Beitrag anlässlich des Online-Bürger*innendialogs „Krieg in der Ukraine: Deutschland im Angesicht seiner Vergangenheit“ der überparteilichen Europa-Union Deutschland e.V. am 1. Juni 2022.

„Deutschland, Russland und die Ukraine: Welche Rolle spielt unsere Geschichte?“

, von  Katharina Egle

„Deutschland, Russland und die Ukraine: Welche Rolle spielt unsere Geschichte?“
Foto: Matthias Berg, Proteste gegen Russlands Angriffskrieg in der Ukraine am Brandenburger Tor in Berlin im Februar 2022 ©Matthias Berg, 2022 (CC BY-NC-ND 2.0) Lizenz

Welche Rolle spielt die deutsche Geschichte im Russland-Ukraine Krieg? Hat Deutschland auf Grund seiner Geschichte eine besondere Verantwortung? Warum hat die Ukraine in der deutschen Erinnerungskultur bis zuletzt kaum eine Rolle gespielt? Diese und Andere Fragen wurden während des Bürgerdialogs am 01. Juni 2022 diskutiert...

Am 24. Februar begann Russland seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Wenige Tage nach Kriegsbeginn wurde besonders Deutschland eine wichtige Rolle zugespielt – als langjährigem engen Handels- und Wirtschaftspartner Russlands sowie führende Nation innerhalb der EU. Das Schlagwort „Zeitenwende“ verbreitete sich in der politischen Berichterstattung nach der Rede des Bundeskanzlers Olaf Scholz am 27. Februar. Inzwischen steht die Bundesrepublik vor einem Glaubwürdigkeitsproblem, für das sie scharf kritisiert wird: So wird Scholz vorgeworfen, seine Versprechen hinsichtlich deutscher Unterstützung für die Ukraine zum Beispiel durch Schwerwaffenlieferungen nicht zu erfüllen oder erst viel zu spät erfüllt zu haben. Es scheint, als stünde Deutschland vor dem Problem, seine wirtschaftlichen Ziele und politischen Werte nicht vereinbaren zu können. Doch welche Rolle spielt dabei Deutschlands Geschichte und insbesondere das 20. Jahrhundert?

Vor allem diese Frage wurde während des Online-Bürgerdialogs am 1. Juni der überparteilichen Europa-Union Deutschland e.V. unter dem Motto „Krieg in der Ukraine – Deutschland im Angesicht seiner Vergangenheit“ diskutiert. Als Mitwirkende waren Nataliya Pryhornytska, Mitbegründerin der Allianz Ukrainischer Organisationen, und Prof. Dr. Susanne Schattenberg, Direktorin der Forschungsstelle Osteuropa sowie Professorin für Zeitgeschichte und Kultur Osteuropas an der Universität Bremen, dabei. Gemeinsam mit Moderatorin Mareen Hirschnitz und den über 90 Teilnehmenden besprachen die zwei Expertinnen, welche Rolle die Ukraine in der deutschen Erinnerungskultur spielt – oder nicht spielt – und kritisierten das bisherige Verhalten der deutschen Bundesregierung vis-à-vis Russland.

„Wir haben eine Verantwortung“



Abstimmung der Teilnehmenden Bürger*innen zur der Frage: Darf Deutschland die Stärkung der Bundeswehr sowie Waffenlieferungen trotz seiner Geschichte vorantreiben?


In diesem Punkt waren sich Pryhornytska und Schattenberg einig: Deutschland habe aufgrund seiner Geschichte eine große Verantwortung gegenüber der Ukraine. Nachdem die deutsche Wehrmacht im Juli 1942 das Land überfiel, litten besonders die Ukrainer*innen unter der deutschen Besetzung. Prof. Dr. Schattenberg erklärte, dass das Land im Zweiten Weltkrieg die größten Opferzahlen zu verzeichnen hatte: „2 Millionen ukrainische Soldaten sind gefallen. 1,3 Millionen sind in Gefangenschaft geraten. 5 Millionen ukrainische Zivilist*innen sind ermordet worden. Weitere 2,3 Millionen wurden nach Deutschland zur Zwangsarbeit verschleppt und auch der Holocaust hat zum großen Teil in der Ukraine stattgefunden“. Diese Zahlen schockieren und, so die Diskutantinnen, sollten Deutschland dazu anregen, die Ukraine stärker zu unterstützen. Auch die Bürger*innen scheinen diese Meinung zu teilen. Über 80% der Teilnehmer*innen glauben, dass Deutschland trotz seiner Geschichte die Bundeswehr stärken und Waffenlieferungen vorantreiben sollte. Natalia Pryhornytska fügte hinzu: „Dieses Bewusstsein fehlt meiner Ansicht nach in der deutschen Gesellschaft schon maßgeblich – noch!“. Das bedeutet jedoch nicht, dass sich dies nicht verändern könne, unterstreicht sie. Vielmehr müsse diese Bewusstseinsveränderung nun proaktiv gefördert werden.

Das vergessene Osteuropa

Unsere Nachbarn gen Osten kämpfen noch heute mit klischeebehafteten Vorurteilen. Wie der Journalist Joachim Jauer in seinem Artikel Das vergessene Osteuropa passend beschreibt, „Paris steht für den Autosalon – Polen für den Autoklau. In England gibt es Königskinder – in Rumänien Straßenkinder.“ Noch heute lernen Schüler*innen vergleichsweise wenig über die Geschichte Osteuropas bis 1945. Auch dazu bezogen die Diskutantinnen Stellung. Susanne Schattenberg führte aus, dass der Kalte Krieg einen Einfluss darauf gehabt hätte, wie die Geschichte bis 1945 bewertet wurde. Dass der Holocaust auch im Osten stattfand, wurde ungern thematisiert, da man der Sowjetunion keinen Opferstatus zuspielen wollte –eine derartige Diskussion hätte zu Reparations- und Entschädigungszahlungen führen können und das wollten westliche Politiker*innen und Staatsoberhäupter vermeiden. Susanne Schattenberg zufolge habe nicht nur die Ukraine, sondern vielmehr Osteuropa insgesamt bislang kaum eine Rolle in der deutschen Erinnerungskultur gespielt. Noch jetzt, so Schattenberg, wüssten nur wenige Menschen, dass auch die heutige Republik Moldau Teil des Hitler-Stalin-Paktes war. Für sie hat man „diesen unzulässigen Kurzschluss gemacht zu sagen ‚Naja Sowjetunion, dass ist heute Russland‘ und alles andere dazwischen vergessen.“ Für Susanne Schattenberg sei es eine gravierende Konsequenz, dass in unserem Verständnis weiterhin die Sowjetunion mit Russland gleichgesetzt wird. Die Ukraine werde in dieser Folge oft immer noch als Teil von Russland angesehen, so die Diskutantinnen.

Erst seit 2014, mit der Annexion der Krim, sei die Ukraine sichtbarer geworden. Diese Erfahrung bestätigte auch ein Teilnehmer, der sich zu Wort meldete. Die Bildungslücke sei zu begründen mit strukturellen Problemen innerhalb des Bildungssystems, insbesondere im Geschichtsunterricht. So würde bis heute ein inhaltlicher Fokus auf nicht-westliche Geschichte fehlen und so ganze Zeitperioden sowie geographische Gebiete vom Geschichtsunterricht ausgeschlossen werden. Dies wird auch unterstützt durch die Wortmeldung eines Teilnehmers der gegen Ende seines Berufslebens ein Unternehmen in Polen und später in der Ukraine aufbaute. Er beschreibt, dass er in die Ukraine ging und nicht wusste „was deren Geschichte“ war – so sei es auch seinem Umfeld gegangen. Er sei nun „maßlos enttäuscht, dass der jetzige Bundeskanzler bei der Unterstützung der Ukraine“ bisher zu wenig getan habe. Durch eine weitere Wortmeldung wurde darauf aufmerksam gemacht, dass das ukrainische Volk weder in der Schule noch in den Zeitungen ein Thema war. Es sei immer nur um die Sowjetunion oder um Russland gegangen, da die UdSSR mit Russland gleichgesetzt wurde. Dies erscheint heute als großes Problem, da so „die Ukraine als Ukraine nie richtig war genommen wurde.“

Entspannungspolitik und Abrüstungspolitik der letzten Jahre: Ein Fehler?

Eine weitere zentrale Frage im gesellschaftlichen Diskurs über den russischen Angriffskrieg ist, ob die Bundesregierung strenger mit Moskau hätte umgehen sollen. Schon vor dem Krieg warnten Expert*innen, Journalist*innen und Forschende vor Beschwichtigungspolitik und „Appeasement-Strategies.“ Nataliya Pryhornytska bezog klar Stellung während des Bürgerdialogs und verurteilte die bisherige Herangehensweise des Westens. Ihrer Meinung nach habe „die Nichtentschiedenheit der EU und auch die Nicht-Positionierung Deutschlands 2014, nach der Annexion der Krim und nach dem Einmarsch der russischen Truppen in den Donbass“ Wladimir Putin zur Invasion in der Ukraine am 24. Februar ermutigt. Ein weiterer Fehler sei 2014 die Bezeichnung der Annexion der Krim als „Ukraine-Krise“ gewesen. So sei das Land zum Krisenland erklärt worden, das angegriffen wurde, nicht jedoch Russland als der eigentliche Aggressor. Auch wurde gegen die Sanktionspakete zu oft verstoßen, so standen beispielsweise mehrere deutsche Firmen 2018 unter Verdacht EU-Sanktionen gegen Russland und die Krim umgangen zu haben. Auch hätte das Pipeline-Projekt Nord Stream 2 frühzeitig gestoppt werden müssen, so Pryhornytska.

Schattenberg stimmte dem weitestgehend zu, riet aber zu einer Unterscheidung zwischen der Entspannungspolitik und Abrüstungspolitik der 1970er-Jahre einerseits sowie der Zeit seit Putins erster Präsidentschaft im Jahr 2000 andererseits. Vieles, was wir heute an guten Entwicklungen haben, sei in den Jahren der Abrüstungspolitik geschaffen worden – so zum Beispiel die Organisation für Sicherheit und Zusammenhalt in Europa (OSZE). Kritisieren solle man die Geschehnisse der letzten 22 Jahre: die zwei Tschetschenien-Kriege, die Verdrängung aller kritischen Stimmen aus den russischen Medien, die Verhaftung von Michail Chodorkowski im Jahr 2003, die Annexion der Krim 2014. Auch für sie hätte es ein wesentlich größeres Sanktionspaket geben müssen. Doch auch hier mahnte Schattenberg zur Vorsicht, denn nicht nur der Westen hätte auf Beschwichtigungspolitik gesetzt. Wolodymyr Selenskyj sei im Jahr 2018 auch deswegen zum ukrainischen Präsidenten gewählt worden, weil er versprach, mit Putin eine Lösung auszuhandeln – ohne Erfolg.

Das ist eine Hilflosigkeit im Umgang mit Putin, wo ich auch nur erstaunt den Kopf schütteln kann.

Beide Diskutantinnen verwiesen außerdem darauf, dass trotz aller Geheimdienstinformationen die Regierungen allerorts von dem russischen Angriff auf die Ukraine überrascht gewesen seien. „Das ist eine Hilflosigkeit im Umgang mit Putin, wo ich auch nur erstaunt den Kopf schütteln kann“ urteilte Susanne Schattenberg. Nataliya Pryhornytska unterstrich zusätzlich, dass bereits vor dem flächendeckenden Angriff am 24. Februar Krieg in der Ukraine geherrscht habe. Schon im April 2021 wurden mehr als 100 000 russische Truppen an der russisch-ukrainischen Grenze stationiert. Im Oktober 2021 habe es schon klare Informationen von Geheimdiensten gegeben, welche auf einen Angriffskrieg hinwiesen. All dies hätte eigentlich eine starke Reaktion des Westens hervorrufen müssen. Doch, so waren sich die Mitwirkenden einig, die westlichen Staatsoberhäupter setzten auf Gespräche und milde Warnungen, denn die Hoffnung auf Verhandlung und Abschreckung sei immer vorhanden gewesen. Dies zeige aber nur, dass der Westen in seinem Umgang mit Putin hilflos ist.

Ein zögerlicher Westen

Mit zynischem Humor und Empörung wurde auch die erste Unterstützungslieferung der Bundesregierung an die Ukraine aufgenommen. 5000 Helme schienen wie ein „Joke“ während den ersten Tagen des Krieges. Der Westen scheint zögerlich, unsicher und hilflos. Zwar wurden umfassende Sanktionspakete verabschiedet, doch dies reicht nicht, so Schattenberg. Sie erklärt, dass die Angst darin bestehe, dass Putin Waffenlieferungen als Kriegserklärung interpretieren könnte. Auch hier habe die Geschichte Deutschlands einen entscheidenden Einfluss auf die Frage, inwiefern die Bundesrepublik im Kriegsfall Nicht-NATO-Staaten unterstützen dürfe. Die Annahme, dass Deutschland als Auslöser zweier Weltkriege heutzutage keine Waffen in Kriegsländer exportieren dürfe, sei jedoch eine undifferenzierte Analyse. Vielmehr seien, so Schattenberg, Waffenlieferungen an einen Drittstaat kein Angriff und Putin, so sei es bisher zu beobachten gewesen, lasse sich von westlichen Staatsoberhäuptern nicht beeinflussen. Der russische Staatspräsident versuche hingegen die westlichen Politiker*innen einzuschüchtern analysierte Schattenberg. Die Frage sei, ob ihm das gelingt.

Zukunftsperspektiven

Niemand kann sich ganz sicher sein, wie eine Europäische Friedensordnung nach Ende des Krieges aussehen wird und welche Rolle Russland in einer solchen spielen könnte. Für Nataliya Pryhornytska würde in dem Aufbau einer solchen Friedensordnung jedoch die regelbasierte Ordnung im Vordergrund stehen. Diese solle unverhandelbar bleiben. Ihrer Meinung nach müsse man hoffen, dass durch wirtschaftliche Sanktionen in Russland ein „Druck von unten entsteht“, welcher dazu führt, die russische Führung um Putin zu stürzen. Alternativ könne eine Sicherheitsordnung auch ohne Putins Russland entstehen, zum Beispiel durch totale Isolation. Susanne Schattenberg war jedoch anderer Meinung: Vielmehr sei „eine Friedensordnung ohne Russland nicht möglich.“ Jedoch sei es wichtig, diesen Frieden ohne Putin zu entwickeln, da er imperialistische Bestrebungen habe und deswegen weiter versuchen werde, andere Länder zu destabilisieren oder sie sich ganz einzuverleiben. Trotzdem: Auf lange Sicht müsse Russland jedoch wieder eingebunden werden beharrte Susanne Schattenberg.

Alles in allem bleibe es aber weiterhin wichtig, sich mit der Geschichte auseinanderzusetzen, um die aktuellen Entwicklungen in Gänze zu verstehen, so Pryhornytska. Auch Schattenberg erkennt an, dass Geschichte „leider komplex [ist], aber nur, wenn man ein bisschen Ahnung hat, kann man das Hier und Jetzt verstehen.“ Aufgrund dessen sei dieser Bürgerdialog eine ganz besondere Weise, um das Gespräch zu suchen und aufrecht zu erhalten.

Zum Schluss teilten die teilnehmenden Bürger*innen einige interessante Lehren. So stimmten viele Personen dem zu, dass „Moral vor Kommerz“ gestellt werden müsse. Des Weiteren sollte, den Bürger*innen nach, Bedrohungen entschlossener entgegengewirkt werden. Auch müsse Osteuropa ernst genommen werden und das Interesse an diesem Teil unseres Kontinents gefördert werden. Zudem solle ein „Wandel durch Werte“ unterstützt werden. Eine wichtige Lektion dieses schockierenden Kriegs hat sich während des Bürgerdialogs herauskristallisiert, nämlich ein früheres Handeln und ein konsequenterer Umgang mit Russland. Alles in allem, scheinen sich Diskutantinnen und Bürger*innen einig: „We must take sides!“



Beitrag der Teilnehmenden Bürger*innen zur der Frage: Welche Lehren müssen Politik, Wirtschaft und Gesellschaft aus der deutschen Vergangenheit in Bezug auf die russische Invasion in der Ukraine ziehen?


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