Brief an Europa: Giulio Regeni

, von  Cristina Bettati

Brief an Europa: Giulio Regeni
In dieser Woche geht treffpunkteuropa’s „Brief an Europa“an den ermordeten Studenten Giulio Regeni. Foto: Regione Umbria News - Agenzia informazione istituzionale Assemblea legislativa / Flickr / Attribution 2.0 Generic (CC BY 2.0)

Der Brief an Europa ist die Sonntagskolumne von treffpunkteuropa.de. Er richtet sich an Menschen, die nach Meinung der Autoren im europäischen Rampenlicht stehen sollten. In dieser Woche geht er an den ermordeten Studenten Giulio Regeni.

Lieber Giulio,

641 Tage sind vergangen, seitdem deine Leiche am Stadtrand von Kairo aufgefunden wurde.

Seit 641 Tagen hängen die Banner „Verità per Giulio Regeni“ (ins Deutsche: Wahrheit für Giulio Regeni) an den Fassaden vieler italienischer Rathäuser, Schulen, Universitäten und Bibliotheken.

Aber je mehr die Zeit vergeht, desto leerer erweisen sich diese Worte.

Das ärgert mich richtig.

Nicht nur ärgere ich mich, weil dein Mord nach fast zwei Jahre ungelöst zu bleiben scheint. Sondern ärgere ich mich auch, weil diese Tatsache immer weniger Leute ärgert. Nach der ersten Welle Empörung europa- und weltweit haben unsere Politiker offensichtlich davor kapituliert, die Wahrheit über dein grausames Schicksal zu fordern.

Was ist mit Europa los? Was ist mit uns los?

28 Jahre alt. Ein internationaler Freundeskreis. Absolvent in Arabisch und Politikwissenschaften an der Universität Leeds. Ein Praktikum für die Organisation der Vereinten Nationen für industrielle Entwicklung in Kairo. Doktorand in Entwicklungsstudien am Girton College der Universität Cambridge. Eine Leidenschaft für ferne Kulturen und Sprachen. Eine Fernbeziehung über Skype.

Giulio… du hättest meinen Freund, meinen Bruder sein können. Du hättest ich sein können.

In Kairo warst du um das Thema deiner Doktorarbeit - der Geschichte und Strukturen unabhängiger Gewerkschaften in Ägypten - zu forschen.

Du wurdest ausspioniert, und von deinen engsten Kontakten betrogen. Am Abend des 25. Januars 2016 wurdest du entführt, vier Tage lang geschlagen, verbrannt, erstochen und gepeitscht. Schließlich haben dich diese Biester durch Genickbruch ermordet.

Nach der Auffindung deiner Leiche am 3. Februar 2016 haben sowohl ägyptische Behörden als auch die internationale Presse jeden möglichen Unsinn über dich gesprochen: Regeni sei homosexuell gewesen und von einem eifersüchtigen Liebhaber getötet worden. Er sei drogensüchtig gewesen, oder noch ein Spielball in den Händen der Muslimbrüder. Zuletzt warst du sogar ein Agent der CIA oder der britischen M.I.6.

Im Versuch Ägyptens, den Fall so früh wie möglich abzuschließen, wurden am 24. März 2016 fünf Mitglieder einer kriminellen Bande von ägyptischen Sicherheitskräften getötet. Die fünf Straftäter hätten für deinen Tod verantwortlich sein sollen. Deine persönlichen Gegenstände wurden in der Wohnung eines der Verdächtigen gefunden.

Natürlich eine Farce. Die erste der vielen, die von Ägypten noch kommen würden.

In all diese Bosheit ist nur noch einiges klar: Dein europäischer Pass hat dich in Ägypten nicht geschützt. Und leider scheint er dir auch in Europa nicht weiterzuhelfen.

Ägypten ist ein wertvoller Verbündeter Europas im Kampf gegen ISIS und die Migrationsströme. An einer guten Beziehung zwischen Europa und Ägypten hat auch der italienische Mineralöl- und Energiekonzern ENI ein großes Interesse. In Ägypten besitzt nämlich der Konzern zwei große Erdgasvorkommen: Nooros - aktiv seit 2015 - und Zohr, welches seine Produktion Ende dieses Jahres beginnen sollte.

Vielleicht deswegen hat sich am 14. August 2017 die italienische Regierung dafür entschieden, seinen Botschafter in Kairo wieder zu schicken. Seit April 2016 war nämlich der italienische Botschafter aus Protest gegen die mangelnde Mitarbeit Ägyptens von Kairo abwesend. Natürlich sind deine Eltern – starke vorbildliche Menschen - von der Nachricht der Rückkehr des Botschafters verletzt worden. Sie wollen dich aber auf keinen Fall im Stich lassen und setzen die Untersuchungen privat weiter.

Nicht nur Italien verursacht aber große Enttäuschung. Im April 2017 wurde Ägyptens Präsident Al-Sisi von US-Präsidenten Trump mit besonderen Nachdruck in Washington begrüßt. Und das trotz der Tatsache, dass genau das US-Außenministerium zusammen mit dem Weißen Haus kurz nach deiner Auffindung der italienischen Regierung bewiesen hatten, dass die ägyptische Regierung der Umstände deines Mords voll bewusst war – wie in der letzten ausführlichen Reportage von The New York Times lesen kann.

Vielleicht noch schmerzhafter ist, dass auch unsere EU-Mitgliedstaaten lieber vorziehen, den Blick von deinem Schicksal abzuwenden. Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel hat im März 2017 Al-Sisi besucht, auf dem Tisch war aber nur ein neuer Flüchtlingsdeal. Am 23. Oktober war Al-Sisi beim französischen Präsidenten Macron. Während der Pressekonferenz wurde dein Name erwähnt, Macron hat aber geantwortet, dass er anderen Staaten keine Lehren erteilen wolle, weil er an die Souveränität jedes Staates glaube. Al Sisi habe eine Herausforderung vor sich, sprich die Stabilität im Land und die Terrorismusbekämpfung. Das sei der Kontext, in dem er regieren müsse, und das sollten wir Europäer nicht übersehen.

So eine Stellungnahme macht mir einfach wütend. Warum reagiert die Europäische Union nicht stark dagegen? Nicht zuletzt auch weil das Benehmen Merkels und Macrons gegen die Entschließung des Europäischen Parlaments vom 10. März 2016 zu Ägypten, insbesondere dem Fall Giulio Regeni stoßt. Darin werden alle Mitgliedstaaten aufgefordert, gegenüber den ägyptischen Stellen die gängige Praxis der Verschleppung und Folter zur Sprache zu bringen und auf eine wirksame Reform des Sicherheitsapparats und der Justiz Ägyptens zu dringen. Lieber Giulio, du warst ein richtiger Sohn Europas.

Einen Sohn darf man nie vergessen.

Ich tue es nicht.

Cristina

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