Die vierte industrielle Revolution

Serie: Wege aus der Krise

, von  Julius Leichsenring

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Die vierte industrielle Revolution
Die menschenleere Fabrik wird es wohl auch in Zukunft nicht geben. Doch die Arbeitsbedingungen werden sich aufgrund der Digitalisierung phänomenal wandeln. Foto: © Europäisches Parliament, 2015

Tack, tack, tack – bis zum Ende der Zeile – dann ein lautes Kling: die typischen Geräusche einer Schreibmaschine sind längst aus den Büroräumen unserer Zeit verbannt. Mit dem Einzug des Computers und damit auch des Internets änderten sich die Arbeitsbedingungen von Millionen von Menschen radikal. Die Digitalisierung des Schreibtischlebens ist bereits in vollem Gange – nun sind die Fabrikhallen dran: Roboter planen autonom die optimalen Produktionsschritte, bestellen eigenständig Teile und organisieren die Auslieferung des Endprodukts zum Kunden. Industrie 4.0 wird das genannt. Europa möchte dabei vorne mitspielen, um den Weg aus der Krise zu finden.

Das auf der weltweit größten Ausstellung für Unterhaltungselektronik – die Consumer Electronics Show (kurz CES) in Las Vegas – nicht mehr nur Bildschirme flimmern, sondern auch Autos und Kühlschränke ausgestellt werden, mag einigermaßen verwundern. Doch die jährlich im Januar stattfindende IT-Messe zeigt, dass wir uns mitten in einer Revolution befinden – vergleichbar mit der Elektrifizierung. Die technischen Geräte um uns herum werden intelligenter und sollen in Zukunft sämtliche Lebensbereiche erfassen. Über das Internet sind sie miteinander verknüpft (Internet der Dinge) und entwickeln aus der Masse an gewonnen Daten (Big Data) eigenständig Lösungen für ein besseres Leben und neue Freiräume. Dass Autos ihre Passagiere autonom an ihr gewünschtes Ziel fahren und Kühlschränke von allein Lebensmittel bestellen, scheint nur der Beginn einer langen Entwicklung zu sein.

Das Zusammenwachsen der realen und virtuellen Welt verändert nicht nur die Freizeit, sondern auch das Arbeitsleben: „Die Wirtschaft steht an der Schwelle zur vierten industriellen Revolution“, heißt es dazu auf der Internetseite des Bundesbildungsministeriums. Im Klartext bedeutet das: Nach der Automatisierung kommt nun die Digitalisierung der Fabrik – die Industrie 4.0. In dieser sind Roboter und Maschinen an das Internet angeschlossen, sie kommunizieren miteinander und fällen eigenständig Entscheidungen. Allein durch die erzielte Produktivitätssteigerung könnte die EU ihr selbstgestecktes Ziel erreichen. Nämlich den Industrieanteil an der gesamtwirtschaftlichen Wertschöpfung von derzeit 15 Prozent auf 20 Prozent bis 2020 zu steigern.

„Wir müssen eher aufholen, als dass wir an der Spitze stehen“

Kein Wunder, dass Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker die digitale Agenda zu einem Schwerpunkt seiner Politik erklärt hat. Der Luxemburger erhofft sich von einem vernetzten digitalen Binnenmarkt in Europa ein zusätzliches Wachstum von bis zu 250 Milliarden Euro in den kommenden Jahren und hunderttausende neue Arbeitsplätze. In ihrem Arbeitsprogramm für das Jahr 2015 kündigt die Kommission deswegen eine Ergänzung des Regulierungsrahmens für den Telekommunikationssektor und eine Anpassung des Urheberrechts an. Zudem soll unter anderem die Digitalisierung auch in anderen Politikbereichen verankert und die Cyber-Sicherheit erhöht werden. Wie genau ein einheitlicher digitaler Wirtschaftsraum in Europa geschaffen werden kann, möchte der zuständige EU-Kommissar für „Digitale Wirtschaft und Gesellschaft“ Günther Oettinger bis Mai erarbeitet haben. Für ihn steht fest: „Europa ist in keiner guten Form, was seine Informationstechnologie anbelangt.“

Das ist kaum bestreitbar: US-Unternehmen wie Google, Amazon und Facebook zeigen, dass die EU den ersten Schritt der Digitalisierung verschlafen hat. Jahrelang stand für die Kommission die Senkung der Roaming-Gebühren und der Preise für Telekommunikationsangebote mehr im Mittelpunkt als die Harmonisierung der Märkte. Die Folge: Ehemalige Branchenprimusse wie Siemens, Nokia oder Alcatel spielen heute auf den internationalen Märkten für das digitale Geschäft nur noch eine untergeordnete Rolle. Die Befürchtung ist, dass führende Unternehmen im digitalen Bereich nun auch die industrielle Produktion übernehmen könnten. So forscht der Internetgigant Google bereits an einem autonom fahrenden Auto. „Wir müssen eher aufholen, als dass wir an der Spitze stehen“, stellte Angela Merkel jüngst auf dem Wirtschaftsforum in Davos fest.

Jeder zweite Job gefährdet

Doch nicht nur die Harmonisierung der Märkte steht der Aufholjagd im Wege, sondern auch ein massiver Investitionsstau: Die EU schätzt, dass der Ausbau eines flächendeckenden Hochgeschwindigkeitsnetzes unter anderem mit Glasfaserkabeln zwischen 180 und 270 Milliarden Euro kostet. Schnelle, störungsfreie Übertragungswege bilden die Voraussetzung für die Digitalisierung der europäischen Wirtschaft und damit für die Industrie 4.0. Finanziert werden soll der Ausbau des Breitbandnetzes unter anderem mit Hilfe des von Juncker angekündigten 315 Milliarden schweren Investitionsprogramms – zumindest wenn es nach Vorstellung der deutschen Bundesregierung geht. Sie fordert die Kommission in einem offenen Schreiben dazu auf, einen „maßgeblichen Schwerpunkt“ auf den Ausbau der digitalen Infrastruktur zu legen.

Zudem muss für eine bessere Akzeptanz innerhalb der Bevölkerung geworben werden. In den kommenden 20 Jahren dürfte jeder zweite Job gefährdet sein, weil Maschinen verstärkt Routinearbeiten übernehmen. Dadurch verschieben sich die Ansprüche an die Arbeitnehmer. Sie sollen verstärkt Prozesse vorausdenken, mögliche Fehlerquellen beheben und ihre Analysen in Software übersetzen. „Wir müssen es schaffen, dass Digitalkompetenz in allen Teilen der Gesellschaft ohne Wenn und Aber als Schlüsselqualifikation begriffen und angestrebt wird“, stellte der Arbeitgeberpräsident Ingo Kramer auf einer Fachtagung zum Thema digitale Wirtschaft und Arbeitswelt Ende vergangenen Jahres deswegen klar. Gleichzeitig spielt den Unternehmen aber der demografische Wandel in die Hände. Bereits jetzt ist absehbar, dass eine zunehmende Zuwanderung diesen nicht ausgleichen kann. Umso wichtiger ist es, die verbleibenden jungen Leute auf die Arbeitswelt der Zukunft vorzubereiten. Die Förderung von Digitalkompetenzen und des digitalen Lernens ist deswegen ein weiterer Schwerpunkt der EU-Kommission auf dem Weg zu einem digitalen Binnenmarkt.

Seit dem Ausbruch der Wirtschafts- und Finanzkrise 2008 beschäftigt sich die Europäische Union vorwiegend mit der Krisenbewältigung. Noch sind die Probleme nicht gelöst. treffpunkteuropa.de stellt in einer Serie fünf alternative Wege aus der Krise vor.

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