Der Preis der Uneinigkeit - Hat Erdogan die EU in der Hand?

, von  Benedict Heidgen

Der Preis der Uneinigkeit - Hat Erdogan die EU in der Hand?
Kurdische Demonstranten beim EU-Außenministertreffen in Luxemburg (Flickr/Jan Maximilian Gerlach/CC BY-SA 2.0)

Obwohl die Europäische Union die Syrien-Offensive der Türkei scharf verurteilt, blieben europäische Strafmaßnahmen aus. Zu abhängig scheint die Union von der türkischen Regierung, die im Falle von Sanktionen zum wiederholten Male mit dem Senden mehrerer Millionen Geflüchteter drohte. Es ist die anhaltende Uneinigkeit der Mitgliedstaaten in der Asylpolitik, durch welche die Türkei in Nordsyrien von der EU unbehelligt agieren kann.

Die Offensive “bis zum endgültigen Sieg”

Nachdem die Türkei am 09. Oktober ihre Offensive in Nordsyrien gestartet hat, hält seit Freitag mit wenigen Ausnahmen eine auf fünf Tage angelegte Waffenruhe. Für die türkische Seite handelt es sich hierbei jedoch lediglich um eine Pause auf dem Weg zur Errichtung einer Sicherheitszone, in welcher bis zu zwei Millionen syrische Geflüchtete angesiedelt werden sollen. Diese wurde von der USA in den Verhandlungen über die Waffenruhe anerkannt. Im Fokus steht jedoch ebenso die Kurdenmiliz YPG, welche an der Seite der USA gegen den sogenannten Islamischen Staat gekämpft hat, von der Türkei jedoch als Ableger der PKK und damit als Terrororganisation betrachtet wird. Der türkische Präsident Erdoğan scheint daher entschlossen, den Kampf gegen die YPG “bis zum endgültigen Sieg” und “ohne auf Drohungen zu achten” fortzuführen.

Das Agieren der Türkei ist aus mehreren Blickwinkeln heikel. Zum einen könnte das NATO-Mitglied im Falle eines Gegenangriffs die Beistandsklausel einfordern, welche die NATO-Partner verpflichtet, “erforderliche” Maßnahmen, welche von diplomatischer bis hin zu militärischer Unterstützung reichen können, zu ergreifen. Konfrontiert mit der türkischen Armee, haben die Kurden zudem eine Allianz mit Assad geschlossen, welcher an Boden und folglich mit seinen Unterstützern Russland und Iran in der Region an Einfluss gewinnt. Darüber hinaus wird vor einem Erstarken des Islamischen Staates gewarnt, vor allem seitdem 750 IS-Anhänger aus kurdischen Gefängnissen fliehen konnten aufgrund von fehlenden kurdischen Sicherheitspersonal. Schließlich sind seit den Angriffen tausende Menschen verletzt, dutzende Zivilisten ums Leben gekommen und laut UNHCR knapp 200.000 Menschen auf der Flucht.

Gegenmaßnahmen der Europäischen Union wurden nicht beschlossen, was eng mit der Uneinigkeit der Union in Fragen der Migrationspolitik zusammenhängt.

Die europäische Asylpolitik - der ewige Zankapfel

Die Asyl- und Migrationspolitik ist auch heute noch der scheinbar ewige Zankapfel der Europäischen Union, wie ein erneutes Scheitern einer europäischen Verteilungsquote für Geflüchtete zeigt.

Zwar wurden im Laufe der Zeit gemeinsame Standards für Aufnahme und Asylverfahren geschaffen, im Bereich der legalen Zuwanderung dominieren jedoch nationale Regelungen und Interessen, was eine Einigung zu einer gemeinsamen Regelung für Zuwanderung bisher verhindert. Nichtsdestotrotz beschloss der Ministerrat 2015 mit qualifizierter Mehrheit einen europäischen Verteilungsschlüssel für 120.000 Menschen aus Griechenland, Italien und Ungarn, von denen jedoch bisher lediglich rund 32.000 verteilt wurden. Trotz des Scheiterns der slowakischen und ungarischen Klage gegen die Quote, weigern sich weiterhin manche Mitgliedstaaten, Geflüchtete aufzunehmen. Als Konsequenz leitete die Kommission am 15. Juni 2017 ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Ungarn, Polen und Tschechien ein, was mit empfindlichen Geldstrafen enden könnte. Bis zur Entscheidung ist die Seenotrettung auf “ad-hoc-Regelungen” angewiesen.

Die selbstverschuldete Abhängigkeit

Um die Schließung der Häfen für Rettungsboote zu beenden, hatten Deutschland und Frankreich eine neue Initiative angekündigt. Sie erklärten sich bereit, im Rahmen einer Quote unter Beteiligung möglichst vieler EU-Staaten 25% aller Geretteten aufzunehmen. Auf einem EU-Gipfel Anfang Februar lehnten jedoch sowohl Österreich, als auch die Visegrád-Staaten Polen, Tschechien, Slowakei und Ungarn eine freiwillige Aufnahme ab, während sich lediglich ein paar Mitglieder wie Luxemburg, Portugal und Litauen positiv äußerten.

Um diese Uneinigkeit auszugleichen und dennoch auf Fluchtbewegungen zu reagieren, wurde 2016 das EU-Türkei-Rücknahmeabkommen beschlossen. In diesem viel kritisierten Vertragswerk, verpflichtete sich die Türkei, Geflüchtete auf türkischem Festland an der Flucht in die EU zu hindern und bereits übergesetzte Geflüchtete in die Türkei zurückzunehmen. Obwohl sich die Anzahl der in die EU Geflüchteten seit 2015 massiv verringerte, stieg die Zahl erneut seit diesem Jahr an auf 36.000 (32.500 im Jahr 2018), was zu einer massiven Überforderung der griechischen Auffanglager mit dramatischen Zuständen für die Geflüchteten führte. Trotz dieser Umstände und der anhaltenden Kritik hält die EU an dem Abkommen fest, was die Abhängigkeit der Union von der türkischen Regierung fördert und so die Verhandlungsposition dieser stärkt.

„Wir werden die Tore öffnen und 3,6 Millionen Menschen werden zu euch kommen"

Im Laufe der Zeit nutzte der türkische Präsident mehrmals die Aufkündigung des Abkommens, um Forderungen durchzusetzen, zum Beispiel wenn es um die Kritik am türkischen Verfassungsreferendum 2017 geht. In Bezug auf die türkische Syrien-Offensive, stellte Präsident Erdoğan klar: „Hey EU, wach auf! Ich sage erneut: Wenn ihr unsere Operation als Invasion darzustellen versucht, ist unsere Aufgabe einfach: Wir werden die Tore öffnen und 3,6 Millionen Menschen werden zu euch kommen“. Wie erfolgreich dieses Druckmittel eingesetzt wird, zeigt die Reaktion der EU. Zwar verurteilt diese das türkische Vorgehen scharf und Außenminister Maaß kritisierte die Türkei-Offensive als völkerrechtswidrig. Nichtsdestotrotz wurden keine gemeinsamen Maßnahmen gegen die Türkei beschlossen oder auf Konsequenzen für die Beitrittsverhandlungen verwiesen. Obwohl die Türkei stark von Investitionen aus und vom Handel mit der EU abhängig ist, wurde gemeinsamen Maßnahmen wie einem europäischen Waffenembargo eine Absage erteilt. Für eine solche außenpolitische Entscheidung bedarf es der Zustimmung aller Mitgliedsstaaten, welche derzeit unwahrscheinlich erscheint. Maßnahmen sind beschränkt auf einzelne mehr oder weniger koordinierte und effektive mitgliedstaatliche Beschränkungen von Waffenexporten. Vor allem seitdem die USA Sanktionen gegen türkische Minister verhängte, Handelsgespräche beendete, die Zölle auf Stahlimporte auf 50% erhöhte und Trump drohte, „die türkische Wirtschaft vollständig zu zerstören und auszulöschen“ gilt die migrationspolitische Abhängigkeit der EU mittlerweile als Hauptgrund für ihre Zurückhaltung. Die Uneinigkeit der EU in Fragen der Zuwanderung verlangt also einen hohen Preis. Obwohl die EU die türkische Offensive mit ihren vielfältigen Konsequenzen verurteilt, kann sie angesichts der Drohungen der Türkei nur begrenzt aktiv werden. Zu hoch scheint der Preis einer sprunghaften Anzahl von Asylsuchenden für eine Union, die seit 2015 noch immer auf der Suche nach einer Lösung ist, welche ihre interne Funktionalität und externe Unabhängigkeit sicherstellen könnte. So ist die EU nicht vollends in der Hand der türkischen Regierung, hat ihren Handlungsspielraum in der aktuellen Krise jedoch durch die eigene Uneinigkeit stark eingeschränkt.

Um diesen Zustand zu ändern muss die EU handlungsfähiger werden. Angesichts komplexer globaler Krisen ist das Festhalten am Einstimmigkeitsprinzip innerhalb der Europäischen Union kaum mehr zu legitimieren. Es muss durch ein Mehrheitsprinzip, wie der schon üblichen qualifizierten Mehrheit, ersetzt werden, um zukünftig zu verhindern, dass nationale Egoismen und Partikularinteressen über dem europäischen Interesse stehen. Sollte dies nicht geschehen, verweilt die EU im Zweifelsfall in Untätigkeit auf Kosten der Kurdinnen und Kurden in Nord-Syrien und mittel- bis langfristig der europäischen Bevölkerung.

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