Wie drastisch und langfristig die Folgen der Corona-Pandemie global zu spüren sein werden, lässt sich aktuell nur schwer abschätzen. Doch die bisher aufgestellten Prognosen werfen ein düsteres Bild auf und es zeigt sich bereits jetzt deutlich, dass die Pandemie wie ein Brennglas bestehende globale Ungerechtigkeiten weiter verschärft. Sei es die globale Verteilung von Vermögen oder der weltweite Zugang zu Impfstoffen: Das Virus trifft nicht alle gleich und besonders Menschen in den einkommensschwächsten Ländern der Welt werden sich um Jahre langsamer von den Folgen der Pandemie erholen – sozial, gesundheitlich und wirtschaftlich.
Zwar hat die Frage nach dem notwendigen globalen Zugang zu Impfstoffen hierzulande und in der EU mittlerweile mehr Gehör gefunden, dennoch wird in vielen Bereichen die globale Dimension der Pandemie scheinbar schlichtweg ignoriert – so auch die Folgen auf den menschenrechtlich garantierten Zugang zu Bildung. Allein zu Beginn des ersten Lockdowns im April 2020 waren weltweit knapp 85% der Schüler*innen von Schulschließungen betroffen. Dabei zeigten vorhergehende Katastrophen, wie drastisch sich daraus resultierende Schulschließungen auf den weiteren Bildungsverlauf von Schüler*innen auswirkt: Studien infolge des Erdbebens in Pakistan 2005 ergaben, dass Schulschließungen von drei Monaten in den betroffenen Gebieten zu einem Lernverlust von etwa 1,5 Jahren im nationalen Vergleich geführt hatten. Solche Entwicklungen drohen sich jetzt global in Folge der Pandemie zu wiederholen.
Die globale Bildungskrise ist kein Novum
Dabei ist die globale Bildungskrise nicht erst mit der Pandemie entstanden. Bereits 2014 sprach die UNESCO von einer globalen Bildungskrise, die die Weltgemeinschaft jährlich 10% der globalen Ausgaben in Grundbildung kostet. In absoluten Zahlen entspricht das 129 Milliarden US-Dollar. Zur Berechnung dieser Kosten entwickelte die Weltbank und die UNESCO schon vor Corona das Konzept der Learning Poverty oder zu Deutsch der Bildungsarmut. Im Gegensatz zu den absoluten Zahlen der Grundschulbesuche weltweit, die in den letzten 20 Jahren fast durchgängig einen positiven Trend erlebten, orientiert sich das Konzept der Bildungsarmut an der Lesefähigkeit eines Kindes. Dem Begriff wird die Annahme zu Grunde gelegt, dass Kinder im Alter von zehn Jahren einen grundlegenden Meilenstein in ihrer Bildungslaufbahn erreichen. In diesem Alter müssen Kinder eine einfache Geschichte lesen und verstehen können, um in ihrem weiteren Bildungsverlauf überhaupt Lernerfolge erzielen zu können. Hinter dem Konzept steht die Idee neben dem quantitativen Zugang zu Bildungseinrichtungen in einem Land auch die Qualität der Bildung messen zu können.
Zwar werfen einige Expert*innen ein, dass die Lesefähigkeit zehnjähriger Kinder nicht als alleiniger Indikator für den Bildungsstand eines Landes herangezogen werden könne, doch zeigen die kürzlich veröffentlichen Zahlen deutlich die Auswirkungen einer über Jahre vernachlässigten Krise: Während sich in Europa und Nordamerika der Anteil von Bildungsarmut betroffener Kinder 2021 auf zwischen 0,5% und 2,4% beläuft, können in Südasien 33,9% und in Subsahara-Afrika 38,1% der Kinder im Alter von zehn Jahren nicht lesen – eine globale Schieflage, die nicht allein auf die Pandemie zurückzuführen ist.
Corona als Katalysator
Trotz der alarmierenden Zahlen wurde die globale Bildungskrise scheinbar von der Internationalen Gemeinschaft ignoriert. Nun droht die Pandemie die bestehende Krise weiter zu befeuern. Allein zu Beginn der Pandemie im April 2020 waren in etwa 1,5 Milliarden Schüler*innen von Schulschließungen betroffen und bis heute sind Schulen in zahlreichen Ländern immer noch, wieder oder teilweise geschlossen. Die Weltbank befürchtet, dass 72 Millionen Kinder zusätzlich infolge von Corona in Bildungsarmut verfallen könnten. Die Gründe dafür sind vielfältig.
Zunächst ist hier die mangelnde digitale Infrastruktur zu nennen. Auch hierzulande wird zurecht darüber debattiert, dass der seit Jahren verfehlte Netzausbau nun besonders zu Lasten der Schüler*innen geht. Ein Blick auf andere Teile der Welt gibt hierzu ein noch verheerenderes Bild ab: So haben beispielsweise in Afrika gerade einmal 28% der Bevölkerung Zugang zum Internet und in Ländern wie Somalia beläuft sich der Anteil der Bevölkerung mit Internetzugang auf sogar nur 2%. Einige Länder unternahmen daher Anstrengungen den Schulschließungen durch die Übertragung von Lernprogrammen via TV oder Radio zu kompensieren. Länder wie Sierra Leone oder Benin greifen dabei auf die Erfahrungen aus der Ebola-Epidemie zurück. Dennoch ist es in zahlreichen Ländern nicht gelungen, alle Schüler*innen via Remote-Unterricht zu erreichen. Für sie war der Zugang zu Bildung mit den Schließungen von Schulen schlichtweg beendet.
Neben der mangelnden Infrastruktur dürfen auch die sozialen Faktoren von Schulbesuchen nicht außer Acht gelassen werden. So bieten die Schulen für Kinder vielerorts einen sicheren Rückzugsort, an dem sie vor häuslicher Gewalt geschützt sind. Außerdem sind in etwa 310 Millionen Kinder weltweit auf ihr tägliches Schulessen angewiesen. Mit dem Lockdown und den damit verbunden Schulschließungen war ihnen auch hierzu der Zugang plötzlich verwehrt. Ebenso waren viele Lehrer*innen schlichtweg nicht für digitale Unterrichtsformen vorbereitet und konnten eine notwendige Ausbildung hierzu nicht in kürzester Zeit nachholen.
Und auch wenn nach und nach Schulen nun wieder öffnen, ist die Rückkehr aller Schüler*innen keine Selbstverständlichkeit. Die Ebola-Epidemie in Westafrika von 2014 bis 2016 zeigte, dass die Zahl der Einschreibungen von Schüler*innen in Liberia in dieser Zeit bemerkbar abnahm, da die Eltern um die Sicherheit ihrer Kinder in den Schulen fürchteten. Vor allem Mädchen sind davon betroffen, nicht in die Schule zurückkehren zu können. Der Malala-Fund berechnete auf Grundlage der Erfahrungen aus der Ebola-Epidemie, dass bis zu 20 Millionen Schülerinnen nach Corona nicht in die Schule zurückkehren könnten. Mit der damaligen Gesundheitskrise ging für viele Familien ebenso eine wirtschaftliche Krise einher, sodass besonders die Mädchen der Familien in die Lohnarbeit gedrängt wurden und gar die Hauptverdienerinnen des Haushalts wurden. Auch mit Öffnung der Schulen waren die Familien weiter auf dieses Einkommen angewiesen und die Mädchen konnten nicht in den Klassenraum zurückkehren. Gleichzeitig zeigten die Erfahrungen während Ebola, dass die Schwangerschaften im Jugendalter, auch in Folge von sexuellem Missbrauch und Gewalt, deutlich zunahmen. Diese Entwicklungen könnten sich nun infolge der Corona-Pandemie wiederholen und die Auswirkungen könnten sich auch auf die erreichten Fortschritte im Bereich der Geschlechtergerechtigkeit niederschlagen.
Es gibt keinen Weg zurück zu Business as usual
Ein düsteres Bild zeichnet sich angesichts dieser Prognosen ab und eines ist sicher: Wir können in der globalen Bildungskrise auch nach der Pandemie nicht zum Alltagsgeschäft zurückkehren. Folgerichtig hat die Europäische Union ihren Einsatz für globale Bildung auch für den Zeitraum von 2021 bis 2028 als eine Priorität ihrer Entwicklungszusammenarbeit erklärt. Gleichzeitig hat sie jedoch mit dem Brexit eine wichtige Treiberin für globale Entwicklungszusammenarbeit in ihrer Mitte verloren. Die UK erreichte als eines der wenigen europäischen Länder über Jahre die sogenannte ODA-Quote von 0,7%. Bereits 1970 von den Vereinten Nationen festgelegt, sollen Industrieländer diesen Prozentsatz ihres Bruttonationaleinkommens in die öffentliche Entwicklungszusammenarbeit investieren. Nun kündigte die Regierung von Premierminister Boris Johnson an, die Quote in diesem Jahr erstmals seit 2013 nicht zu erfüllen. Es liegt jetzt an der EU, die UK trotz zahlreicher Differenzen weiter als starke Verbündete in der globalen Entwicklungszusammenarbeit zu gewinnen und eine gemeinsame Stimme hierfür auf dem internationalen Parkett zu formen. Sogleich sollten die 27 EU-Mitgliedsstaaten selbst das 0,7%-Ziel in den kommenden Jahren erreichen und sicherstellen, dass ein größerer Teil hiervon künftig in die Förderung hochwertiger und inklusiver Bildung fließt.
Dabei kann die EU noch im Sommer diesen Herausforderungen entgegentreten und die eigenen Versprechen unter Beweis stellen. Am 28. und 29. Juli 2021 findet unter der britischen G7-Ratspräsidentschaft die turnusmäßige Finanzierungskonferenz der globalen Bildungspartnerschaft (GPE) für die kommenden vier Jahre statt. Die GPE ist der größte globale Fonds, der sich ausschließlich der Verbesserung der Bildung in Ländern mit geringem Einkommen widmet, und eine Multi-Stakeholder Partnerschaft bestehend aus Zivilgesellschaft, Expert*innen Internationaler Organisationen sowie Geber- und Partnerländern. Konkret unterstützt die GPE ihre Partnerländer bei dem Aufbau von Bildungseinrichtungen und bringt gemeinsam mit ihnen die Entwicklung und Überprüfung von qualitativen und inklusiven Bildungsprogrammen voran. Nun liegt es an der EU ihre starke finanzielle Zusage von der letzten GPE-Finanzierungskonferenz von 2018 zu wiederholen und auch einzuhalten. Damals machte sie mit 337,5 Millionen Euro die größten Zugeständnisse aller Geberländer, wobei jedoch 28% der versprochenen Gelder bisher nicht bei der GPE ankamen (Stand: Dezember 2020). In Anbetracht der sich weiter verschärfenden globalen Bildungskrise darf die EU bei der jetzt anstehenden Finanzierungskonferenz nicht hadern und wie in der Impfstoffdebatte in nationales Gebaren zurückverfallen.
Gleichzeitig darf die EU den steigenden finanziellen Druck auf viele Länder im globalen Süden infolge der Pandemie nicht unterschätzen. So investierten Länder mit schwachem Einkommen bereits vor der Pandemie 85-mal weniger in die Bildung pro Schüler*in als Länder mit hohem Einkommen. Dieses begrenzte Budget in Bildung droht nun in Ausgaben in das öffentliche Gesundheitssystem umverteilt zu werden und das Schuldenmoratorium der G20 bis Ende 2021 gibt den einkommensschwächsten Ländern der Welt nur eine kurze Verschnaufpause von der erdrückenden Schuldenlast. Dabei werden die sozialen, wirtschaftlichen und gesundheitlichen Folgen der Pandemie voraussichtlich auch weit über 2021 zu spüren sein. Doch gerade im Bildungssektor werden alle Länder weltweit entscheidende Investitionen tätigen müssen, um den verpassten Schulunterricht und den damit verlangsamten oder gar ausgebliebenen Lernfortschritt der Schüler*innen zu kompensieren. Die EU sollte dementsprechend bewerten, ob gar Schuldenerlasse eine indirekte Möglichkeit sein könnten, um solche Investitionen für alle Länder möglich zu machen. Im gegebenen Fall sollte sie sich und ihre Mitgliedsstaaten in den dafür zuständigen internationalen Institutionen einsetzen.
Insgesamt wirken die Herausforderungen, vor die uns die globale Bildungskrise stellt, erdrückend. Doch wie die EU auf der Website der Europäischen Kommission selbst logisch schlussfolgert, ist der Zugang zu inklusiver, hochwertiger und gerechter Bildung als Teil der Agenda 2030 Voraussetzung für das Erreichen zahlreicher anderer Nachhaltigkeitsziele und somit der Agenda selbst. Das Bekenntnis der EU und der gesamten Internationalen Gemeinschaft zu den UN-Nachhaltigkeitszielen verpflichtet sie gar dazu, die globale Bildungskrise nicht länger hinzunehmen. Dabei sind die aufgezeigten Lösungsansätze exemplarisch zu verstehen. Wollen wir die globale Bildungskrise ernsthaft und glaubwürdig angehen, sind auch kreative und innovative Lösungen nicht ausgeschlossen. Denn wenn wir jetzt nicht handeln, steht die Entwicklung von über 750 Millionen Kinder bis 2030 auf dem Spiel, so die aktuellen Berechnungen.
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