Claudia Gamon: „Ein föderales Europa war noch nie so zum Greifen nahe.“

, von  Bastian De Monte

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Claudia Gamon: „Ein föderales Europa war noch nie so zum Greifen nahe.“
Claudia Gamon, liberale Spitzenkandidatin in Österreich. Foto zur Verfügung gestellt von NEOS.

Im Zuge der Europawahl interviewen Treffpunkt Europa und seine Schwesterausgaben unterschiedliche Kandidat*innen aus verschiedenen EU-Staaten. The New Federalist traf Claudia Gamon, die Spitzenkandidatin der österreichischen Partei NEOS. Die 30-Jährige war während ihres IBWL-Studiums in der Hochschulpolitik aktiv und sitzt seit 2015 im österreichischen Parlament. Mit ihrer Partei tritt sie offen für die Vereinigten Staaten von Europa ein – und das in einem Land mit einem zuletzt eher europakritischen Kurs.

Mit TNF sprach sie über die europäische Dimension dieser Wahlen, die großen Herausforderungen der EU sowie das Dasein als Jungkandidatin.

TNF: NEOS tritt hier in Österreich an mit der Idee der Vereinigten Staaten von Europa, kannst du diese Vision vielleicht kurz umreißen?

Bei den Vereinigten Staaten von Europa handelt es sich um eine langfristige Vision – wobei es natürlich auch Dinge gibt, die wir gerne früher erledigt haben wollen. Grundsätzlich beschreibt das unsere Vision eines föderalen europäischen Bundesstaats, der in den wesentlichen Bereichen stärkere europäische Kompetenzen hat, etwa in der Verteidigung, aber auch eine verstärkte Zusammenarbeit im Bereich Wissenschaft und Forschung – oder im wesentlichsten Bereich: der europäischen Demokratie.

Könntest du vielleicht ganz kurz die aktuelle politische Situation in Österreich umreißen? Wie behauptet ihr euch als kleine Oppositionspartei?

Österreich ist historisch gesehen immer schon euroskeptischer gewesen. Aber ich wage zu behaupten, dass dies auch eine Generationsfrage ist und dass die Jüngeren wesentlich proeuropäischer sind.

Bis zu einem gewissen Grad ist eine gewisse Unzufriedenheit aber auch gerechtfertigt, da die Funktionsweise der europäischen Politik in vielen Bereichen einfach vorgefertigte Frustration bedeutet. Denn die EU kann mit dem Einstimmigkeitsprinzip zum Beispiel nie die Digitalsteuer einführen. Es wird immer mindestens ein zwei Länder geben, die das blockieren, und da verstehe ich schon wenn die Bürger*innen sagen: „Was soll das?“ – wenn wir nicht einmal in den wesentlichen Fragen vorankommen. Wir müssen die EU wirklich handlungsfähiger machen.

Eure Antwort auf Europakritik wäre also die Flucht nach vorne, ein radikaler Umbau der EU und ihrer Institutionen. Eine der Forderungen, wie gerade angesprochen, ist die Abschaffung der Einstimmigkeit. Gibt es Bereiche, in denen diese bleiben kann?

Ich kann mir vorstellen, dass dies in einem Bereich bleiben sollte: der Aufnahme eines neuer Mitglieder.

Auch im Bereich der Vertragsreform, neben EU-Erweiterung aus EU-Austritt quasi eine Frage auf Verfassungsebene?

Grundsätzlich würde ich im Zuge der nächsten Vertragsänderung eher einen Verfassungskonvent einberufen, sodass wir endlich eine richtige europäische Verfassung haben. Und schlussendlich werden Verfassungen ja eigentlich mit Zweidrittelmehrheiten beschlossen und geändert.

À propos Austritt: Was sagst du zu den neuesten Brexit-Entwicklungen?

Gerade beim Brexit muss die EU auch einmal sagen, wann die Geduld ein Ende hat, weil der Grund. Mit ein Grund, warum das alles so lange dauert und die EU seit fast 3 Jahren lähmt, ist ja, dass die Briten sich nicht einig sind, was sie wollen. Und darum muss auch hier einmal ein klarer Schlussstrich gezogen werden. Die Unsicherheit bedeutet ja auch einen volkswirtschaftlichen Schaden für alle Beteiligten und hält die gesamte Union davon ab, sich anderen wichtigen Themen widmen zu können.

EIn Thema, das zuletzt viel Aufmerksamkeit erhielt, war die Idee einer europäischen Arme. Ihr unterstützt diese Forderung, obwohl Österreich ja von seiner Verfassung her ein neutrales Land ist. Wie reagieren die Leute darauf?

Ich muss sagen, dass es mich eigentlich überrascht, wie gut das ankommt. Ich hätte mir erwartet, dass man hier ein bisschen mehr Überzeugungsarbeit leisten muss. Es ist aber für viele Menschen klar, dass es sinnvoll ist. Wir haben schließlich alle ein großes Sicherheitsbedürfnis und wir haben auch das Bedürfnis zu wissen, dass unsere europäischen Freiheiten und unsere Demokratie gesichert sind, und dass in ganz europa die besten Profis an der Verteidigung unserer Union arbeiten.

Wie siehst du die zukünftigen Beziehungen Europas mit anderen globalen Playern?

Sehr selbstbewusst. Europa muss eine stärkere außenpolitische Stimme haben und da ist die Einstimmigkeit ist einfach ein Hindernis. Und ich glaube, dass Europa seine Werte auch nach außen hin vertreten muss und nicht für jeden gute Deal schweigen sollte.

Angesichts der aktuellen amerikanischen Politik sollte die EU eine starke Stimme für Freihandel und Multilateralismus sein. Hinsichtlich China sollten wir unsere Stimme gegen totalitären Überwachungsstaat und alle anderen Menschenrechtsverletzungen erheben. Und speziell im russischen Fall sollten wir gegen die Beeinflussung unserer Wahlen sowie Völkerrechtsverletzungen, die vielleicht nicht auf EU-Territorium, aber nichtsdestotrotz europäischem Boden passieren, aufstehen.

Hätte dieses selbstbewusstere Europa auch Steuerkompetenz?

Ja, unbedingt! Wobei das kein ’entweder/oder’ sein soll. Wir sind der Meinung, dass die EU selbst Steuern einheben soll, wo es denn sinn macht, um eben auch echte Eigenmittel zu haben, die nicht nur aus Zolleinnahmen bestehen. Aber sonst soll die europäische Kompetenz in Steuerfragen eine koordinierende sein, zum Beispiel die Digitalsteuer auf den Weg bringen oder EU-weite CO22-Steuer. Ansonsten sollen die Mitgliedstaaten aber weiterhin ihre Steuerpolitik gestalten können, da auch das ein wichtiger Aspekt in puncto Wettebwerbsfähigkeit ist.

Hier unterscheidet ihr euch ein wenig von eurer deutschen Schwesterpartei FDP. Generell gab es ja ein paar Themenfelder, in denen die liberale ALDE-Fraktion im Europaparlament keine einheitliche Linie fuhr. Was ist denn dein Zugang etwa zum Thema „Artikel 13“?

Ich bin da vehement dagegen. Man muss das Urheberrecht natürlich im Sinne des 21. Jahrhunderts gestalten, aber der weg über Uploadfilter ist einer, der eine Zensurinfrastruktur in Europa installiert und schlichtweg eine verkehrte Güterabwägung darstellt. Die Freiheit des Einzelnen im Internet sollte im Vordergrund stehen und da wäre es ausreichend gewesen, das Notice-and-take-down-System aufrechtzuerhalten, denn die anderen Punkte der Reform bringen eh schon wesentliche Verbesserungen. Deshalb war das für mich eher ein Zeichen, dass das Europaparlament voll mit Leuten ist, die keine Ahnung vom Internet haben.

Das andere kontroverse Thema für Liberale ist der Klimawandel. Wie bewertest du die Fridays for Future-Märsche?

Ich finde das super. Es ist ja nicht nur unsere Parteichefin, trotz Babypause, sondern auch viele andere Mitglieder von Anfang an bei den Demos dabei gewesen. Wofür sollte man denn sonst auf die Straße gehen, wenn nicht das Ende der Welt?

Bleiben wir gleich bei der ALDE. Wie bewertest du Team Europe bzw. dass man verabsäumt hat, eine/n Spitzenkandidat*in zu nominieren?

Ich finde es letztlich voll okay, wie die ALDE sich entschieden hat, das zu machen. Man muss sich nichts vormachen, das Spitzenkandidatensystem ist auch nur eine Show, die vordergründig die EVP begünstigt. Und wenn die sich am Ende im Europäischen Rat anders entschieden jemand anderen vorschlagen, dann werden wir am Ende auch damit leben müssen. Das einzig Konsequente wäre es, den oder die Kommissionspräsident*in direkt zu wählen und diese ganze Farce abzuschaffen.

JEF hingegen setzt sich für ein parlamentarisches System ein. Was ist dein Argument für die Direktwahl?

Ich halte es für einfach ein wichtiges Symbol. Wir müssen uns bemühen, die europäische Öffentlichkeit zu stärken, und die direkte Wahl des Präsidenten/der Präsidentin wäre ein wichtiges Symbol für eine stärkere Identifikation mit der europäischen Politik.

Sozusagen das eine oder eben das andere Gesicht, klar die eine oder eben andere Politik, zu wählen?

Ja – vor allem, sodass dann am Ende nicht irgendwelche charismabefreiten Apparatschiks aufgestellt werden.

Ist Team Europe in eurer nationalen Kampagne präsent?

Wir hatten die Transportkomissarin Violeta Bulc bei unserem Wahlkampfauftakt präsent, auch Katalin Cseh von Momentum. Das war wirklich cool und hat allen Anwesenden richtig gefallen und die Möglichkeit gegeben, sie kennenzulernen. Es ist einfach ein tolles Gefühl, Mitstreiterinnen aus anderen EU-Ländern dabei zu haben und zu sehen, dass wir wirklich einen europaweiten Wahlkampf führen als liberale Parteienfamilie.

Habt ihr auch Wahlkampf außerhalb Österreichs gemacht?

Wir sind tatsächlich auch über die Grenzen gefahren. Wir waren in Bratislava bei Progressive Slovakia, die ja auch die neue Präsidentin stellen, haben dort dann auch mit dem Listenersten und -zweiten geplaudert und uns darüber unterhalten, wie es ihnen geht, da ja gerade auch in der Slowakei die Wahlbeteiligung besonders niedrig ist und die Bevölkerung auch hier besonders europaskeptisch ist.

Wir waren auch in Budapest bei Momentum, um auch dort mitzuhelfen und Input zu holen, zu hören , wie die Realität eines Wahlkampfes als progressive Oppositionspartei dort ist – und man kann es sich in Österreich kaum vorstellen: Es gibt keine Möglichkeiten, Plakate zu affichieren, es existieren kaum mehr Oppositionsmedien, man ist extrem eingeschränkt, was Aufritte im Fernsehen betrifft, es gibt eine große Hürde an Unterschriften, um überhaupt antreten zu dürfen, das Versammlungsrecht ist eingeschränkt. Das sind alles Dinge, die man sich in einem Mitgliedsland der EU nicht vorstellen kann.

Themenwechsel: Mit 30 wirst du eine von wenigen jungen Europarlamentarier*innen sein. Wie bist du denn in der Politik überhaupt aktiv geworden? Und wie kommt das an, auf der Straße, bei den Mitbewerbern?

Ich bin’s lange so gewohnt, ich war immer jung in der Politik (lacht). Vor 10 Jahren habe ich mich bei den Jungen Liberalen gemeldet, weil ich unbedingt den liberalen Gedanken in Österreich stärken wollte und mich einfach engagieren wollte. Und ich merke, dass das Alter für die meisten Leute gar kein Thema ist eigentlich. Man merkt halt einfach den Unterscheid in diesem Wahlkampf, weil ich in diesem Fall die einzige Frau bin und meine Kollegen alle wesentlich älter sind. Ich glaube aber auch, sehr authentisch sagen zu können, dass ich wirklich eine Generation vertrete, die Europa anders sieht – nicht so sehr als eine Art Projekt, sondern als Lebensgefühl.

Gab’s einen Punkt in deinem Leben, als du dich zum ersten Mal als Europäerin gefühlt hast?

Ich glaube, schon immer. Ich habe mir nie groß darüber Gedanke gemacht, ich fühle mich einfach als Europäerin, Vorarlbergerin, Österreicherin.

Eine letzte Nachricht an unsere Leserinnen und Leser?

Dass das „federal Europe“ gar nicht so weit entfernt ist. Ich glaube, es war noch nie so zum Greifen nahe, weil es einfach tagtäglich so viele Menschen gibt, die für den Gedanken offen werden.

The New Federalist is the web magazine of The Young European Federalists (JEF), a non-partisan youth NGO with over 13,000 members active in more than 35 countries. Founded in 1972, the organisation strives towards a federal Europe based on the principles of democracy, subsidiarity and rule of law. JEF promotes true European citizenship, and works towards more active participation of young people in democratic life. JEF is a transpartisan organisation and is not a political party: it is not running in the European elections but campaigns to make European citizens aware of the elections and their stakes.

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