Interview über den Krieg in der Ukraine

“Die ganze Welt sollte sich verbeugen vor der Ukraine und ihrer Stärke.”

, von  Claudia Bothe

“Die ganze Welt sollte sich verbeugen vor der Ukraine und ihrer Stärke.”
Der Maidan-Platz: Vor acht Jahren demonstrierten hier die Ukrainer*innen gegen ihren Präsidenten und für Freiheit. Jetzt herrscht in der Ukraine Krieg. Foto: Flickr / Juan Antonio Segal / Lizenz

Marie lebt seit zweieinhalb Jahren in der Ukraine. Gemeinsam mit ihrem Mann arbeitet sie in Kyiv für eine internationale, christliche Hilfsorganisation. Geboren ist die 27-Jährige in Deutschland, doch inzwischen ist die Ukraine zu ihrer Heimat geworden. Kurz bevor der Krieg ausbrach waren Marie und ihr Mann für ihrer Arbeit einige Tage in der EU. Trotz aller Warnungen und der Aufforderung des Auswärtigen Amtes, die Ukraine zu verlassen, war für die beiden klar: sie müssen zurück nach Kyiv.

treffpunkteuropa.de: Warum seid ihr zurück nach Kyiv trotz der Gefahr des Krieges?

Marie: Wir hatten eigentlich nie Zweifel daran, dass wir hier in Kyiv sein müssen. Auch wenn von allen Seiten gewarnt wurde, dass die Gefahr für Krieg momentan sehr hoch ist. Wir sind am Mittwoch den 23.02. zurück nach Kyiv gekommen. Der Tag war eigentlich ganz normal, erst in der Nacht änderte sich die Situation. Am Donnerstagmorgen ungefähr um 5 Uhr haben unsere Nachbarn an die Tür geklopft und gesagt: “Kyiv wird bombardiert.” Seitdem hat sich unser Leben komplett verändert.

Wie war es für euch, als ihr erfahren habt, jetzt ist Krieg?

Ich erinnere mich noch wie wir aufgeschreckt sind als am Donnerstagmorgen die ersten Bomben einschlugen. Gemeinsam mit den Anderen, die hier für die Hilfsorganisation arbeiten und mit uns zusammen wohnen, haben wir erstmal versucht herauszufinden, was überhaupt los ist.

Am Anfang war es sehr unorganisiert, doch trotzdem waren alle eigentlich ziemlich ruhig. Wir haben versucht zusammen zu bleiben und gemeinsam die Zeit zu verbringen. Ich erinnere mich noch am ersten Abend haben wir einfach ein Spiel gespielt, weil es irgendwie unwirklich war. Im Hintergrund haben wir die Bomben gehört und die Explosion gefühlt. Man spürt wie bei jedem Einschlag der Boden bebt. Aber wir wohnen etwas außerhalb von Kyiv und man entwickelt sehr schnell ein Gespür dafür wie weit die Explosionen entfernt sind und ob man sich jetzt in Sicherheit bringen muss. Schon am ersten Tag haben wir eine Art Radar dafür entwickelt.

Vor allem nachts schalgen die Bomben in Kyiv ein.
Foto: Marie, Kyiv, Februar 2022

Wie geht ihr mit der Situation um?

Man lernt schnell damit umzugehen und gewöhnt sich daran, zu dem Geräusch von Bomben einzuschlafen. Am Anfang war mein Mann die ganze Nacht wach, aber nach 40, 50 Bomben hat er dann aufgehört zu zählen. Das war die schlimmste Nacht.

Wir haben hier keinen Bunker oder Keller. Doch wir haben einen Raum präpariert in den wir gehen, wenn die Bomben zu nahe kommen. Gerade die Älteren unter uns können nicht so lange stehen und es ist kalt, deshalb haben wir Matratzen ausgebreitet. Das sind sehr praktische Dinge, um uns auf die nächste Nächte vorzubereiten.

Außerdem verfolgen wir die ganze Zeit Nachrichten, vor allem auf Telegram. Im Minutentakt teilen dort Ukrainer*innen Bilder und Videos und zeigen was in den unterschiedlichen Regionen passiert. Dadurch sind wir sehr gut informiert. Wenn wir hier hören, dass gerade geschossen wird, dann sieht man schon ein paar Minuten später auf Telegram in welcher Region von Kyiv oder in welchem Vorort die Angriffe stattfinden. Deshalb ist unser Handy der treueste Begleiter und die wichtigste Regel ist: hab dein Handy immer gut geladen und griffbereit. Das gibt einem das Gefühl, irgendwie den Überblick zu behalten.

Wie sehen eure Tage derzeit aus?

Ab dem zweiten Tag haben wir angefangen rauszufahren zum Supermarkt und versucht an Lebensmittel zu kommen, doch die sind überall knapp. Es ist wirklich alles leer in den Regalen. Grundnahrungsmittel wie Brot, Kartoffeln, Milch oder Mehl sind komplett weg. Dafür ist der Menschenansturm riesig.

Doch wir haben uns organisiert und unsere Arbeit aufgeteilt. Das heißt: einige fahren einkaufen, andere stehen in der Küche und bereiten wirklich Unmengen von Essen vor. Das bringen wir dann in die Stadt zu den Soldat*innen, weil das Essen der Armee nur sehr begrenzt ist.

Die Soldat*innen sind im Moment die allerwichtigsten, denn sie verteidigen die Ukraine und kämpfen für unsere Sicherheit. Deshalb versuchen wir sie zu unterstützen. Unsere ukrainischen Freund*innen bringen das Essen raus in die Stadt und kennen schon Soldat*innen und Kommandant*innen, denen sie das Essen aushändigen können.

Das passiert alles in der ersten Tageshälfte. Am Nachmittag und Abend ist es meist relativ ruhig, denn die meisten Angriffe finden in der Nacht statt. Die russischen Truppen warten in der Regel bis es dunkel wird und so gegen 9 Uhr abends fängt die Armee an Kyiv zu bombardieren.

Lange Schlangen vor den Geschäften in Kyiv, denn gerade Lebensmittel sind knapp.
Foto: Marie, Kyiv, Februar 2022

Wie gehen die Ukrainer*innen mit der Situation um?

Was uns am meisten berührt, ist das respektvolle Miteinander der Ukrainer*innen, die Höflichkeit und Hilfsbereitschaft in einer Situation, in der es wirklich leicht wäre in Panik zu verfallen.

Wenn man hier in ein Geschäft geht, dann steht da ein einziger Security-Mann rum und weiß eigentlich gar nicht was er machen soll oder wo er hingucken soll bei dieser Horde von Menschen in jedem Laden. Es wäre super leicht etwas zu klauen oder einfach zu plündern. Auch wir haben befürchtet, dass es irgendwie unruhig sein könnte, denn in solchen Situationen und getrieben von Angst passieren solche Dinge. Aber die Leute fangen nicht an sich gegenseitig zu beschuldigen oder um die Lebensmittel zu kämpfen, sondern stehen Schlange. Niemand drängelt sich vor, alle bezahlen, alle benehmen sich sehr zivilisiert. Diese Solidarität hat uns wirklich sehr berührt.

Habt ihr darüber nachgedacht, das Land zu verlassen?

Am Morgen des zweiten Tages, nachdem nachts die ganze Zeit geschossen wurde, haben wir ein Auto vorbereitet damit diejenigen, die möchten, in den Westen fahren können und von dort über die ukrainische Grenze in die EU kommen können. Mein Mann und ich haben auch kurz darüber nachgedacht das Land zu verlassen, aber wir hatten das Gefühl, dass wir hier sein sollen.

In den letzten Jahre in Kyiv haben wir einfach eine Liebe für das Land und die Menschen entwickelt. Wir hängen hier nicht fest. Wir hatten viele Möglichkeiten das Land zu verlassen, aber wir haben uns dagegen entschieden, weil wir den Ukrainer*innen beistehen möchten. Wir möchten nicht nur hier arbeiten, wenn es die Situation erlaubt, sondern auch in schwierigen Zeiten wie diesen.

Wie bewertest du die Haltung Deutschlands und der EU zum Krieg in der Ukraine?

Die Haltung der EU war gegenüber Russland schon immer sehr zögerlich. Aber die Kämpfe sind die Eskalation eines Krieges der seit acht Jahren stattfindet. Diese zaghafte deutsche und europäische Politik zeugt für mich von einem völlig falschen Verständnis, dass man mit Russland vernünftig reden könnte. Die EU und Russland sprechen einfach zwei völlig verschiedene Sprachen. Russland spricht nicht die Sprache der Diplomatie, sondern spielt nach der Regel “Die Macht des Stärkeren”.

Es brauchte Krieg in der Ukraine damit die Menschen in der EU endlich die Augen öffnen vor der Realität. Die EU hat es sich einfach in einer sehr komfortablen Situation aus Scheinsicherheit gemütlich gemacht. Diese Blase ist jetzt zerplatzt und ehrlich gesagt war es auch Zeit.

Ich hoffe, dass auch Deutschland Lehren daraus zieht und seine Außenpolitik und Bundeswehr auf Vordermann bringt. Ich persönlich liebe Russland, ich habe dort einige Zeit verbracht und spreche fließend Russisch. Ich habe eine große Liebe für das russische Volk und für das Land, genauso wie für die Ukraine. Aber man kann sich einfach nicht weiter Illusionen hingeben, weil dann wird man demnächst die russischen Panzer vor der eigenen Tür stehen sehen.

Dieser Krieg hätte verhindern werden können, wenn man früher Russland blockiert und isoliert hätte. Die Ukraine verteidigt hier ihr eigenes Land sehr sehr heldenhaft, aber sie verteidigt genauso Freiheit und Frieden in der EU. Von daher bin ich sehr froh zu sehen, dass endlich Maßnahmen ergriffen werden, wenn auch viel zu spät.

Ukrainer*innen suchen in U-Bahn Stationen Schutz vor den Bomben.
Foto: Marie, Kyiv, Februar 2022

Wie ist die Haltung der Ukraine?

Die Ukraine ist sehr desillusioniert über das Verhältnis zur EU und der NATO und besonders auch zu Deutschland, denn es wurden sehr viele Reden geschwungen und große Worte gesprochen - passiert ist jedoch wenig.

Die Ukrainer*innen sind hier vor acht Jahren in der Maidan Revolution auf die Straßen gegangen, um für Freiheit zu kämpfen und ein Teil von der EU zu werden und nicht länger als Kolonie Russlands zu gelten. Damals hat man den Ukrainer*innen alle möglichen Dinge versprochen und Hoffnungen gegeben. Doch letztendlich gab es nie eine realistische Beitrittsperspektive in die NATO oder die EU. Stattdessen hat die Ukraine die Krim und zwei Provinzen im Osten verloren. Man hat die Ukraine komplett im Stich gelassen und darüber ist man hier sehr enttäuscht.

Ein Satz der hier sehr häufig fällt ist, dass jetzt die NATO einen Beitrittsantrag zur Ukraine stellen sollte, nachdem sie sehen wie dieses kleine Land mit so gut wie keinem Militärbudget und bis vor kurzem noch keiner funktionierenden Armee jetzt der ganzen Welt zeigt, wie sie eine der größten Armeen der Welt, nämlich Russland, Widerstand bietet.

Wie blickst du in die Zukunft?

Ich persönlich bin sehr stolz auf die Ukraine und froh hier zu sein. Wir haben keine Angst, sondern das Gefühl, dass wir am richtigen Ort sind. Deshalb bin ich hoffnungsvoll. Wir träumen von einer Zukunft in der Ukraine und reden viel darüber, wie wir helfen können dieses Land wieder aufzubauen, wenn dieser Krieg gewonnen ist - denn wir sind überzeugt, dass wir diesen Krieg gewinnen werden. Die ganze Welt sollte sich verbeugen vor den Ukraine und ihrer Stärke.

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