Ein europäischer Frühling?

100.000 Menschen gehen in ganz Europa für demokratische Werte auf die Straße

, von  Christian Beck, Dániel Fehér, übersetzt von Moritz Hergl

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Ein europäischer Frühling?
Foto: Dan Mihai Bălănescu Demonstrierende in Bukarest, 15. März 2025

Seit Anfang März kommt es in ganz Europa zu einer bemerkenswerten Welle von Massendemonstrationen, bei denen Hunderttausende von Bürger*innen auf die Straße gehen, ob in Belgrad, Budapest, Bratislava, Bukarest, Rom oder Tiflis. Obwohl diese Bewegungen unabhängig voneinander und als Reaktion auf unterschiedliche lokale Auslöser entstanden sind, werfen sie eine interessante Frage auf: Stellen sie gemeinsam einen „Europäischen Frühling“ dar - einen Vorstoß zu mehr liberaler Demokratie, stärkerer EU-Integration und Widerstand gegen autokratische Tendenzen und russischen Einfluss?

Dieser Artikel ist Teil der Democracy Under Pressure-Kampagne

Um diese Bewegungen jenseits des Wunschdenkens zu verstehen, haben wir Erkenntnisse von Menschen vor Ort gesammelt. Es zeigt sich, dass trotz ihrer unterschiedlichen Schwerpunkte die Unterstützung für europäische Werte ein gemeinsamer Nenner für die meisten dieser Bewegungen ist. Was sie eint, ist ihr Widerstand gegen Korruption, demokratische Rückschritte und die Konzentration von Macht in den Händen von Eliten. Ihr Verhältnis zur EU und zu Russland sowie ihre Visionen für die Zukunft sind jedoch je nach Kontext sehr unterschiedlich.

Protests in Belgrade on March 15, 2025; Photo: Nenad Bušić

Serbien: „Korruption tötet“

Was als Empörung über den Einsturz eines Bahnhofsvordachs in Novi Sad begann, bei dem 15 Menschen ums Leben kamen, hat sich zur größten Protestbewegung in der Geschichte Serbiens entwickelt, die nach Angaben unabhängiger Beobachter am 15. März mindestens 325.000 Menschen ins Zentrum von Belgrad zog.

Filip Milenkovic, a political scientist observing the protests, explains: „It was the biggest gathering in the history of the country. And people feel empowered - a very wide coalition is forming. It’s also very decentralized and geographically spread because students were walking in protest almost all across the country.“

Filip Milenkovic, ein Politikwissenschaftler, der die Proteste beobachtet hat, erklärt: „Es war die größte Versammlung in der Geschichte des Landes. Und die Menschen fühlen sich ermächtigt - es bildet sich eine sehr breite Koalition. Es ist auch sehr dezentral und geografisch verteilt, weil die Student*innen fast im ganzen Land protestieren.“

„Unser Staatssystem funktioniert einfach nicht, und wir sind der Korruption und all der Dinge überdrüssig, die dieses kriminelle Regime ausmachen“, erklärt Aleksa Banduka, Student an der Belgrader Fakultät für Politikwissenschaften. Er hat sich von Anfang an an der Protestbewegung beteiligt.

Im Gegensatz zu anderen Bewegungen in der Region sind diese Proteste nicht ausdrücklich EU-freundlich. Milenkovic stellt fest: „Die aktuellen Proteste werden nicht von einer politischen Agenda oder einem Programm angetrieben, sondern von konkreten Forderungen, die es geschafft haben, das ganze Land und Menschen mit unterschiedlichen Ansichten und Ideologien zu vereinen. Sie sind ’metapolitisch’ und ’jenseits der Politik’ - noch.“

Demonstration in Budapest, Photo: Sean Balázs Brandt

Ungarn: „Der Aufstieg von TISZA“

In Ungarn gab es am Nationalfeiertag, dem 15. März, zwei konkurrierende Kundgebungen - eine unter der Leitung von Ministerpräsident Viktor Orbán mit etwa 8.000 bis 10.000 Menschen, die „mit Bussen aus ländlichen Gebieten hergebracht wurden und zur Teilnahme verpflichtet waren“, und eine andere, wesentlich größere, die von Péter Magyar und seiner TISZA-Partei (das Akronym ist auch der Name des zweitgrößten Flusses des Landes) organisiert wurde und mindestens 70.000 bis 80.000 Menschen versammelte, „die aus eigener Motivation und auf eigene Kosten kamen“, so Bálint Magyar, Sozialwissenschaftler und ehemaliger Bildungsminister.

Márton Hajdú, Stabschef der TISZA-Gruppe im Europäischen Parlament, beschreibt die Kundgebung so: „Die Teilnehmenden waren hauptsächlich Anhänger der Partei und repräsentierten eine breite Basis. Dies wurde zum Teil durch die so genannten ’Tisza-Inseln’ ermöglicht - lokale Sympathieversammlungen, die vor etwa sechs Monaten begannen.“

Bálint Magyar gibt einen Einblick in die strategische Positionierung von TISZA: „Sie vermeiden es sorgfältig, als ’Brüsseler Marionetten’ oder ’Kriegsbefürworter’ abgestempelt zu werden, wie es bei Péter Márki-Zay der Fall war. Der ehemalige Oppositionskandidat wurde bei den letzten Wahlen von Orbán knapp geschlagen.“

Die Proteste und der Erfolg von TISZA stellen eine existenzielle Bedrohung für Orbáns mafiöses Regime dar. Viele aus dem Umkreis des Ministerpräsidenten könnten nach einem Regierungswechsel aufgrund von Korruption ins Gefängnis kommen. Daher warnt Magyar vor zunehmend verzweifelten Maßnahmen vor den Wahlen 2026: „Wir sehen auch Verfassungsänderungen, die den Einsatz des Militärs im Inland ermöglichen - möglicherweise gegen Proteste nach einer gestohlenen Wahl. Sie bezeichnen Unterstützende der Proteste als ’ausländische Agenten’, um das Feld für einen möglichen Ausschluss der TISZA von den Wahlen durch ein Urteil des Verfassungsgerichts nach rumänischem Vorbild zu bereiten.“

About 60,000 Slovaks gathered in the central square of the Slovak capital, Bratislava, to protest against the pro-Russian policy of Prime Minister Robert Fico, 24. January 2025. Photo: Wikipedia

Slowakei: „Wir wollen keine russische Kolonie sein“

Die Proteste in der Slowakei sind als Reaktion auf das geheime Treffen von Premierminister Robert Fico mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin im Dezember 2024 ausgebrochen. Nach Angaben der Organisatoren nahmen am 24. Januar rund 60.000 Menschen in Bratislava teil, landesweit waren es etwa 100.000.

Diese Demonstrationen sind ausdrücklich pro-europäisch und antirussisch ausgerichtet. Zu den wichtigsten Slogans gehören „Die Slowakei ist Europa!“ und „Wir wollen keine russische Kolonie sein!“ Michal Lipták, ein Rechtsanwalt, der an den Protesten teilnahm, erklärt: „Für mich bedeutet ’Die Slowakei ist Europa’, sich gegen zentrifugale Kräfte in der EU zu stellen - wie Orbán oder rechtsextreme Parteien in Westeuropa. Ich sehe Fico als eine dieser Kräfte.“

Pro-European protesters in Bucarest, Photo: Partidul Reper

Rumänien: „Europa ist unsere Heimat“

An der EuroManifest-Kundgebung in Rumänien nahmen am vergangenen Wochenende rund 40 Gruppen der Zivilgesellschaft teil, um ihre Unterstützung für die europäische Integration und gegen die zunehmende rechtsextreme Euroskepsis zu demonstrieren; die Teilnehmerzahl lag zwischen 10.000 und 14.000.

Claudiu Craciun, Dozent für Politikwissenschaft in Bukarest, beschreibt es „eindeutig als eine Pro-EU-Kundgebung, die Menschen klatschten auch mehrere Minuten lang zur Unterstützung der Ukraine und es gab Buhrufe gegen Putin/Russland. Neben rumänischen Flaggen waren auch viele EU-Flaggen zu sehen.“

Im Gegensatz zu anderen Bewegungen in der Region richteten sich die Demonstranten in Rumänien nicht in erster Linie gegen die derzeitige Regierung, sondern bekräftigten die europäische Identität des Landes. Craciun ist der Ansicht, dass die Kundgebung eine weiterreichende Bedeutung hat: „Auch wenn keine Politiker*innen und Kandidierende an der Kundgebung teilgenommen haben, stärkt ihre Organisation das pro-demokratische Zentrum, nicht nur auf politischer, sondern auch auf institutioneller Ebene.“

Protesters in front of the Georgian Parliament, Photo: Erekle Poladishvili

Georgien: „Keine Gerechtigkeit, kein Frieden“

Auslöser für die Proteste in Georgien war die Erklärung von Premierminister Irakli Kobachidse von der Partei Georgischer Traum vom 28. November, wonach die EU-Verhandlungen bis 2028 pausiert werden sollen, was den EU-Integrationsprozess praktisch zum Stillstand bringen würde.

Nino Samkharadze, ein politischer Analyst, beschreibt die Situation: „Die Repressionen sind in rechtlicher Hinsicht beispiellos hart und die korrumpierte Justiz ist die wichtigste Waffe im Kampf gegen die Demonstranten.“ Trotzdem halten die Proteste seit mehr als 100 Tagen an, wobei die Zahl der Teilnehmer von 1.500 bis 2.000 und an Spitzentagen bis zu 120.000 schwankt.

In Bezug auf die EU stellt Samkharadze fest: „Die Integration ist de facto gestoppt. Die GD greift ständig EU-Politiker*innen an, wie den Botschafter, die Außenbeauftragte der EU und Abgeordnete, die den demokratischen Rückschritt durch die Regierungspartei Georgischer Traum kritisieren“.

Pro-European protestors call for a federal Europe at the Piazza del Popolo in Rome on March 15, 2025, Photo: Gioventù Federalista Europea

Italien: „Europa sind wir“

In Rom versammelte eine von dem Journalisten Michele Serra organisierte Demonstration am 15. März mit insgesamt 50.000 Menschen auf der Piazza del Popolo. Die Kundgebung verwandelte den Platz in „das pulsierende Herz der europäisch geprägten Stimmung in Italien“, so der Beobachter Cesare Ceccato.

Die Veranstaltung wurde von Intellektuellen, Schauspieler*innen, Schriftsteller*innen, und anderen Kunstschaffenden sowie Wissenschaftler*innen getragen, die sowohl an die Ursprünge als auch die aktuellen Aufgaben der Europäischen Union erinnerten. Ein zentraler Slogan der Veranstaltung lautete „L’Europa siamo noi“ („Europa sind wir“), um zu zeigen, dass Europa in erster Linie aus seinen Bürger*innen besteht und nicht nur aus der Kommission oder dem Europäischen Rat.

Die Menge reagierte enthusiastisch auf die Forderung der Jungen Europäischen Föderalist:innen nach einer „Federazione Europea Subito“ („Europäische Föderation jetzt!“) und zeigte damit eine starke Unterstützung für eine vertiefte europäische Integration.

Ein europäischer Frühling mit nationalen Merkmalen

Trotz ihrer unterschiedlichen nationalen Kontexte weisen diese Bewegungen wichtige Gemeinsamkeiten auf. Alle entstanden als Reaktion auf bestimmte Ereignisse: ein Bahnhofseinsturz in Serbien, ein Pädophilie-Skandal in Ungarn, ein geheimes Treffen mit Putin in der Slowakei, der Aufstieg der rechtsextremen Euroskepsis in Rumänien und der Abbruch der EU-Verhandlungen in Georgien. Trotz dieser unterschiedlichen Auslöser spiegeln sie alle tiefere Missstände in der Staatsführung wider, wobei Korruption und Machtmissbrauch als gemeinsame Themen auftauchen.

Die Beziehungen zur EU und zu Russland sind sehr unterschiedlich. In der Slowakei, in Rumänien, Italien und in gewissem Maße auch in Ungarn sind die Proteste stark pro-europäisch ausgerichtet, mit ausdrücklicher Unterstützung für die europäische Integration und gegen den russischen Einfluss. In Georgien steht die Opposition gegen die autoritäre Regierung im Mittelpunkt, breite Proteste brachen jedoch erst aus, als die EU-Orientierung des Landes durch die wiedergewählte Regierung in Frage gestellt wurde. Serbien stellt eine bemerkenswerte Ausnahme dar, wo die Bewegung nicht explizit auf die EU-Integration oder den Widerstand gegen den russischen Einfluss ausgerichtet ist. Leider haben die EU-Akteure zu oft der Stabilität der Regierung und ihrem Interesse am Lithiumabbau Vorrang vor der Unterstützung der Demokratie eingeräumt und dadurch viel Glaubwürdigkeit im Land verloren.

Die Bewegungen unterscheiden sich auch in ihrer Organisation und ihrem potenziellen Einfluss. In Ungarn stellen die Proteste eine ernsthafte Herausforderung für Orbáns alteingesessenes Regime dar, und Magyars Partei TISZA positioniert sich als glaubwürdige Alternative bei den Wahlen 2026. In Serbien übt das massive Ausmaß der Proteste erheblichen Druck auf die Regierung Vučić aus, ohne dass jedoch ein klarer Weg zu deren Ablösung erkennbar ist. Es ist unwahrscheinlich, dass die Proteste in der Slowakei die Regierung Fico sofort zu Fall bringen werden, aber sie setzen sie weiterhin unter Druck. Die Situation in Georgien ist vielleicht die schwierigste, da die Regierung zunehmend repressive Maßnahmen ergreift.

Es entsteht keine einheitliche, koordinierte paneuropäische Bewegung, sondern eher eine Reihe nationaler Bewegungen, die auf lokale Bedingungen reagieren, aber oft von ähnlichen demokratischen Werten inspiriert sind. Die meisten von ihnen würden die liberale Demokratie und die europäische Integration stärken, wenn sie erfolgreich wären, aber ihr primärer Rahmen ist eher national als europäisch.

Dennoch stellen diese Bewegungen ein starkes Leuchtfeuer der Hoffnung für die Demokratie und die europäischen Werte dar. Die schiere Zahl der Bürgerinnen und Bürger, die bereit sind, dem kalten Wetter, der Androhung von Repressionen und der Einschüchterung durch die Regierung zu trotzen, zeigt eine bemerkenswerte Entschlossenheit, hart erkämpfte Freiheiten und demokratische Institutionen zu verteidigen. Auch wenn es sich vielleicht nicht um einen „Europäischen Frühling“ im revolutionären Sinne handelt, signalisiert dieses weit verbreitete demokratische Erwachen, dass autoritäre Tendenzen nicht unangefochten bleiben werden.

Die Europäische Union sollte in ihrem eigenen Interesse diese Bewegungen viel deutlicher unterstützen, anstatt diplomatische Distanz zu wahren oder der kurzfristigen Stabilität den Vorrang zu geben. Indem sie sich entschlossen an die Seite der Bürger*innen stellt, die ihre Grundwerte auf der Straße verteidigen, würde die EU nicht nur ihre moralische Autorität stärken, sondern auch in die demokratische Zukunft des gesamten Kontinents investieren. Diese mutigen Demonstrierenden kämpfen nicht nur für ihre eigenen Länder - sie sind das lebendige Herz des europäischen Projekts selbst.

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