Juristisch gesehen ist die Türkei zwar nach wie vor eine Demokratie, faktisch jedoch hat der Präsident die totale Macht über den Staat übernommen. Die letzten Reste der unabhängigen Justiz, um die es in der Türkei noch nie besonders gut bestellt war, wurden durch die Entlassung von über 2000 Richtern im Handstreich genommen. Das Militär – hier kann man noch am ehesten Verständnis für das Handeln Erdogans aufbringen – wurde seit dem Putschversuch systematisch nach politischen Gegnern und möglichen Putschteilnehmern durchsucht. 15.000 Beamte, darunter viele aus dem Bildungssektor, wurden über Nacht entlassen und seit Mitte der Woche gibt es ein Ausreiseverbot für Akademiker.
Politische Säuberung nach dem Putschversuch
Die Geschwindigkeit, mit der Erdogan seine politischen Gegner mundtot macht, lassen nur einen Schluss zu: die Aktion war von langer Hand geplant. Der Putsch war nicht der Auslöser der „Säuberungen“ – wie Erdogan sie selber nennt – sondern nur der Anlass. Überhaupt: die Rhetorik, die Erdogan an den Tag legt erinnert an die dunkelsten Kapitel der Menschheitsgeschichte. Putschbeteiligte und Sympathisanten betitelt er als „Viren“ und „Krebsgeschwüre“, er vermutet „ausländische Blutsauger“ hinter den Taten und möchte den Staat „säubern“. Erdogan nutzt die Rhetorik Stalins und Hitlers, um sich an seinen Gegnern und deren Sympathisanten zu rächen. Wer sich auch nur rudimentär mit der Geschichte des Dritten Reiches und der Machtergreifung auskennt, kann nicht umhin, frappierende Parallelen zu entdecken. Die letzten freien Zeitungen werden gleichgeschaltet, Radiosender verboten und öffentliche Proteste jeglicher Art sind nicht mehr möglich. Hinter allem steckt angeblich der Prediger Fethullah Gülen – auch diese Art der Verbreitung von Verschwörungstheorien, bei denen angebliche finstere Mächte die Einheit der Nation zerstören möchten, erinnert fatal an die Propaganda aus dem Dritten Reich. Beweise? Fehlanzeige. All das müsste die Europäer nicht weiter kümmern, wenn es uns nicht direkt in unserem Alltag betreffen würde, denn Erdogan hat nicht nur einfach die Macht an sich gerissen, der überwiegende Teil der Bevölkerung ist damit einverstanden und billigt jeden seiner Schritt. Erdogan hat tatsächlich eine Diktatur von Volkes Gnaden errichtet – ein Großteil der Türken in der Türkei, aber auch hier in Deutschland, liegt Erdogan zu Füßen. Die nun offen zutage tretende Feindlichkeit der Erdogan-Administration, aber auch eines großen Teils der Türken hüben wie drüben gegenüber westlichen Demokratievorstellungen bereitet der Europäischen Union ein zentrales Glaubwürdigkeitsproblem: Erstens ist die Europäische Union vor sechs Monaten mit der Türkei einen „Flüchtlingsdeal“ eingegangen ist, der zentral auf einer partnerschaftlichen Bewältigung des zuvor unkontrollierten Flüchtlingsstroms aus Syrien und Nordafrika beruht – die Türkei ist als Diktatur keinesfalls mehr auch nur annähernd ein sicherer Drittstaat, mit dem man ein solches Abkommen weiter umsetzen kann und darf. Zweitens ist die Türkei Beitrittskandidat zur Europäischen Union, drittens ist die Türkei Mitglied der NATO und viertens des Europarates. Fünftens – und das besorgt den Autor in besonderem Maße – wird Erdogans Machtergreifung von großen Teilen der in Deutschland lebenden Türken auch hier bei uns in aggressivster Manier gegen Kritik in Schutz genommen. Kritiker seiner Politik, z.B. deutsche Abgeordnete mit türkischen Wurzeln werden angefeindet und offen auch körperlich bedroht. Man muss konstatieren, dass in der türkischstämmigen Gemeinde in Deutschland eine erschreckend hohe Zahl an Erdoganapologeten vorhanden ist, die im Netz gegen ihre „Feinde“ hetzen, auf offener Straße – wie kürzlich in Gelsenkirchen geschehen – politisch Andersdenkende angreifen und die bei ihrer „Kritik“ jegliche kritische Reflexion vermissen lassen.
Diese Türkei darf nicht mehr Partner der EU sein
Eine Türkei von Erdogans Gnaden, die die grundlegendsten Prinzipien von Demokratie und Rechtsstaat nicht mehr auch nur im Mindesten zu respektieren gewillt ist, kann und darf für keines der genannten Beispiele mehr ein Partner der Europäischen Union sein. Wer ernsthaft im 21. Jahrhundert erwägt, nachträglich(!) eine Strafe für ein mutmaßliches Verbrechen zu verschärfen und damit gegen einen der wichtigsten Prinzipien, das wir aus dem Römischen Recht in das westliche Rechtssystem übernommen haben verstößt („Nulla poena sine lege – Keine Strafe ohne Gesetz“), der muss mit allem Nachdruck und umgehend aus der Wertegemeinschaft des Westens ausgeschlossen werden.
Es ist schlimm genug, dass über die Menschenrechtsverstöße in der Türkei während des Kalten Krieges in Zeiten der Militärdiktatur aus Gründen der militärischen Strategie hinweggesehen wurde. Es ist schlimm genug, dass wir auch in der europäischen Familie mit Ungarn einen Staat bei uns dulden, der sich von der nun von Erdogan umgeformten „Republik“ nur rudimentär unterscheidet. Umso dringlicher ist es, dass die Europäischen Staaten nun endlich deutlich machen, wo die rote Linie ist. Wir haben mit Putin und Lukaschenko bereits zwei Autokraten in Europa und in Ungarn und Polen Regierungen mit autokratischen Zügen. Eine Diktatur als EU-Beitrittskandidat, die ohne Scham die Wiedereinführung der Todesstrafe auch nur erwägt, sollte die EU nicht dulden. Das bedeutet aber auch, dass die CDU/CSU nun ihre Bande zur Fidesz-Partei im Europäischen Parlament brechen muss und dass auch die deutschen Sozialdemokraten endlich mit ihren rumänischen „Kollegen“ die Fraktionsgemeinschaft auflösen. Autokraten vom Stile Erdogans machen sich die vermeintliche Doppelmoral des Westens immer wieder zu nutzen, indem sie ihre eigenen Verbrechen mit den Fehlern der westeuropäischen Staaten relativieren. Frau Merkel wird das auch erkannt haben. Ihre Zurückhaltung liegt sicher darin begründet, dass ein zu harsches Auftreten über Nacht den Flüchtlingsdeal platzen lassen könnte. Der Brexit bedroht deutsche Exporte ohnehin bereits, Unsicherheiten auf dem türkischen Markt sind sicher das Letzte, was die deutsche und europäische Wirtschaft gerade brauchen. Die strategisch wichtige Position der Türkei für den Westen in Hinblick auf den Nahen Osten lässt sich zudem nicht wegdiskutieren.
Die Beitrittskandidatur sollte abgebrochen werden
Was ist also zu tun? Trotz der Risiken darf die EU nicht an ihrer Beitrittsperspektive für die Türkei festhalten – nicht nur Erdogan ist nicht reif für die Europäische Union, auch die Mehrheit der Türken, die ihn unterstützt, ist es offenbar nicht.
Die Flüchtlingswelle wird also möglicherweise in den nächsten Wochen wieder anrollen, sollte sich die EU tatsächlich zu drastischen Schritten entschließen. Unerwartet bekommt Griechenland damit nun von seinem Erzfeind ein „Glückslos“ in die Hand: die EU muss tausende Grenzbeamte nach Griechenland beordern, um übergangsweise, bis Frontex zu einer tatsächlichen europäischen Grenzbehörde aufgewertet wurde, die Funktion geregelter Einwanderung zu organisieren. Die Hotspots müssen zum Außenposten der europäischen Asylpolitik fortentwickelt werden. Gleichzeitig sind die 27(28) EU-Staaten gefordert, sich erneut über eine gemeinsame Flüchtlingspolitik zu beraten.
Erdogans Türkei hat uns seit Freitag ihre hässliche Fratze gezeigt – alle Skeptiker, die ihn immer als Wolf im Schafspelz gesehen haben, hatten Recht. Diese Türkei gehört nicht zu Europa.
1. Am 24. Juli 2016 um 13:05, von Alexander Peters Als Antwort Diese Türkei gehört nicht zu Europa
SCHANDE DURCH ANBIEDERUNG
Schrock spricht unerschrocken aus, was ist.
Die EU-Demokratien - die Steinmeiers und Mogherinis - haben sich jahrelang von dem Gedanken, „Wandel durch Annäherung“ leiten lassen: "Wozu denn die stressige Auseinandersetzung mit dem anti-demokratischen Unrecht? Viel
klüger
(und bequemer !) ist doch, durch einträglichen Handel undDialog
eine allmähliche Wandlung zugunsten der Demokratie herbeizuführen. Wenn man Verbrecher nur lange genug alslupenreine Demokraten
verwöhnt oder ungefestigte Bananenrepubliken alsBeitrittskandidaten
, dann werden sie sich schon irgendwann auch in solche verwandeln."Einen Wandel gab es auch - aber zuungusten der Demokratie. Wie zu Chamberlainzeiten wirkt die parlamentarische Demokratie gestrig und ist überall auf dem Rückzug. Der arabische Frühling ist gescheitert und den Ukrainern hat ihr Setzen auf das demokratische Europa, Gebietsverluste, tausende Tote und Dauerwirtschaftskrise gebracht. Im Osten ist der europäisch-demokratische Weg damit erledigt: In dem Elend landen, in dem man die Ukrainer sitzen ließ, wird kein Russe/ Weißrusse wollen. Putin, 2012 noch von Massenprotesten bedroht, ist heute als Krim- und Syriensieger unanfechtbar. Vom demokratischen Politkowskaja-und-Njemtzow-Rußland bleibt nur der Friedhof, auf dem sie liegen; der Gezi-Park-Türkei von 2013 blüht dasselbe.
Nein, die EU-Demokratien strahlen nicht mehr auf die Diktaturen aus - dafür jetzt diese auf sie: Heute kämpfen nicht mehr Putin und Erdogan ums politische Überleben wie 2012/13, sondern Merkel und Hollande. Der neue Chic des Führertums hat ihnen innerhalb der EU Widersacher - Orban, Kaczynski - beschert und bei den kommenden Wahlen sitzen Ihnen sogar im eigenen Land die von Putin finanziell, medial und geheimdienstlich kräftig unterstützten Petrys und le Pens im Nacken.
Schrock hat Recht: der Bruch mit der Türkei ist unvermeidlich - obwohl der Schaden für Europa noch größer sein kann, als von ihm umrissen. Nicht Flüchtlinge und Exportausfälle sind die Hauptgefahr. Die besteht vielmehr in dem sich abzeichneneden Bündnis der Diktatoren. Erdogan hat sich für den Flugzeugabschuß kürzlich entschuldigt und reist demnächst nach Moskau. Da Brüssel und Berlin seit der Krim-Invasion die militärische Schwäche und die Gazprom-Abhängikeit Europas nicht ernsthaft vermindert haben, kann ein Erdogan-Putin-Pakt zum Albtraum werden: Die bisher noch nicht von Rußland kontrollierte EU-Energieversorgung fließt hauptsächlich durch türkische Leitungen. Neue Erpressungsmittel - für Putin vielleicht die günstige Gelegenheit, endlich den Rest der ukrainischen Beute militärisch einzusammeln ...
Vor dem frühen Widerstand gegen die Unrechtsregime haben sich die Demokratien Europas gedrückt; der späte, vor dem sie sich nicht werden drücken können, wird sie ein Vielfaches an Opfern kosten.
Eine Politik der „Schande durch Anbiederung“ hat eben Ihren Preis.
2. Am 27. Juli 2016 um 17:34, von mister-ede Als Antwort Diese Türkei gehört nicht zu Europa
Weil es selbst für Asylberechtigte keine regulären Wege nach Europa gibt, ertrinken im Mittelmeer im Schnitt jeden Tag knapp 20 Schutzsuchende, jeden Monat 500. Ich denke, Europäer, die so ein Sterben zulassen, sind wohl keine guten Ratgeber, wenn es um Werte geht. Außerdem wäre es völkerrechtswidrig, den türkischen Teil von Europa einfach abzusprengen (oder wie auch immer die Überschrift zu verstehen ist).
3. Am 27. Juli 2016 um 23:12, von Alexander Peters Als Antwort Diese Türkei gehört nicht zu Europa
Sehr geehrter „mister-ede“,
wie eine „Überschrift zu verstehen ist“, hat sich schon häufig durch Lesen des darunter befindlichen Textes herausfinden lassen ...
4. Am 28. Juli 2016 um 00:44, von mister-ede Als Antwort Diese Türkei gehört nicht zu Europa
@Alexander Peters
Und wie ein Kommentar zu verstehen ist, ergibt sich aus dem Kontext. Hier kannst du nachlesen, wie viele Menschen an Europas Grenzen sterben:
http://www.wiwo.de/politik/europa/hohe-opferzahlen-mehr-als-3600-tote-fluechtlinge-im-ersten-halbjahr/13876606.html
Bei so viel Missachtung europäischer Werte an den EU-Außengrenzen über so lange Zeit müsste doch dann auch gelten, die EU gehört nicht mehr zu Europa. Oder liege ich da falsch?
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