Interview mit dem Europaabgeordneten Niyazi Kızılyürek

Ein historischer Schritt bei den Europawahlen in Zypern: „Das war kein theoretischer, sondern angewandter Föderalismus“

, von  Pierre Le Mouel

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Ein historischer Schritt bei den Europawahlen in Zypern: „Das war kein theoretischer, sondern angewandter Föderalismus“
Straße in der zyprischen Hauptstadt, an deren Universität Kızılyürek lehrt. Foto: Pixabay / dimitrisvetsikas1969 / Pixabay License

Am 26. Mai wurde in Zypern Geschichte geschrieben: Zum ersten Mal seit 1964 ist ein Zyperntürke gewählt worden. Eine ganz bestimmte Wahl hat dieses Ereignis möglich gemacht: die Europawahl. Prof. Niyazi Kızılyürek, der nun für die Vereinte Europäische Linke ins Europaparlament einzieht, unterrichtet Politikgeschichte an der Universität Zypern im Süden der geteilten Insel. Nach einer Doktorarbeit an der Universität Bremen über den Konflikt in Zypern blickt Kızılyürek auf eine erfolgreiche akademische Karriere zurück: Er hat zwanzig Werke veröffentlicht und wurde 2013 zum Dekan des Fachbereichs Geisteswissenschaften gewählt. Außerdem hat er sowohl als Berater für die Regierung der Republik Zypern als auch als Kolumnist für zypriotische Zeitungen gearbeitet.

Seit 1974 ist die Insel Zypern de facto durch eine Pufferzone geteilt, die von UN-Blauhelmen gesichert wird. Der südliche Teil bleibt unter der Kontrolle der Republik Zypern, dem einzigen offiziell anerkannten Staat auf der Insel seit der Unabhängigkeit von England 1960. Der nördliche Teil der Insel gilt als von der türkischen Armee besetzt und hat 1983 einen unabhängigen Staat ausgerufen, die Türkische Republik Nordzypern (TRNZ), die nur von der Türkei anerkannt wird, welche eine enge Beziehung zu ihrem „Bruderstaat“ pflegt. 2004 ist die Republik Zypern der EU beigetreten, der Besitzstand der EU (acquis communautaire) wurde im Norden der Insel ausgesetzt. 2003 hat die TRNZ unilateral einen Checkpoint in der gemeinsamen Hauptstadt Nikosia eröffnet: Heute gibt es neun Grenzübergänge, von denen der letzte im November 2018 geöffnet wurde.

Es ist wichtig anzumerken, dass die Zyperntürk*innen Bürger*innen der Republik Zypern sein und deshalb bei den Europaparlamentswahlen wählen und gewählt werden können. Die Wahlen werden in zwei Schritten durchgeführt: Zunächst entscheiden sich die Wähler*innen für eine Liste mit sechs Kandidat*innen. Dann können sie für bis zu zwei Personen dieser Liste stimmen, um diesen zusätzliche Punkte zu geben. So wurde Niyazi Kızılyürek mit 25 051 Stimmen gewählt und belegte den zweiten Platz auf der Liste von AKEL, der wichtigsten linken Partei Zyperns, die zwei Sitze im Europäischen Parlament erhielt. Was das für ihn verändert, erzählt er im Interview.

Was bedeutet die Europäische Union für Sie?

Die Europäische Union bedeutet ständiger Wandel. Sie ist ein Schritt über den Nationalstaat hinaus, dieser ist aber lange noch nicht überwunden. Im Augenblick funktioniert sie in gewisser Weise auf föderale Art mit einigen föderalen Elementen und ich denke, dass sie sich eines Tages der föderalen Idee noch weiter annähern muss.

Allgemein bin ich auch nicht sehr glücklich über die neoliberale Wirtschaftspolitik der EU. Ich wünsche mir mehr soziale Gerechtigkeit. Aber insgesamt ist die EU ein historischer Schritt nach vorne. Eine der schönsten Erfolgsgeschichten. Es ist eben eine große Leistung, einen ganzen Kontinent von Religionskriegen und zwischenstaatlichen Kriegen wegzuführen und zu einer Art ewigem Frieden im Kantschen Sinn zu bringen.

Welcher Nationalität oder Staatsbürgerschaft fühlen Sie sich zugehörig?

In Bezug auf die Staatsbürgerschaft habe ich keine große Wahl: Ich bin ein Bürger der Republik Zypern. Natürlich bin ich auch Bürger Europas. Was die Nationalität angeht, so unterscheide ich nicht gerne zwischen Nationalität und Staatsbürgerschaft. Ich glaube an eine staatsbürgerliche Identitätsbildung. Staatsbürgerschaft und nationale Identität fallen nicht immer zusammen, aber dies ist ein Dilemma, das durch die nationalstaatliche Logik verursacht wird. Wenn wir über die Nationalstaaten hinausgehen, werden wir zu einer Gemeinschaft von Bürger*innen gelangen und nicht zu verschiedenen Nationalitäten und Staatsbürgerschaften. Ich glaube an das Konzept des konstitutionellen Patriotismus und ziehe eine politische Gemeinschaft einer Nation oder einer Ansammlung von verschiedenen Nationalitäten vor.

Ist Ihnen zufolge die EU ein fester Bestandteil des alltäglichen Lebens in Zypern - im Norden als auch im Süden?

Also, ich kann nicht sagen, dass sie in den beiden Gemeinschaften auf gleiche Weise präsent ist. Es gibt einen Unterschied zum nördlichen Teil der Insel, da der EU-Besitzstand dort nicht umgesetzt wird. In diesem technischen Verständnis ist der nördliche Teil im Alltag nicht so direkt von der EU betroffen. Es werden natürlich Anstrengungen unternommen, wenn Sie so wollen, eine gewisse Sonderbehandlung der türkisch-zypriotischen Gemeinschaft. Zum Beispiel durch die Verordnung Nummer 389/2006 des Rates zur Schaffung eines finanziellen Stützungsinstruments zur Förderung der wirtschaftlichen Entwicklung der türkischen Gemeinschaft Zyperns.

Die EU versucht Zyperntürk*innen stärker an die Institutionen der EU zu binden und dadurch näher an die EU heranzuführen. Es gibt ein wenig finanzielle Unterstützung, aber das reicht nicht, um zu behaupten, dass die EU im Norden alltäglichen Leben präsent ist. Im Süden ist das natürlich anders. Die Republik Zypern ist ein vollwertiger Mitgliedstaat und das von der Regierung kontrollierte Gebiet im südlichen Teil der Insel steht in enger Verbindung zur EU. Auch wenn sich die Bürger*innen nicht so sehr darüber bewusst sind, wie sehr die EU Teil ihres Lebens ist.

Denken Sie, dass die EU Zypern beim zypriotischen Konflikt helfen kann?

Ja natürlich. Ich denke, dass die EU mehr machen sollte. Jedoch erwarte ich keine Wunder von der EU oder dass sie eine Lösung für den Konflikt findet. Es handelt sich hierbei um einen internationalen Konflikt, dessen sich bereits die Vereinten Nationen angenommen haben - und das sollte auch so bleiben.

Dennoch hat die EU viel Erfahrung in Sachen Versöhnung, also damit Völker und Gemeinschaften zusammenzubringen, und das ist genau das, was ich mir für Zypern vorstelle. Nämlich die Einführung des europäischen Versöhnungsmodells in den beiden Gemeinschaften. In diesem Bereich tut sich gerade nicht sehr viel. So kann man keinen Austausch der Jugendlichen untereinander beobachten und zudem gibt es keine Aktivitäten, die gezielt junge Leute ansprechen wie Austauschprojekte, Schulbesuche oder wenigstens zweisprachige Projekte. In Bezug auf die Zivilgesellschaft könnte die EU deutlich mehr machen. Aber ich bin natürlich auch der Ansicht, dass wenn die Zypriot*nnen dies nicht einfordern, nicht darauf bestehen, man solche Projekte auch nicht unilateral durchsetzen kann. Aber ich würde gerne Zypern von der Expertise der EU in Bezug auf Versöhnung und Annäherungspolitik, von ihrem ganzen Erbe, profitieren lassen.

Ich kann mir beispielsweise eine Art zypriotisches Arte vorstellen. Also ein Kanal mit dem gleichen Programm - aber in zwei verschiedenen Sprachen. Solche Projekte sind durchaus machbar. Natürlich nur, wenn die Zypriot*innen bereit sind, in diese Richtung zu arbeiten. Ich hoffe, dass die EU sie dabei unterstützen wird. In diesem Bereich gibt es auf Zypern sehr viel zu tun. Man kann die Schulen mit einbeziehen, man kann Schüler*innenaustauschprojekte in die Wege leiten, die Zweisprachigkeit fördern und so weiter. Letztendlich denke ich auch, dass diese Art der Entwicklung Druck von unten erzeugt und so nach einer Lösung des Konflikts verlangt wird, ohne dass darauf gewartet werden muss, dass die politischen Eliten einen Vertrag untereinander aushandeln.

Warum haben Sie sich für die Europawahlen aufstellen lassen? Und wie haben Sie die Parteien ausgewählt, mit denen Sie Wahlkampf gemacht haben?

Ich engagiere mich schon seit Jahren für den Föderalismus in Zypern. Ich habe viel zu diesem Konzept und zu einer föderalen Lösung des Konflikts gearbeitet und veröffentlicht, war an der Spitze von Bewegungen, die beide Gemeinschaften integrierten, und war an pazifistischen Bewegungen beteiligt. Ich lebe in beiden Gemeinschaften, was aus mir natürlich eine Ausnahme macht, jemand, der zugleich mit Zyperntürk*innen und Zyperngriech*innen lebt. So bin ich schon von vornherein am Friedens- und Versöhnungsprozess beteiligt. Jetzt setze ich mich aber auch als Forscher, Autor und Intellektueller dafür ein. Ich hatte es nicht unbedingt geplant, in die Politik zu gehen. Jetzt, da ich gewählt bin, sehe ich kaum einen Unterschied zwischen meiner Arbeit als Wissenschaftler und Intellektueller. Ich sehe sogar einige Überschneidungen.

AKEL ist auf mich zugekommen und ich habe zugesagt. Ich habe das Angebot angenommen, weil ich denke, dass die Dinge leichter sein können, wenn ich Europaabgeordneter bin. Ich wusste auch, dass meine Kandidatur selbst schon eine föderale Praxis sein würde, weil es das erste Mal gewesen wäre, dass Zyperngriechen und Zyperntürken einen gemeinsamen Wahlkampf gestalten. So haben wir es dann gemacht. Und ich wurde gewählt - und zwar zum ersten Mal in der Geschichte Zyperns mit den Stimmen von beiden Gemeinschaften.

Wie kann man sich einen Wahlkampf auf einer Insel vorstellen, die von einer entmilitarisierten Zone geteilt ist?

Ich habe auf der ganzen Insel Wahlkampf betrieben. Das ist an sich schon außergewöhnlich. Wir haben unsere Wahlkampagne von Kyrenia bis Limassol und von der Karpas-Halbinsel bis nach Paphos gemacht. Ich habe versucht, immer Zyperngriech*innen, andere Kandidat*innen von AKEL, bei mir zu haben, wenn ich Zyperntürk*innen traf. Ich musste in Teams mit Zyperntürk*innen und -griech*innen arbeiten, die die Kampagne gemeinsam geleitet haben.

Unser Wahlkampf war selbstverständlich zweisprachig, auf Griechisch und auf Türkisch. Wir haben versucht, die Schwierigkeiten zu überwinden, die der Gebrauch beider Sprachen mit sich bringt, indem wir so viele Menschen wie möglich getroffen haben, Zyperngriech*innen als auch -türk*innen, und indem wir gemischte Arbeitsgruppen hatten, die den ganzen Wahlkampf über zusammengearbeitet haben. Meiner Ansicht nach ist das angewandter Föderalismus. Das, was ich daraus gelernt habe, war kein theoretischer Föderalismus, sondern wirklich angewandter.

Auf den Statistiken sind die Stimmen der zypriotisch-griechischen Wähler*innen von denen ihrer Nachbar*innen getrennt. Was halten Sie von dieser Trennung, die heute noch vorliegt?

Es gibt keine unterschiedliche Staatsbürgerschaft. Die Zyperntürk*innen sind auch Bürger*innen der Republik Zypern. Was anders war, das waren die Wahlurnen. Ich halte nichts davon, dass es unterschiedliche Wahlbüros für Zyperntürk*innen gab. Allein deswegen wissen wir, wofür sie gestimmt haben. Das ist keine sehr demokratische Vorgehensweise. Aber in Anbetracht der Umstände, also dass Zypern eine geteilte Insel ist, dass allein die Republik Zypern offiziell anerkannt ist und sie die Wahlen als Mitgliedsstaat organisiert, wollte sie, dass die Zyperntürk*innen in der Zone wählen, die unter ihrer Kontrolle liegt und dass diese die Wahlurnen nicht mit in den Norden führen.

Trotz alldem hätten die Dinge anders ablaufen können. Man hätte die Zyperntürk*innen in jedem Wahlbüro wählen lassen können und nicht nur in denjenigen, die eigens für sie eingerichtet wurden. Außerdem gab es viele Probleme mit dem Ausweis von Zyperntürk*innen. Viele Wähler*innen konnten nicht wählen, als sie am Wahlbüro ankamen, ihr Personalausweis, der von der Republik Zypern ausgestellt worden war, stellte ein Problem dar. Das ist ein weiteres Problem, dass die Republik Zypern regeln sollte. Alle Zyperntürk*innen sollten ohne bürokratische Hindernisse wählen gehen können. Das sind die Dinge, die ich gerne vor den nächsten Europawahlen ändern möchte.

Wie fühlen Sie sich nach Ihrem Sieg?

Sehr gut! Um ehrlich zu sein, war ich nicht wirklich überrascht. Zunächst bin ich kein Neuling. Ich bin nicht gerade erst in die Politik eingetreten, ich bin also kein Novize. Vielleicht in der Parteienpolitik, aber ansonsten beteilige ich mich seit Jahren schon am politischen Leben auf beiden Seiten der Insel. Natürlich bin ich stolz darauf, dass ich es geschafft habe, dass Zyperntürk*innen und -griech*innen gemeinsam wählen, denn sonst - und das habe ich seit Beginn meiner Wahlkampagne betont - hätte ich es nicht als Sieg aufgefasst, wenn ich nur von einen Gemeinschaft gewählt worden wäre. Als Föderalist wünsche ich mir genau diese Gemeinschaft der Bürger*innen. In dieser Hinsicht bin ich sehr zufrieden.

Denken Sie, dass die Beteiligung der Zyperntürk*innen an den Wahlen zum Europaparlament wichtig ist?

Zunächst einmal können Zyperntürk*innen und -griech*innen nur bei den Europawahlen gemeinsam wählen, niemals bei nationalen Wahlen, da diese immer rund um ethnische Fragen aufgebaut sind und getrennt voneinander geführt werden. So sind die Wahlen zum Europaparlament die einzige öffentliche Ebene, auf der wir alle, alle Bürger*innen der Insel, gemeinsam politisch agieren können. Das ist wie mir scheint genau die Art von föderalem Testlauf, der uns in Zukunft helfen kann.

Zudem wählen wir bei diesen Wahlen nach unseren Überzeugungen und nicht nach unserer Nationalität. Das ist somit ein Schritt über den Nationalismus hinaus, was mir persönlich sehr gut gefällt. Und gerade für die Zyperntürk*innen ist das sehr wichtig. Sie bilden eine isolierte Gruppe, die nicht der internationalen Gemeinschaft angehört. Somit waren die Europawahlen eine Art verzweifelter Aufschrei, die Stimmenabgabe ein Ausruf „Ich bin ein*e europäische*r Bürger*in!“ und das ist sehr wichtig für die Zyperntürk*innen.

Wie stellen Sie sich Europa, die EU in 30 oder 100 Jahren vor? Wie stellen Sie sich Zypern innerhalb dieses Europas vor?

Die Frage lässt mich an ein sehr interessantes historisches Werk von Ernest Renan namens „Was ist eine Nation?“ denken. Er schreibt darin, dass Nationen historisch konstruierte Einheiten sind, die wir eines Tages überwinden und eine europäische Konföderation schaffen werden. Eines Tages werden wir alle Föderalist*innen sein. Das ist mein geheimer Wunsch, aber meine realistische Vision der europäischen Zukunft ist, dass ein föderales Europa notwendig ist. Ansonsten hat Europa auf lange Sicht keine Chance.

Ich werde Ihnen jetzt etwas sehr Zynisches sagen: Zypern kann auch innerhalb eines föderalen Europas noch ein geteiltes Land sein. Ich spiele hier auf den Mangel an politischer Willenskraft der Eliten an, einem Mangel an föderalem Verständnis. Aber natürlich wird sich das noch ändern. Heute hängt ein Großteil der Elite noch zu sehr an einem nationalistischen Modell, wobei es Zeit wäre, dass sie sich föderaleren Ideen zuwenden. Ich hoffe, dass die zukünftigen Generationen dies erreichen werden. Ich hoffe, dass ich Zypern noch als Föderalstaat sehen kann, der sich in einem noch größeren europäischen föderalen Zusammenschluss befindet.

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