Jeder hat das schon erlebt. Gerade in Beziehungen ist der Trick ganz beliebt. Wenn dir Vorwürfe gemacht werden, weise sie zurück, zeige mit dem Finger auf dein Gegenüber und sage, dieser sei doch viel schlimmer und habe außerdem angefangen. Was sich zwischen Geschwistern und Ehepartnern abspielt, ist auch gerade im deutsch-türkischen Verhältnis zu beobachten.
Von „im wahrsten Sinne des Wortes faschistischem Vorgehen“ sprach zuletzt Justizminister Bozdag im Hinblick auf seinen verhinderten Auftritt in Gaggenau. Was Faschismus im Wortsinne heißt, interessiert dabei nicht. Genauso wenig interessiert der Fakt, dass es nicht die Bundesregierung war, die Veranstaltungen mit türkischen Ministern abgesagt hat. Es waren die Gemeinde Köln, die Gemeinde Gaggenau sowie ein privater Betreiber in Frechen, der einfach keine politischen Veranstaltungen in seinem Saal möchte. Die Gemeinde Köln hatte die Veranstaltung abgesagt, weil die AKP-nahe Union der Europäisch-Türkischen Demokraten (UETD) eine „Theateraufführung“ statt des Ministerbesuches angemeldet hatte. Zentralgewalt in einem faschistischen System sieht anders aus. Der Föderalismus ist ja auch eine Schlussfolgerung aus dem Faschismus. Aber Fakten sind egal.
Grünen-Politiker Jürgen Trittin hatte zuletzt in einer Talkshow einem Vertreter der UETD nahe gelegt, er solle sich überlegen, warum Historiker lieber von der „Machtübergabe“ statt der „Machtübernahme“ 1933 sprechen. Die Märzwahlen 1933 dienten den Nationalsozialisten zur Legitimation ihrer Macht und wurden unter Einfluss von Repressionen und Propaganda durchgeführt. Ein Hinweis, der uns der Frage, was „Faschismus im Wortsinne“ ist, näher bringen würde. Aber Fakten sind egal. Der AKP-nahe Lobbyist antwortete gleichermaßen gelassen wie gerissen: Den Vergleich mit Hitler finde er sehr hart.
Das Feld für gegenseitige Schuldzuweisungen war damit eröffnet. Nach dem Faschismusvorwurf kommt bekanntlich keine Diskussion, die auf Verständigung ausgelegt ist. Wer einmal den Hitler-Vergleich auspackt oder seinem Gegenüber einen Hitler-Vergleich vorwirft, gibt eine klare Botschaft: Wir müssen jetzt nicht mehr sachlich diskutieren! Nicht im deutsch-türkischen Verhältnis, nicht in unseren Gemeinden, nicht in den deutsch-türkischen Familien, nicht dort, wo es so wichtig wäre. Wir können uns stattdessen auf Internetportalen heiser schreien.
Wie schon bei der Inhaftierung von Deniz Yücel laufen wir Gefahr, auf die politische Kommunikation der AKP-Regierung und ihrer Ableger in Europa reinzufallen. Ging es im Fall Deniz Yücel um einen fairen, nicht politisierten Prozess? Wohl kaum, wenn der Haftrichter aus dem Tatbestand „über Terrorismus schreiben“ kurzerhand „Unterstützung des Terrorismus“ macht. Geht es diesmal um einen Auftritt in den kleinen Ortschaften Frechen und Gaggenau?
Es geht nicht um Gaggenau und Frechen, es geht um politische Kommunikation
Es ist unerheblich, ob einer der beiden türkischen Minister zuletzt in Deutschland einen Saal findet oder nicht. Wahlberechtigt für das Referendum am 16. April sind in Deutschland 1,4 Millionen Menschen. Umfragen deuten auf ein knappes Wahlergebnis hin. Manche Umfragen sehen gar das Nein-Lager vorne. Die Regierung Erdogan zielt für die Umgestaltung des politischen Systems aber sicherlich nicht auf eine knappe, sondern eine deutliche Mehrheit. Dafür muss sich auch die Stimmung unter den Wahlberechtigten in der Türkei drehen.
Für die Stimmung in der Türkei lassen sich sowohl der Fall Yücel als auch die verhinderten Auftritte der Minister nutzen. Es ist eine alte Regel in der Politik, dass sich Zustimmung zu einer Politik der harten Hand am besten gewinnen lässt, wenn die Regierung von einer Bedrohungen von außen warnt. Ob die Bedrohung echt ist, ist egal. Das funktioniert in Putins Russland ebenso gut wie in Erdogans Türkei. Und unter Rechtspopulisten hierzulande funktioniert das Prinzip Angst vor dem Fremden erst recht. Zuerst waren es die USA, denen Premier Erdogan nahelegte, sie wären an dem Putsch beteiligt gewesen. Nun soll es die Bundesregierung sein, die die Türken in Deutschland drangsaliert und „keine starke Türkei wolle“. Von Gülen zu Gaggenau. Überall nur Feinde.
Deniz Yücels Haft ist eine Warnung an die Türken, nicht an die Deutschen. Die AKP verbreitet die Botschaft, man könne mit den abgehobenen Intellektuellen aus Deutschland so umspringen. Die traurige Wahrheit ist, eine politische Justiz kann mit jedem Türken so umspringen.
Nach der Absage von Veranstaltungen mit Vertretern der türkischen Regierung steht dem deutsch-türkischen Verhältnis eine lange Kette von Beschuldigungen bevor. Die Wochen bis zum Referendum werden in der deutsch-türkischen Gemeinschaft vermutlich damit zugebracht, sich missverstanden zu fühlen, mit dem Finger aufeinander zu zeigen und laut „selber undemokratisch!“ zu schreien. Dabei steht zu befürchten, dass die meisten lediglich eines interessiert: dass sie am Ende recht haben. Uninteressant dagegen, was eigentlich jeweils unter Demokratie verstanden wird: Unabhängigkeit der Presse und Justiz auf der einen Seite, Volkswille und charismatische Führungspersönlichkeiten auf der anderen Seite.
Die letzten Äußerungen Präsident Erdogans, dass Yücel ein Spion sei, folgen offensichtlich dem gleichen Schema. Die Meldung, dass die Bundesanwaltschaft wegen Spionage durch Imame der DITIB ermittelt ist kaum verklungen, da wird auch schon zum verbalen Gegenschlag ausgeholt. Wieder der vorwurfsvolle ausgestreckte Finger: selber Spion! Die Fakten sind egal. Der WELT-Korrespondent würde es vermutlich mit seinem wunderbaren Humor so ausdrücken: Deniz Yücel. Größter Spion wo gibt.
Spaltung der Deutsch-Türkischen Community
Die Deutschtürken sind in einer sehr schweren Situation. Mehr noch als zuvor leben sie in zwei Welten. Schaut man allein auf das politische System, wie es derzeit in Deutschland und in der Türkei funktioniert habe ich manchmal den Eindruck, es gehe um einen Spagat zwischen dem Parlamentarismus des 21 Jahrhunderts und dem Herrschertum des 19. Jahrhunderts. Was die politische Kommunikation angeht kennt die AKP freilich alle Tricks des modernen Marketings.
Wenn wir eins aus den Erfolgen des Populismus gelernt haben sollten, ist es die Tatsache, dass es den meisten Menschen um die Bestätigung ihrer Gefühle geht, nicht um die Bestätigung von Fakten. Wir glauben demjenigen, mit dem wir uns emotional verbunden fühlen. Mit Erdogan fühlen sich viele verbunden. Mit der Türkei, die dem Putschversuch getrotzt hat sowieso. Mit den deutschen Abgeordneten und Journalisten mit türkischen Wurzeln gleich viel weniger. Fakten sind dabei egal.
Die Deutsch-Türken mögen vielfache Gründe haben, sich in Deutschland als Opfer zu fühlen. Die Erfahrung von Benachteiligung im Berufsleben, ausländerfeindliche Sprüche und Anfeindungen fügen sich zu dem allgemeinen Eindruck zusammen, in Deutschland Bürger zweiter Klasse zu sein. Nach wie vor sind es Zuwanderer und ihre Nachkommen, die in Deutschland ranklotzen und Arbeiten verrichten für die sich andere zu schade sind. Die türkische Regierung, die AK-Partei und ihnen nahestehende Organisationen in Deutschland wissen dieses Gefühl für sich zu nutzen. Im konkreten Fall hat jedoch niemand einen Grund sich wegen der Entscheidungen der Gemeinden Köln und Gaggenau sowie des Saalbetreibers in Frechen als Opfer undemokratischer oder gar faschistischer Repressionen darzustellen.
„Dann werde ich von Haus zu Haus gehen“, hatte der Wirtschaftsminister gesagt, als ihm der Auftritt in Köln verwehrt wurde. Klingt gut. Guter Typ. Nah bei den Leuten. Aber mal ehrlich. Das Versprechen des Wirtschaftsministers bei deutsch-türkischen Familien von Haus zu Haus zu gehen ist genauso unwahrscheinlich wie die Annahme, Präsident Erdogan quartiere Menschen aus der Istanbuler Vorstadt in den 1100 Zimmern seines Palastes ein. Währenddessen werden deutsch-türkische Abgeordnete, die tatsächlich nah bei den Leuten sind und ihr Bürgerbüro vor Ort haben von türkischen Nationalisten bedroht. Sind diese einfachen Fakten egal?
Es steht zwei zu null für Erdogan. Zum einen sorgen die letzten Ereignisse genau für die Aufmerksamkeit, die für die Mobilisierung der Wähler vor dem Referendum notwendig ist. Zum anderen setzt sich eine Polarisierung sowohl in der Türkei als in der Diaspora durch, die dem „Ja-Lager“ nur nützen kann. Polarisierung ist nicht mehr der faire Wettstreit zwischen zwei gegensätzlichen Positionen. Polarisierung ist das Aufspalten der Bevölkerung in feindliche Lager, die nicht mehr miteinander diskutieren. Diese Spaltung möchte ich mir für die deutsch-türkische Gemeinschaft nicht wünschen.
Kehren wir noch einmal zu dem Bild vom Anfang zurück. Stellen wir uns die deutsch-türkischen Beziehungen tatsächlich als eine Beziehung vor. Wie jeder aus privater Erfahrung weiß, gibt es nichts Schwierigeres als in einem Streit einzuräumen, dass der Andere Recht hat. Gegenseitige Schuldzuweisungen in einem Streitgespräch können aber nur dann beendet werden, wenn einer der Partner einräumt, einen Fehler gemacht zu haben, eine Situation falsch eingeschätzt zu haben oder auch nur, über eine Sache noch einmal nachzudenken. Ein Umdenken könnte anfangen mit einfachen, nicht ironischen Sätzen, wie „darüber muss ich noch einmal nachdenken“ oder auch „ich glaube du hast recht.“ Durch jede weitere Zuspitzung werden solche Momente unwahrscheinlicher.
Fehler einräumen ist immer schwierig. Schmollen und sich als Opfer fühlen dagegen sehr leicht.
Das einzige Opfer des Falls Deniz Yücel ist Deniz Yücel
Es wird darüber diskutiert, ob Deniz Yücel ein Terrorist sei, weil er über Terrorismus schrieb. Sehr abstrakt. Sehr allgemein. Nicht am konkreten Einzelfall interessiert. Genau das sollte Justiz nicht sein. Aber für Deniz Yücel gelten diese Grundsätze nicht, weil er den türkischen Pass hat. Seine Haft ist eine Warnung an die Türken, nicht an die Deutschen. Die AKP verbreitet die Botschaft, man könne mit den abgehobenen Intellektuellen aus Deutschland so umspringen. Die traurige Wahrheit ist, eine politische Justiz kann mit jedem Türken so umspringen.
Das einzige konkrete Opfer des Falls Deniz Yücel ist Deniz Yücel. Dieser kann mehrere Jahre in Untersuchungshaft festsitzen. Gefängnismauern sind sehr konkret. Wer wissen will, wie sie konkret aussehen, der kann Yücels Haftprotokoll in der WELT nachlesen. Wer dies tut, macht die erstaunliche Entdeckung, dass Yücel gar nicht daran denkt, sich selbst zu bemitleiden. Er bedankt sich sogar bei den Polizisten für eine Zigarette vor dem Gerichtssaal, für die respektvolle Ansprache als Deniz Bey unter den Mitgefangenen, für die Unterstützung in der deutsch-türkischen Community.
Wenige diskutieren dieser Tage offen und ruhig. Viele fühlen sich in ihrem Stolz verletzt, ergehen sich unter dem hashtag #fuckdeniz in Gewaltfantasien: Deniz Yücel? Kopf ab! Ich wünsche mir mehr von jener Gelassenheit, die ich schon oft an den Menschen in der Türkei bewundert habe. Vielleicht würde es helfen sich mal wieder offline bei einem Glas Tee zusammenzusetzen. Am Schluss eines offenen Gesprächs könnte die Schlussfolgerung heißen: Deniz Yücel? Hut ab!
Der Autor:
Arthur Molt ist weiß und der Sohn deutscher Eltern. Menschen mit türkischen Eltern kennt er nicht so viele. Diese sind an sozialwissenschaftlichen Fakultäten leider unterrepräsentiert. Warum er sich anmaßt mit und über Türken und Menschen mit türkischen Wurzeln zu sprechen? Weil er sich vorstellen kann, dass es hilft miteinander zu sprechen, wenn wir zusammen leben möchten. Er freut sich über inhaltliche Kritik und verspricht darüber nicht zu schmollen.
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