Deutsche EU-Ratspräsidentschaft: Was im November passiert ist

, von  Florian Bauer, Julia Bernard, Marie Menke, Moritz Hergl

Deutsche EU-Ratspräsidentschaft: Was im November passiert ist
Foto: European Union / EC - Audiovisual Service, 2020 / Etienne Ansotte / © European Union, 2020 EU-Ratspräsident wartet auf die teilnehmenden Staats- und Regierungschef*innen zum virtuellen Europäischen Rat am 19. November 2020

Die Präsidentschaft Deutschlands im Rat der EU neigt sich so langsam dem Ende zu. Doch bevor im Januar Portugal den Vorsitz übernimmt, schauen die Redakteur*innen aus dem „EU-Politik“-Ressort auf den November zurück: Debatten um Rechtsstaatlichkeit, die Souveränität Europas und den Umgang mit der Corona-Pandemie haben im vergangenen Monat besonders deutliche Konfliktlinien gezeigt.

#1 Rechtsstaatlichkeitsmechanismus: Polen und Ungarn blockieren den EU-Haushalt

Marie Menke, Redakteurin mit Schwerpunkt „Europa erklären“

Die Frage, wie EU-Institutionen und weitere Mitgliedsstaaten Ländern, die rechtsstaatliche Prinzipien missachten, begegnen sollen, ist nicht neu. Im fünften Monat der deutschen EU-Ratspräsidentschaft 2020 kochte sie jedoch erneut hoch: Das Europäische Parlament und der Rat der EU hatten zuvor einen Kompromiss erarbeitet, dem zufolge Gelder aus dem EU-Haushalt zukünftig an das Einhalten rechtsstaatlicher Kriterien geknüpft werden sollen. Beispielsweise das Einschränken der Pressefreiheit könnte demnach durch das Anhalten von Auszahlungen sanktioniert werden. Blockiert wurde der Mechanismus jedoch von der ungarischen und der polnischen Regierung, die daraufhin auch signalisierten, ebenso den am 1. Januar 2021 beginnenden Mehrjährigen Finanzrahmen der EU nicht zu unterstützen.

Besonders skurril: Als die beiden größten Nettoempfänger von EU-Geldern würden Ungarn und Polen ihren eigenen Bürger*innen potenziell hohe Summen vorenthalten, um Druck auf die EU auszuüben und einen Rechtsstaatsmechanismus zu umgehen. Die beiden Regierungen sind also in Erklärungsnot: Polens Justizminister Zbigniew Ziobro argumentierte daher, es ginge bei der Entscheidung darum, ob Polen weiterhin „ein souveränes Subjekt in der EU-Gemeinschaft sei oder politisch und institutionell verklagt würde". Das Narrativ der Gegner*innen des Mechanismus: Er greife zu tief in die nationalen Angelegenheiten der EU-Mitgliedsstaaten ein und zwinge Staaten wie Ungarn und Polen das mit ihrem eigenen nicht zu vereinbarende Rechtsstaatsverständnis anderer Staaten auf.

Auch wenn Parlamentarier*innen immer wieder beteuern, dass der Mechanismus sich nicht gegen einzelne Mitglieder richte, sind Ungarn und Polen doch die prominentesten Akteur*innen in der Diskussion um europäische Rechtsstaatlichkeit. 2019 erklärte die jährliche Studie des Freedom House, einer Nichtregierungsorganisation mit Sitz in Washington D.C., mit Ungarn erstmals ein EU-Mitglied als nur „teilweise frei“. Damals stellte die Studie fest, dass während der Wahl im Vorjahr u.a. die Macht, die die Fidesz-Partei von Ministerpräsident Viktor Orbán auf staatliche Institutionen und Medienhäuser ausübt, die Chancen der Opposition sichtlich beeinflusst habe. In Polen wird außerdem seit geraumer Zeit die Beschränkung der Judikative durch die Exekutive kritisiert. Seitdem die nationalkonservative PiS 2015 an die Macht kam wurden beispielsweise Richter*innen, die der Parteilinie nicht entsprachen, aus dem Richterstand ausgeschlossen sowie Gegner*innen der Regierung von Polizei und Staatsanwaltschaft eingeschüchtert.

Neu ist dies nicht. Dass die Diskussion um eine Antwort der EU ausgerechnet jetzt heikel wird, verwundert jedoch auch nicht: Die Verhandlungen der jeweiligen Mehrjährigen Finanzrahmen zählen zu den Zeitpunkten, an denen maßgeblich an der Ausrichtung der europäischen Politik gearbeitet wird. Ein Mechanismus, der es ermöglicht, Länder, die die Rechtsstaatlichkeit missachten, zu sanktionieren, wäre dabei nicht zuletzt ein Novum. Dass Polen und Ungarn die EU derartig erpressen können, wird jedoch erst durch den Zeitdruck möglich: Nicht nur soll der Mehrjährige Finanzrahmen bereits am 1. Januar 2021 anlaufen. Auch ist er mit dem dringend gebrauchtem Corona-Hilfspaket verbunden. Zahlreiche Parlamentarier*innen haben währenddessen angekündigt nicht nachzugeben. Es ginge um „eine Richtungsentscheidung für die Zukunft der EU“, äußerte sich beispielsweise Jens Geier (S&D) gegenüber dem Tagesspiegel.

#2 US-Wahlen: Neue Partnerschaft und neue Deals

Julia Bernard, Redakteurin mit Schwerpunkt „Europa und die Welt“

"Europa und Amerika brauchen einen transatlantischen New Deal. Im Kern geht es darum, unsere Partnerschaft den globalen Umbrüchen anzupassen – auf Basis unserer engen Beziehungen, unserer gemeinsamen Werte und geteilter Interessen", schreiben die Außenminister Deutschlands und Frankreichs, Heiko Maas und Jean-Yves Le Drian am 16. November. Dass Deutschland globale Fragen gemeinsam mit den USA lösen möchte, ist kein neuer politischer Kurs, jedoch war das amerikanisch-europäische Verhältnis in den letzten Jahren der Trump-Präsidentschaft stark unter Druck gesetzt worden: Uneinigkeit und Fehlkommunikation dominierten die Beziehungen.

Es war folglich ein außenpolitisches Großereignis, als letzten Monat ein neues amerikanisches Staatsoberhaupt gewählt wurde: Dass es Joe Biden, ein Politiker, der sich zu Multilateralismus und „Teamplay“ bekennt, geworden ist, erleichtert das Vorhaben eines New Deals. Was meint Maas also, wenn er von einem “transatlantischen New Deal” spricht?

Mit dem Begriff “New Deal” spielt Maas auf die in den 1930er Jahren nach der Weltwirtschaftskrise angestoßenen Sozial- und Wirtschaftsreformen an, die von dem damaligen US-Präsidenten Franklin Roosevelt ausgingen. Ähnlich könnte man die damaligen tiefgreifenden Veränderungen auf die heutige Situation übertragen: Nach einigen Jahren harter Einbrüche in der transatlantischen Beziehung soll es tiefgreifende Veränderungen geben, um die Beziehung auf einen zukunftsfähigen Kurs zu setzen.

In Maas’ Erklärung zur US-Wahl spricht er von einer neuen transatlantischen Beziehung, in der "im Umgang mit Akteuren wie China, beim Klimaschutz, beim globalen Kampf gegen die Corona-Pandemie" auf gemeinsames Handeln gezählt werden soll.

China als gemeinsamen „Systemrivalen“ anzugehen ist mit Sicherheit ein erster Punkt, der großes Potential birgt, die europäisch-amerikanische Partnerschaft zu intensivieren: Die USA sehen die Kooperationspartnerschaft der EU mit China schon länger als problematisch an und wünschen sich hier eine stärkere Eindämmungspolitik. In puncto Klimaschutz hatte die EU viele Anstrengungen unternommen, etwa um die USA im Pariser Klimaabkommen zu halten. Jetzt, wo ein Präsident ins Amt eintritt, der einen Green New Deal für die USA durchsetzen will (namentlich quasi analog zum European Green Deal der EU), dürfte ebenfalls mehr Kooperation, etwa in internationalen Organisationen, anstehen. Dass die Europäer*innen sich jedoch erstmal im Klaren darüber werden müssen, wie viel Zusammenarbeit überhaupt gewünscht ist und wo etwa mehr europäische Autonomie von Nöten sein wird, wie etwa im Bereich der Sicherheitspolitik, zeigt sich im aktuellen Streit um die strategische Autonomie der EU (siehe hierzu mehr unter #3).

Die Wahl Joe Bidens hat jedoch weit vor der Aushandlung eines konkreten “New Deals” bereits begonnen, eine politische Wirkung zu entfalten: Letzte Woche haben die 27 Mitgliedstaaten der EU einem sog. Mini-Handelsdeal zugestimmt, der das erste Mal seit 20 Jahren den Zugang zu den beiden Märkten der USA und der EU für beide erleichtert. Der deutsche Europapolitiker Manfred Weber forderte hier bereits: „Die EU muss dem neuen amerikanischen Präsidenten Joe Biden umgehend Verhandlungen über ein EU-US-Freihandelsabkommen anbieten". Ein ganz so weitreichendes Umschwenken ist jedoch nicht zu erwarten, da viele US-Wähler*innen Trump für seine „Ablehnung gegenüber Freihandelsabkommen" gewählt hatten. Da Biden versprochen hatte, auch Trump Wähler*innen mitdenken zu wollen, wäre solch ein Umschwenken erstmal unwahrscheinlich. Dass Biden aber schon vor der Durchsetzung eines großen politischen New Deals bereit für Veränderung und einige kleine “New Deals” sorgen wird - das ist wohl zu erwarten.

#3 Europäische Strategische Autonomie: Illusion oder Notwendigkeit?

Florian Bauer, Redakteur mit Schwerpunkt „EU-Politik“

In Fragen der Sicherheits- und Verteidigungspolitik gilt es in Europa noch Gräben zu überwinden. Dies zeigte sich im November an einer Auseinandersetzung zwischen der deutschen Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron. In einem Artikel für POLITICO bezeichnete Kramp-Karrenbauer eine europäische strategische Autonomie als „Illusion“ und betonte stattdessen die wichtige Rolle der USA als Sicherheitsgarant Europas. Macron reagierte darauf ungewohnt deutlich und nannte die Äußerungen eine „Fehlinterpretation der Geschichte“. Für Frankreich ist eine eigenständige Verteidigungspolitik zentraler Bestandteil der Vision eines starken, souveränen Europas. Europa soll sich nach Willen Macrons nicht darauf verlassen, dass die USA global ähnliche Interessen vertritt, sondern selbst zu einem wirkmächtigeren internationalen Akteur werden. Gleichwohl erkennt auch der französische Präsident an, dass die derzeitige Abhängigkeit von den Vereinigten Staaten sich nur mittelfristig auflösen lässt und der Aufbau europäischer Verteidigungskapazitäten Zeit und Ressourcen benötigt.

An Kramp-Karrenbauers Antwort auf die französische Kritik zeigte sich, dass die Positionen möglicherweise doch gar nicht so weit voneinander entfernt sind: Sie bekannte sich zur Vision einer europäischen Armee und zur Notwendigkeit erhöhter Verteidigungsausgaben. Letztlich gibt es also Einigkeit in der kurz- bis mittelfristigen Unverzichtbarkeit der transatlantischen Bindung, bei gleichzeitigem Ausbau der eigenen Fähigkeiten. Entscheidend wird dabei sein, inwieweit vor allem die deutsche Öffentlichkeit bereit sein wird, Aufrüstung und möglicherweise stärkeres internationales Engagement der Bundeswehr mitzutragen.

Hier ist insbesondere auch die Reaktion der Grünen interessant, die in Person von Parteichefin Annalena Baerbock, Bereitschaft zu höheren Militärausgaben und internationalem Engagement Deutschlands zeigten. Es scheint sich die Überzeugung durchgesetzt zu haben, dass auch grüne Werte und globale Verantwortung sich manchmal nur mit „robusten Mandaten“ verwirklichen lassen. Baerbock sieht derzeit eine „Lücke“ durch den Rückzug der USA, die von autoritären Staaten gefüllt werde. Diese Positionierung lässt sich als realpolitisches Signal vor den Bundestagswahlen nächstes Jahr sehen, vor allem aber ist sie ein Bekenntnis zu gestärkter europäischer Souveränität. Europa ist auf dem (langen) Weg zur strategischen Autonomie – und Deutschland wird nicht voran-, aber mitgehen.

#4 Corona-Pandemie: Impfen um jeden Preis?

Moritz Hergl, Redakteur mit Schwerpunkt „EU-Politik“

Trotz der zahlreichen Konflikte scheint die EU in einer Sache an einem Strang zu ziehen: der Bekämpfung der Corona-Pandemie. Anfang des Jahres stand die Union noch stark in der Kritik, da die Maßnahmen der einzelnen Mitgliedstaaten so gut wie kaum abgesprochen waren. Doch hier hat sich die Zusammenarbeit merklich verbessert. Das ist auch ein Verdienst der deutschen Ratspräsidentschaft. So setzt die EU-Kommission mittlerweile eine eigene EU-Impfstoffstrategie um, und die Staats- und Regierungschef*innen treffen sich auf Wunsch von Bundeskanzlerin Angela Merkel häufiger und kamen auch im November zu einer Videokonferenz zusammen. In ganz Europa zeigt sich nun ein ähnliches - und vorwiegend rotes - Bild: die aktuelle Infektionslage in Europa zeigt das European Centre for Disease Prevention and Control.

Um mit dem Impfen so schnell und umfassend wie möglich reagieren zu können, sollte ein Impfstoff in der EU zugelassen werden, hat die EU-Kommission bereits Kaufverträge mit sechs potentiellen Impfstoffherstellern geschlossen. Doch damit bleibt noch nicht alles geregelt. So kündigte der ungarische Präsident Viktor Orbán an, den umstrittenen russischen Corona-Impfstoff Sputnik V zu importieren, der in der EU generell als unzureichend angesehen wird. Zudem verhandelte Orbán auch mit der chinesischen Regierung und scherte damit aus einer gemeinsamen europäischen Linie aus - ähnlich wie beim Streit um den Rechtstaatsmechanismus (siehe dazu #1).

Weiteres Konfliktpotential bietet Corona in den europäischen alpinen Regionen - normalerweise Hotspots für Ski- und Snowboardsportler*innen aus vielen Ländern. Doch damit daraus dieses Jahr kein Hotspot für Corona-Infektionen wird, plädierte der bayerische Ministerpräsident Markus Söder im November dafür, alle Skigebiete in Europa bis zum 10. Januar geschlossen zu halten. Daraufhin eskalierte die Diskussion um Schließungen, denn Österreich möchte seine Skilifte dennoch öffnen, wenn auch vorerst nur für für Einheimische. Eine gesamteuropäische Einigung ist nicht in Sicht.

Einheitlichkeit fehlt auch bei der Interoperabilität von unterschiedlichen Corona-Apps in Europa. Angela Merkel sprach zwar nach der Zusammenkunft im Europäischen Rat vom Willen der Kommission und der Mitgliedstaaten, hier eine gemeinsame Linie finden zu wollen, doch die Realität sieht, 10 Monate nachdem das Virus Europa erreichte, anders aus. In acht Mitgliedstaaten befindet sich die App entweder noch in der Entwicklung oder ein Launch ist nicht vorhergesehen. In den restlichen Mitgliedstaaten gibt es zwar entsprechende Apps, doch jeweils unterschiedliche Systeme. Immerhin: 9 Länder kooperieren mit ihren entsprechenden Apps mit dem uns tauschen somit auch untereinander Daten aus, darunter auch die deutsche Corona-Warn-App.

Der November hat gezeigt: Eine Ratspräsidentschaft ist Teil politischer Prozesse, die weit langwieriger sind als ein halbes Jahr. Während sich nun die deutsche Präsidentschaft ihrem Ende neigt, wird es im neuen Jahr an Portugal sein, bestehende Konflikte zu moderieren und auf neue Entwicklungen gefasst zu sein. Deutschland wird sich nicht zurücklehnen können, denn das Konfliktpotential für 2021 scheint in den letzten Monaten nicht kleiner geworden zu sein.

Ihr Kommentar
Vorgeschaltete Moderation

Achtung, Ihre Nachricht wird erst nach vorheriger Prüfung freigegeben.

Wer sind Sie?

Um Ihren Avatar hier anzeigen zu lassen, registrieren Sie sich erst hier gravatar.com (kostenlos und einfach). Vergessen Sie nicht, hier Ihre E-Mail-Adresse einzutragen.

Hinterlassen Sie Ihren Kommentar hier.

Dieses Feld akzeptiert SPIP-Abkürzungen {{gras}} {italique} -*liste [texte->url] <quote> <code> et le code HTML <q> <del> <ins>. Absätze anlegen mit Leerzeilen.

Kommentare verfolgen: RSS 2.0 | Atom