenpolitik auch gegen die Meinungen einiger Mitgliedsstaaten trifft?
Richard Gowan: Einige EU-Mitglieder, insbesondere Ungarn, aber in gewissem Maße auch andere wie Griechenland, haben die Einheit der EU untergraben oder halten den Rest der EU als Geisel, indem sie sehr strenge Maßstäbe in der EU-Koordinationsprozedur beispielsweise hinsichtlich der Begrenzung liberaler Flüchtlingspolitik angelegt haben, wie im Falle Ungarns. Falls einige Mitgliedsstaaten isoliert sind, sollten daher die anderen Mitglieder Einheit zeigen und interne Kohäsion betonen. Wenn wir jedoch in Sachen überstaatlicher Außenpolitik zu schnell handeln, werden wir schon recht bald eine Zersplitterung der EU erleben. Vor 10 oder 20 Jahren haben wir uns auf eine einzige EU-Stimme in außenpolitischen Angelegenheiten bei der UNO zubewegt, aber heute sind wir wegen gewisser Störfaktoren im System weiter von diesem Ziel entfernt.
The New Federalist: Großbritannien wird oft zumindest im Bereich der gemeinsamen Außenpolitik als ein solcher Störfaktor gesehen. Ist im Brexit-Kontext der Status eines vollwertigen Mitglieds einschließlich aller Rechte für die EU in der Generalversammlung wahrscheinlicher?
Richard Gowan: Wenn das Vereinigte Königreich die EU verlässt, wird ein großer Blockierer einer einheitlichen Außenpolitik verschwinden. Nichtsdestotrotz ist das Vereinigte Königreich für die EU auch eine Quelle der Einheit gewesen, indem es z.B. in Sachen Menschenrechte zwischen dem progressiven Norden und dem restriktiven Osten vermittelt hat. Aus diesem Grund erleichtert der Brexit manchmal das Finden einer gemeinsamen Position, er erschwert es jedoch in anderen Angelegenheiten. Trotzdem denke ich, dass die EU keinen Status in der Generalversammlung erreichen wird, der ihrer Position bei der Welthandelsorganisation ähnelt. Für eine einzige Stimme in Angelegenheiten der Generalversammlung sind die Unterschiede zwischen den EU-Mitgliedern zu groß. Außerdem bleibt der Wille der Mitgliedsstaaten, ihre Unabhängigkeit zu bewahren, ein zentrales Hindernis.
„Es wäre ein Fehler, zu versuchen, eine künstliche vereinigte EU zu schaffen.”
The New Federalist: Ist es trotzdem wünschenswert, dass die EU ein vollberechtigtes Mitglied in der Generalversammlung oder sogar ständiges Mitglied des Sicherheitsrates wird?
Richard Gowan: Die Delegation der EU wird innerhalb der Generalversammlung ziemlich effektiv und auch in den UNO-Strukturen in Genf wird sie zu einem handlungsfähigeren Akteur. Vor dem Hintergrund, dass die Diplomaten der EU erfolgreiche und konstruktive Multilateralisten sind, ist der Einsatz der EU in UNO-Angelegenheiten positiv, vor allem in Hinblick auf ihren Einsatz in humanitären Angelegenheiten. Ein gemeinsamer Sitz wäre trotzdem nur mit einer kohärenten Basis der Außenpolitik möglich, von der die EU immer noch recht weit entfernt ist. Eine künstliche vereinigte EU wäre ein Fehler.
Was den UN-Sicherheitsrat angeht, so ist das Konzept, dass die Franzosen ihren Sitz für mehr Koordination mit anderen Ländern und Austausch des Personals europäisieren, attraktiv. Vor allem in Zeiten von Brexit sollte Frankreich andere EU-Mitglieder in seine UN-Diplomatie einbinden. Trotz dieses Einsatzes fühlt sich Frankreich nicht dazu gezwungen, EU-Positionen zu vertreten. Ein einziger Sitz im Sicherheitsrat ist sogar noch unwahrscheinlicher und mindestens zwei Reformrunden entfernt. Sofern es nicht zu massiven geopolitischen Veränderungen mit weitreichenden Auswirkungen kommt, ist ein europäischer Sitz nicht sehr wahrscheinlich.
„Ich will eine stärkere Präsenz der EU bei der UNO sehen.”
In der Theorie ist ein europäischer Sitz in der Generalversammlung wünschenswert, in diplomatischer Praxis wird die Einheit der EU jedoch von Ungarn und anderen Ländern auf die Probe gestellt. Nichtsdestotrotz will ich eine stärkere Präsenz der EU im UNO-System sehen, weil die EU großer Hilfeleister und humanitärer Akteur ist, was einen größeren Einfluss auf die Gestaltung der Politik hätte, wenn diese einheitlicher wäre. Dies könnte durch einen einzigen Sitz erreicht werden, aber da dies unwahrscheinlich ist, wäre es im Augenblick für einige EU-Mitglieder besser, Koalitionen zur Verteidigung mehrheitlicher europäischer Schlüsselwerte zu bilden.
The New Federalist: Vielen Dank, dass Sie sich die Zeit genommen haben.
Über Richard Gowan
Richard Gowan ist Forschungsleiter am NYU Center on International Cooperation und Policy Fellow am European Council on Foreign Relations. Er ist außerdem Hauptherausgeber des Annual Review of Global Peace Operations und hat über die Rolle der EU bei Staatenbildung, die Kooperation zwischen der EU und der UNO sowie multilaterale Menschenrechtsdiplomatie geschrieben. Er hat für mehrere Zeitungen, Webseiten und wissenschaftliche Zeitschriften geschrieben und verfasst die wöchentliche Kolumne „Diplomatic Fallout“. Derzeit arbeitet er an einem Buch über die internationale Antwort auf den Syrienkonflikt und Lehren für zukünftige Krisenmanagementinitiativen.
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