Die neue europäische Identität

, von  László Mérö

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Die neue europäische Identität
Breslau (Polen) - Europäische Kulturhauptstadt 2016 - Bestimmte archetektonische Merkmale scheinen typisch europäisch. Doch gibt es auch eine typisch europäische Identität? © Jorbasa Fotografie / (CC BY-SA 2.0) / Flickr

Der ungarische Mathematiker, Psychologe und Wirtschaftswissenschaftler László Mérö auf der Suche nach der europäischen Identität. Was zeichnet uns als Europäer speziell aus? Was bedeutet es, „europäisch zu sein“?

Im Jahre 2000, als die Mitgliedschaft in der EU für Ungarn noch eine Utopie war, genoss ich eines Abends mit serbischen Freunden ihren berühmten Sliwowitz. Nach mehreren Stamperl haben sie mich gefragt, warum ich diesen göttlichen Trank schluckweise und nicht auf ex trinke, wie es sich gehört. Ich brummte etwas in meinen Bart: „Wisst ihr, bei uns in Europa trinkt jeder, wie er will.“

Als mir bewusst wurde, was ich da gesagt hatte, versank ich fast vor Scham. Es war ein Jahr nach der Bombardierung Serbiens, in Novi Sad lagen die Donaubrücken noch in Trümmern. „Wie konnte ich so taktlos sein?“, dachte ich und versuchte meinen Ausrutscher zu korrigieren. Doch sie überraschten mich mit „Eigentlich wäre es schön, zu Europa zu gehören, dann könnten wir uns selbst tüchtig bombardieren”. Diese typisch europäische Selbstironie verdutzte mich. Ein bisschen war ich sogar neidisch auf sie. Na klar, sie sind auch Europäer. „Also gut, trink‘, wie du willst“, sagten sie. Ähnlich wie es uns die EU nach unserem Beitritt überließ, unsere Mohnnudeln zu essen, auch wenn dies andere EU-Länder befremdet.

Wir Europäer erkennen uns und werden auch auf der ganzen Welt erkannt. Unabhängig davon, dass es keine genaue Definition dafür gibt, was es bedeutet Europäer zu sein oder was eine sogenannte „europäische Identität“ ausmacht. Ist es unsere überwiegende Zugehörigkeit zum Christentum? Die USA sind „christlicher“ als wir. Und auch was die Wissenschaften betrifft, haben uns die USA – und bald auch China überholt. Um den ehemaligen italienischen Ministerpräsidenten, Enrico Letta zu zitieren, frage ich: „Leben etwa alle Völker Europas als Minderheit?“ Ja, aber das trifft auch auf Indien zu. Wir haben keine einzige Eigenschaft, die ausschließlich für uns typisch wäre.

Wodurch ich Ungar bin, kann ich leicht beantworten. Ungarisch ist die einzige Sprache, in der ich mich präzise ausdrücken kann. Wodurch ich hingegen Europäer bin, das frage ich mich, wie ein sich durch und durch als Europäer empfindender Deutscher, Franzose, Grieche oder Finne das tut. In der Tat haben wir es bisher nicht genau definiert, was es bedeutet, Europäer zu sein. Womöglich weil das bisher keine Notwendigkeit war. Die Situation erinnert mich ein wenig an den jungen, stummen, britischen Adligen, der an seinem achtzehnten Geburtstag zu sprechen beginnt: „Dieser Pudding ist zu sauer“. Als man ihm staunend die Frage stellt: „Sir, warum haben Sie bisher nie etwas gesagt?“, antwortet er: „Bisher war er einwandfrei.“

Auch eine irdische Identität haben wir nicht. Danach hat bisher keiner gefragt und wird es vermutlich nicht tun, es sei denn, wir begegnen Geschöpfen, von denen wir uns unterscheiden wollen, da wir sie als gänzlich „anders“ wahrnehmen. Solange kaum andersartigen Menschen begegneten, konnten wir Europa für den Mittelpunkt der Welt halten. Es war für uns selbstverständlich, wie wir sind, wir empfanden uns vielfältig und in vieler Hinsicht dennoch ähnlich.

Bis jetzt war es unnötig, diesem Problem besondere Bedeutung zuzumessen, wie es zum Beispiel in einem Sportmagazin keine Sportrubrik gibt. Dort dreht sich natürlich alles um Sport, obschon Fußball, Skifahren, Boxen, Schach sich voneinander sehr wohl unterscheiden. Wer ein Sportmagazin liest, weiß ganz genau, was hierher gehört und was nicht. Die technische Hilfe durch einen Videoschiedsrichter ist hier richtig, die Videoüberwachung im öffentlichen Raum hingegen nicht, es sei denn, die Videoüberwachung löst ein Problem, das auch in gewissen Sportarten vorkommt. Dann muss man prüfen, ob diese Lösung auch im Sport anwendbar ist, beziehungsweise dem Geist des Sportes entspricht. Aber selbst wenn das zutrifft, fängt man nicht an, im Sportmagazin zu debattieren, was Sport eigentlich ist, was ihn beispielsweise vom Polizeiwesen unterscheidet.

Einige Arten von Prügelei zählen zweifelsohne als Sport, jedoch die Rauferei in der Kneipe gewiss nicht. Der Krieg ist kein Sport. Um das zu verstehen, muss man nicht die Definition von Fairness bemühen. Unsportlichkeiten kommen in jeder Sportart vor. Die Sportler erledigen das unter sich – in Extremfällen wird der „Sünder“ gesperrt.

Die EU wurde nicht ins Leben gerufen, damit die Gründungsväter für die europäischen Werte einheitlich eintreten. Sie wussten selbst nicht genau, was diese sind. Sie hatten lediglich erkannt, dass alles besser, profan gesagt, billiger ist als der Krieg. Trotzdem war Krieg seit tausend Jahren untrennbar vom europäischen Dasein. Seit dem siebten Jahrhundert waren in Europa keine zusammenhängenden siebzig Jahre vergangen ohne kriegerische Auseinandersetzung zwischen Franzosen und Deutschen. Die großartige Errungenschaft des neuen europäischen Geistes ist der Gedanke, dass wir uns in einem Maße gegenseitig abhängig machen sollten, dass es unmöglich wird, gegeneinander Krieg zu führen. Und das funktioniert nunmehr siebzig Jahre ganz gut. Deutschland gegen Frankreich im Fußball oder Boxen – das geht, Krieg nicht.

Wir können Europa auf keinen Fall als Mittelpunkt der Erde betrachten. Denn wir begegnen zunehmend anderen Kulturen und werden von anderen Denkweisen beeinflusst. Deshalb ist es Zeit, genau festzulegen, was eine europäische Identität heute überhaupt bedeuten soll, welche Gemeinsamkeiten wir haben, außer der Tatsache, auf demselben Kontinent geboren worden zu sein.

Es gibt etwas, was ausschließlich für Europa zutrifft: Der Gedanke, dass der Krieg vermeidbar ist, wenn wir alle es wagten, uns in dem Maße voneinander abhängig zu machen, wie wir es uns bisher nicht vorstellen konnten. Früher waren Säkularisation und Aufklärung die einschneidenden europäischen Ideen. Nun sollten sie mit dem andauernden Frieden ergänzt werden.

Ihr Kommentar
  • Am 1. Februar 2017 um 11:25, von  mister-ede Als Antwort Die neue europäische Identität

    Aussehen, Sprache und religiöse Überzeugungen kennzeichnen Europäer. So sind einheimische Europäer weiß und haben einen europäischen Körperbau, sie sind Christen, Juden, Muslime oder Atheisten und sie haben eine europäische Sprache als Muttersprache. Ausnahmen bestätigen natürlich die Regel. Aber üblicherweise haben Personen, auf die einer dieser drei Punkte nicht zutrifft, mindestens Teile ihrer Wurzeln außerhalb Europas, während z.B. US-Amerikaner, auf die diese drei Punkte zutreffen, ihre Wurzeln üblicherweise in Europa haben.

  • Am 2. Februar 2017 um 00:20, von  duodecim stellae Als Antwort Die neue europäische Identität

    Wenn man genau auf Kultur und Geschichte schaut erübrigt sich die Frage nach europäischer Identität. Ein Europäer ist in der Regel jemand, der in der westlichen Region des eurasischen Kontinents lebt, eine indogermanische Sprache als seine Muttersprache spricht, die in der Regel zu den romanischen, germanischen oder slawischen Sprachen gehört, mit Ausnahme von Balten, Finnen, Ungarn und Basken, das arabische Zahlensystem und die lateinische Schrift verwendet, mit Ausnahme von Griechen und einer Hand voll Süd- und Ostslawen und einer monotheistischen Religion angehört, die aber meist nur halbherzig praktiziert wird, was eine der Errungenschaften der europäischen Aufklärung und der europäischen Hinwendung zum Weltlichen ist.

    Typisch europäisch ist auch der weit verbreitete Genuss von Alkohol in Form von Bier und Wein und generell eine Esskultur, die geprägt ist durch im internationalen Vergleich schwach gewürzte (insbesondere im Hinblick auf Schärfe) Speisen. Außerdem stellt Europa ein verflochtenes Kulturkontinuum dar, dass sich kulturell weit über die kontinentalen Grenzen ausdehnt. Westmitteleuropäer, also z.B. ein „Deutscher“ und ein „Franzose“ haben weit mehr miteinander gemein, als ein „Deutscher“ und ein „Bulgare“, oder ein „Franzose“ und ein Rumäne, obwohl beide eine romanische Muttersprache haben. Auch hat ein „Brite“ mehr kulturell gemein mit einem US-Bürger und ein „Spanier“ mit einem Argentiner.Dies liegt aber am Ende daran, dass Europa während der Phase des eurozentrischen Kolonialismus Teile seiner Zivilisation und Kultur in die ganze Welt aggressiv verbreitete. Jene Zivilisation, die im antiken Griechenland ihren Ursprung nahm, über das Römische Imperium verbreitet wurde und in Reinkarnationen wie dem Frankenreich und dem heiligen Römischen Reich wieder auflebte, in denen Germanen und Lateiner als Untertanen zusammenlebten. Über mehr als 2000 Jahre haben Europäer dabei parallele zivilisatorische Entwicklungen durchlebt, bis heute, in der Zeit in der es mit der Europäischen Union wieder ein gemeinsames politisches Gebilde gibt, dass uns auch formell, über eine EU-Bürgerschaft zu eindeutigen Europäern macht.

    Dementsprechend erlaube ich mir den Autor historisch zu korrigieren: „Seit dem 7. Jahrhundert Kriege zwischen Franzosen und Deutschen“ kann man nicht sagen, weil Franzosen und Deutsche zu der Zeit noch gar nicht existiert hatten. Es waren eher Erbfolgekriege, die Resultat der Aufteilung des Frankenreichs unter den Nachfahren Karls des Großen waren. Erst durch die Erfindung der Ideologie des Nationalismus durch „Frankreich“ und die Erfindung der „Deutschen“ vor knapp 200 Jahren, wurde eine derart nationalistische Umdeutung der historischen Geschehnisse möglich.

  • Am 2. Februar 2017 um 10:10, von  mister-ede Als Antwort Die neue europäische Identität

    @duodecim stellae

    Ich muss ein wenig schmunzeln, weil ich gestern überlegt habe, das auch zu schreiben. Esskultur, Kleidung und vieles mehr eint uns Europäer bzw. unterscheidet uns von anderen. Wir sind auch keine Nomadenvölker und organisieren uns nicht in Stammessystemen. Ich hatte dann aber keine Lust, hier einen ewig langen Beitrag zu schreiben.

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