Die europäische Perspektive: Brexit

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Die europäische Perspektive: Brexit
51,9 Prozent der britischen Wähler stimmten beim Referendum für „Leave“ - den Austritt des Landes aus der EU. © Gideon / Flickr / CC BY 2.0-Lizenz

Das Vereinigte Königreich wird die Europäische Union verlassen. Die Briten haben in einem Referendum mehrheitlich den Austritt gewählt. Was bedeutet diese historische Entscheidung für die Europäische Union? Die Redaktionen kommentieren in „Die europäische Perspektive“.

Eine Nacht, die Europa verändert

Marcel Wollscheid - Chefredakteur von treffpunkteuropa.de

43 Jahre lang war das Vereinigte Königreich Mitglied der europäischen Gemeinschaft. Nun ist es Zeit, Abschied zu nehmen: Die Briten haben sich im Referendum für den Brexit entschieden.

Premierminister Cameron hat mit seiner Strategie, das britische Referendum über die Mitgliedschaft als Druckmittel für EU-Verhandlungen zu nutzen, im Endeffekt die Büchse der Pandora geöffnet. Das Pfund fällt nach der Brexit-Entscheidung auf den niedrigsten Stand seit 30 Jahren. Die Finanzmärkte in Europa brechen ein. Das Vereinigte Königreich wird durch das Referendum zerrissen zwischen England und Wales auf der einen Seite und den mehrheitlich proeuropäischen Teilstaaten Schottland und Nordirland auf der anderen Seite. Folgerichtig musste Cameron nun die Verantwortung übernehmen und zurücktreten.

Die EU wird sich durch den Brexit verändern: Sie wird durch den Austritt ihres drittgrößten Mitgliedslandes und ihrer zweitgrößten Volkswirtschaft geopolitisch deutlich kleiner, wirtschaftspolitisch staatsgläubiger und in ihrer Statik noch stärker zentriert auf Deutschland.

Gleichsam muss sich die EU ändern, um in Zukunft zu bestehen. Weder die demokratische Legitimation auf Input-Seite, noch die Ergebnisse der Union auf Output-Seite sind für weite Teile der Bevölkerungen heute zufriedenstellend. Höchste Zeit, den deutsch-französischen Motor wieder anzuwerfen - mit dem Ziel, die EU als Garant für Wohlstand, Sicherheit und Freiheit im 21. Jahrhundert zu erneuern.

Ein Status Quo, der niemanden begeistern konnte

Hervé Moritz - Chefredakteur von Le Taurillon

Eine Mehrheit der Briten hat am 23. Juni für den Austritt aus der Europäischen Union gestimmt. Es ist eine herbe Niederlage für die Befürworter des europäischen Projekts in einem Wahlkampf, dessen Gewinner-Kampagne viel eher Klischees bediente als die Vernunft. Nach dem Sieg des Brexit-Lagers im stärker denn je geteilten Vereinigten Königreich sieht man dem zukünftigen Verlust von 64 Millionen EU-Bürgern jedoch keinesfalls freuenden Auges entgegen. Man fürchtet, dass Andere ebenfalls das Schiff verlassen könnten, eher noch als es auf einen guten Kurs zu steuern.

In diesem Wahlkampf, der von nationalen Interessen geprägt wurde, fehlte ein Lager: Das der Pro-Europäer, der Föderalisten. Die Briten hatten die Wahl zwischen dem Austritt aus der Europäischen Union und dem ewigen Lied David Camerons von einem intergouvernementalen Europa, „à la carte“, blockiert, ohne Perspektive, zum Status Quo verurteilt. Dieser Status Quo hat niemanden begeistern können. Die Europäische Union in ihrer aktuellen Form ist also überholt, gefangen in der Agonie. Dieses intergouvernementale und technokratische Europa, das hinter verschlossenen Türen Entscheidungen trifft, Direktiven auf Gipfeltreffen in den Brüsseler Glastüren gefühlt nur hinkritzelt – das will niemand. Bereits vor einigen Jahren haben die Föderalisten deshalb Alarm geschlagen.

Was ist nun zu tun? Wir brauchen ein neues Vorhaben, eine in die Tiefe gehende Neugründung des europäischen Projekts. Diese neuen Ambitionen müssen es ermöglichen, konkrete und direkte Entscheidungen für die Lösung der Flüchtlingskrise zu treffen, für die Wirtschaftskrise und die sozialen Probleme und die politische Krise der Europäischen Union, die aus der Schwäche ihrer Institutionen, insbesondere des Europäischen Parlaments, resultiert. Man kann nicht einfach die Wahlen in Frankreich und Deutschland im Jahr 2017 abwarten. Außerdem muss in den Verhandlungen mit Großbritannien klar sein: draußen ist draußen. Und mit denen, die es sich wünschen: Lasst uns den Sprung in ein demokratisches und föderales Europa wagen!

Europas Black Friday - und Zeit für einen Neuanfang

Gesine Weber - Social-Media-Redakteurin von treffpunkteuropa.de

Großbritannien hat entschieden: Das Land wird die Europäische Union verlassen. Was für Populisten europaweit ein Tag der Freude ist, ist für alle anderen Menschen in den verbleibenden Mitgliedsstaaten und für Märkte weltweit eines: Ein Black Friday.

Noch fällt es schwer einzuordnen, was mit dieser Entscheidung auf Europa zukommt. Klar ist jetzt schon: Die wirtschaftlichen Folgen sind schwerwiegend und schaden der Weltwirtschaft. Seit der weltweiten Finanzkrise 2008 sind die Börsenkurse nicht mehr so stark gefallen, das Chaos an den Märkten droht auszuarten. Die langfristigen Folgen sind kaum abzusehen. Aber nicht nur Großbritannien, sondern ganz Europa wird diese Folgen zu tragen haben. Viel schwerwiegender ist die politische Situation, die der Brexit schafft: Die EU betritt eine politische terra incognita, der Fall, der nur pro forma in den Lissabon-Vertrag aufgenommen wurde, ist eingetreten. Sie muss sich klarmachen: Ihr Ziel der immer enger werdenden Union ist am Brexit gescheitert – nicht zuletzt, weil die Briten dieses Ziel wohl nie komplett teilten.

Dies ist zunächst unglaublich frustrierend, es macht zunächst hoffnungslos und lässt an der guten Tragkraft von Demokratie zweifeln, an der genialen Idee des Kompromisses, welche die EU so beispiellos repräsentiert. Dennoch: Der Brexit erlaubt uns auch, Europa neu zu denken: Ein Europa, in dem politische Reformen mit wirtschaftlicher Einigung schritthalten, in dem Institutionen Bürger erreichen und besser repräsentieren, in dem vor allem die teilnehmende Staaten wirklich eine immer enger werdende Union wollen und sich auch zu diesem Ziel bekennen. Ein Europa mit Europäern statt Nationalisten. Ein Europa als starke Stimme von Demokratie und Frieden in der Welt. Der 24. Juni 2016 wird vielleicht als „Europas schwarzer Freitag“ in die Geschichtsbücher eingehen – schwarzsehen sollten wir aber deshalb noch lange nicht.

Dem UK stehen ungewisse Zeiten bevor

Stellungnahme der Young European Movement UK

Eine aktive, pro-europäische Organisation in Großbritannien zu sein war noch nie so schwierig wie im letzten Jahr. Nach den Wahlen 2015 war klar, dass es ein Referendum über den EU-Austritt Großbritanniens geben würde. Deswegen startete YEM UK eine Kampagne und verbrachte die letzten 12 Monate mit Informationsarbeit, um möglichst viele Wähler zu erreichen und sie zu überzeugen, in der EU zu bleiben. Leider ist das Ergebnis des Referendums nicht zugunsten unserer Ambitionen ausgefallen und GB wird bald aus der EU austreten.

Die Young European Movement UK möchte die Möglichkeit nutzen, um über den aktuellen Status, die Vergangenheit sowie Zukunft Britanniens, der EU und unserer Organisation nachzudenken.

Zunächst möchten wir uns bei all denjeniegen bedanken, die unsere Kampagne begleitet haben. Ob ihr mit großem Engagement Flyer unter dem britischen Regen verteilt, von Tür zu Tür gelaufen seid, um Wähler zu überzeugen oder einfach unsere Posts in den sozialen Netzwerken geteilt habt, euer Beitrag hat gezählt! Die Mühe war auf keinen Fall umsonst, denn ihr habt euch für eine europäische Öffentlichkeit, Meinungsfreiheit und Toleranz stark gemacht und zu lebendigen Debatten und Gesprächen ermutigt. Darauf könnt ihr stolz sein und sind wir als YEM UK stolz.

Unser Dank geht auch an unsere Freunde auf dem Kontinent. Euer Interesse und Beteiligung an unserer Kampagne war unschätzbar wertvoll und eure Freundschaft und Enthusiasmus haben uns überwältigt und ermutigt, viele Hürden zu überwinden. Dass Nationen, die sich vor ein paar Jahrzehnten noch gegenseitig bombardierten heute gegenseitig ermutigen und unterstützen, ist ein Zeichen für den Wert der Europäischen Union. Jetzt ist es wichtig, das europäische Projekt vor weiteren Schäden durch Nationalismus und Unwissenheit zu schützen. Dafür werden wir uns stark machen.

Dem Vereinigten Königreich stehen ungewisse Zeiten bevor. Die Nation hat den Sprung ins kalte Wasser gewagt und es ist unmöglich zu wissen, was die kommenden Wochen, Monate und Jahre bringen werden. Was dennoch sicher ist, ist dass die Young European Movement UK wichtiger denn je geworden ist. Wir werden weiterhin Diskussionen über europäische Themen fördern, für Europa und die Europäische Union fördern und nach Frieden und Zusammenarbeit mit dem Kontinent streben.

Auch wenn es nicht mehr in unseren Pässen geschrieben steht, bleiben wir dennoch Europäer, so lange wir unsere Werte leben, unsere Rechte verteidigen und uns für den Erhalt unserer Demokratie einsetzen. Diesen Einsatz möchte The Young European Movement UK leisten.

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