Der französische Historiker François Étienne bemerkte 2012, es fehle trotz der Erfolge der Europäisierung eine europäische Identifikationspolitik mit gemeinsamen europäischen Erinnerungsorten. Dadurch ließe die Europäische Union ein Werkzeug ungenutzt, eine einheitsstiftende Integrationsbewegung innerhalb der europäischen Staatenwelt zu erwecken. Auch wenn die EU heute weiterhin keine gerichtete und kohärente Identifikationspolitik betreibt, finanziert sie Projekte und Einrichtungen, die wissenschaftlich durch die europäische Brille auf die Vergangenheit des europäischen Kontinents blicken. So unterstützt sie seit langer Zeit das große Kulturprojekt des Europarates: Die Kulturwege des Europarates, die 1987 mit dem Jakobsweg begonnen wurden. Heute zählen dazu 33 weitere Wege, welche die „europäische Kultur“ pflegen und fördern sollten. Sie fungieren als Erinnerungsorte der gemeinsamen europäischen Geschichte. Dabei stellt sich die Frage: Trifft der Terminus europäischer Erinnerungsort tatsächlich zu? Benötigen wir eine europäische Geschichts- und Erinnerungspolitik?
Was sind europäische Erinnerungsorte?
Der französische Historiker Pierre Nora veröffentlichte bereits 1984 sein Konzept der Erinnerungsorte oder Mnemotope. Es basiert auf der Annahme, dass sich das kollektive Gedächtnis einer sozialen Gruppe oder Nation an bestimmten Orten kristallisiert. Dieser Ort als Basis der Erinnerungskultur eben jener Gruppe umfasst neben geografisch-materiellen Orten alles, was im Gedächtnis eine Rolle spielt wie Institutionen, Mythen, Schriftstücke oder Personen. Gemeinsam ist ihnen die identitätsstiftende Bedeutung. Nora forschte auf Grundlage seines Konzeptes nach Erinnerungsorten der Franzosen (z.B. die Marseillaise). In Anlehnung daran wurden auch in Deutschland Forschungen eingeleitet (z.B. Goethe). Wenn diese Orte identitätsstiftende Bedeutung haben, müsste nur nach den europäischen Orten geforscht werden, so könnten wir als überzeugte Europäer viel stärker eine gemeinsame Geschichte erzählen. Doch genau an der Stelle liegt das Problem: Was sind europäische Erinnerungsorte? Die Antwort lautet häufig: die griechische Antike, die italienische Renaissance, die deutsche Reformation oder die Gotik.
Freilich sind sie alle Orte im Sinne Pierre Noras. Allein die vorangestellten Adjektive zeigen, wie sich die Konnotation verschiebt. Ein Erinnerungsort muss schließlich für die gesamte europäische Staatengemeinschaft gelten. Die „europäische Gruppe“ muss sich damit identifizieren können. Hier soll nicht unterschlagen werden, dass die genannten Orte sicherlich von mehr als nur den genannten Staatsvölkern anerkannt würden, aber eben längst nicht von allen. Die einzigen oftmals genannten Orte „Weltkriege“ oder „Ost-West-Konflikt/Teilung Europas“ können dem Anspruch ebenfalls nur mittelbar gerecht werden, da sie unterschiedlich erinnert werden und aufgrund des Täter-Opfer-Bildes nach wie vor keine identitätsstiftende Bedeutung erlangen. Warum nehmen wir dann nicht den Gründungsvertrag der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl oder die Römischen Verträge? Wir müssen nicht so weit in die Geschichte schauen, konzentrieren wir uns auf die heutige EU selbst. Abermals wird nicht einmal in allen heutigen Mitgliedsstaaten der EU kollektiv daran erinnert.
In Vielfalt geeint
Was ist es dann, was uns verbindet? Gibt es überhaupt eine europäische Erinnerung? Die EU hat sich einen Leitspruch gegeben, den ich als Europäer gerne aufgreife: In Vielfalt geeint. Verstehen wir diesen Leitspruch nicht als hohle Phrase, verbindet er uns als Europäer. In einem Rahmen, der heute durch die EU definiert wird, aber über ihre Grenzen hinaus strahlt und die Möglichkeit zum Beitritt für andere Staaten des europäischen Kontinents bietet, sammelt er die verschiedenen Erinnerungsstücke und Erinnerungsorte einer jeden sozialen Gruppe und Nation. Sie werden dabei nicht aufgelöst, sondern eher, wie die zwei Teige unterschiedlicher Farbe in einem Marmorkuchen, durcheinander gewirbelt, und gleichzeitig immer gut zu erkennen bleiben.
Hier kann auch eine Geschichts- und Erinnerungspolitik ansetzen, die nicht die klassische Aufgabe erfüllt, Erinnerung autoritativ zu deuten. Vielmehr sollte sie darauf abzielen, Menschen zusammenzubringen, den Austausch anzuregen und den Blickwinkel des anderen zu verstehen. Somit kann das ERASMUS-Programm der EU als ein solcher Ansatz gesehen werden. Immerhin ruht sein ureigenes Ziel auf dem Austausch von Ideen und Perspektiven sowie eines Kenntnisgewinnes. Themen wie die angesprochenen Epochen, Prozesse und Ereignisse müssen nicht aus einer gemeinsamen Sicht und europäischer Perspektive erforscht werden. Sie sollten eher in einem multinational-europäischen Forschungskreis untersucht werden, in dem jeder seine eigene Perspektive einflechten kann.
Eine stärkere Förderung von Städtepartnerschaften wäre hilfreich
Parallel dazu müsste zugleich der Austausch von Menschen gefördert werden, die nicht durch ein Studium oder eine Arbeit im kulturell-wissenschaftlichen Umfeld arbeiten. Hier bieten sich insbesondere die Städtepartnerschaften an. Ein regelmäßiger Austausch zwischen den europäischen Städten kann zu mehr Verständigung und Kenntnissen führen. Das könnte von europäischer Seite stärker gefördert werden. So könnten sich die Bürger der EU und auch andere Bürger europäischer Staaten einander bewusst werden, Unterschiede und Gemeinsamkeiten erkennen sowie in die Erinnerungswelt des je anderen Landes eintreten. Es könnte statt einer gemeinsamen Erinnerung somit ein europäisches Erinnerungsbewusstsein errichtet werden, das seinerseits identitätsstiftend wirken kann.
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