Energiecharta-Vertrag

„Ein überflüssiges Relikt aus dem fossilen Zeitalter“?

, von  Lynn Arndt

„Ein überflüssiges Relikt aus dem fossilen Zeitalter“?
Als Gründe für ihren Ausstieg nennen Regierungen die bremsende Wirkung des Energiecharta-Vertrags auf Klimaschutzziele. Foto: Unsplash / Matthew Henry / Unsplash Lizenz

Der im Jahr 1994 unterzeichnete Energiecharta-Vertrag (engl.: Energy Charter Treaty, ECT) wird schon seit längerem als Hemmnis für den Klimaschutz und die Energiewende kritisiert. Ein Reformversuch der EU-Kommission scheiterte, immer mehr EU-Staaten erklärten ihren Rückzug aus dem Vertrag. Hat der Energiecharta-Vertrag eine Zukunft?

Anfänge und der Anfang vom Ende

Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs sollte der Energiecharta-Vertrag durch die Förderung von Investitionen in Staaten der ehemaligen Sowjetunion Energiesicherheit schaffen. Investitionen von Öl- und Gaskonzernen sollten durch den Vertrag vor politischen Instabilitäten in den ehemaligen UdSSR-Staaten geschützt werden. Denn der völkerrechtliche Vertrag, der seit 1998 in Kraft ist, ermöglicht es Investor:innen, Regierungen vor privaten, also nicht-staatlichen, Investor-Staat-Schiedsgerichten zu verklagen, wenn deren politischen Entscheidungen ihre Investitionen und erwarteten Profite gefährden.

Heute hat der Energiecharta-Vertrag 51 Vertragsparteien, darunter die EU. Von den ursprünglichen Mitgliedsstaaten ist mit Italien im Jahr 2016 bislang lediglich ein Land von dem Vertrag zurückgetreten. Die Regierungen einer Reihe von weiteren Staaten haben jedoch ihre baldigen Rücktritte angekündigt. Auf die jüngsten Austrittsankündigen von Polen, der Niederlande, Spanien, Frankreich und Slowenien folgte im November die deutsche Bundesregierung. Kurz darauf gab auch die luxemburgische Regierung bekannt, sich aus dem Energiecharta-Vertrag zurückziehen zu wollen.

Obsolet und kontraproduktiv?

Als Gründe für ihren Ausstieg nennen die Regierungen in erster Linie die bremsende Wirkung des Energiecharta-Vertrags auf Klimaschutzziele. So auch die deutsche Ampel-Koalition: Wirtschaftsminister Robert Habeck (Bündnis 90/Die Grünen) bezeichnet den Energiecharta-Vertrag als Hindernis für die Energiewende und als unvereinbar mit dem Pariser Klimaabkommen. Die stellvertretende Fraktionsvorsitzende der Grünen, Julia Verlinden, erklärte:

"Der Energiecharta-Vertrag ist ein überflüssiges Relikt aus dem fossilen Zeitalter und behindert den Klimaschutz. […] In Zeiten der Klimakrise ist es absurd, dass Unternehmen ausbleibende Gewinne aus fossilen Investitionen sowie Entschädigungen für Kohle- und Atomausstiege einklagen können.“

Hiervon zeugen Prozesse, bei denen fossile Energieunternehmen vor privaten Schiedsgerichten gegen staatliche Beschlüsse klagten. So verklagte beispielsweise das schwedische Energieunternehmen Vattenfall in der Vergangenheit zweimal die Bundesrepublik Deutschland, zuerst im Jahr 2009 wegen Umweltauflagen beim Bau des Kohlekraftwerks Hamburg-Moorburg und später, ab 2012, wegen des Atomausstiegsgesetzes. Die Konzerne RWE und Uniper klagten 2021 gegen die Niederlande im Kontext des vom niederländischen Parlament beschlossenen Kohleausstiegs. Auch wenn aus den Klagen der vergangenen Jahre nicht immer ein Entschädigungsanspruch resultierte, bleibt den Energieunternehmen mit dem Energiecharta-Vertrag ein mächtiges Instrument, mit dem sie Staaten wegen neuer Klimaschutzmaßnahmen auf Entschädigungszahlungen in Milliardenhöhe verklagen können.

Dennoch gibt es auch Verfechter:innen des Vertrags: Die EU-Kommission setzt sich für den Erhalt des Vertrags ein und plant, seine Schwachstellen mittels einer Reform auszubessern. Die Europäische Volkspartei (EVP) bezeichnet einen Vertragsausstieg der EU als unverantwortlich und kontraproduktiv. Ein Vertragsausstieg bedeute das Ende der langjährigen Bemühungen um Modernisierung der EU. Zudem biete der modernisierte Energiecharta-Vertrag ausreichend Anreiz für Investitionen in erneuerbare Energien.

Ein gescheiterter Reformversuch

Auf Grundlage eines Beschlusses der Energiecharta-Konferenz im November 2017 wird seitdem über eine Reform des Energiecharta-Vertrags diskutiert. Aufgefordert von den EU-Mitgliedsstaaten entwarf die EU-Kommission eine Vertragsreform, über die anschließend mit den übrigen Vertragsparteien abgestimmt werden sollte.

Der reformierte Text der EU-Kommission betont den Stellenwert des Pariser Klimaabkommens und der damit einhergehenden Klimaschutzziele und limitiert den Schutz von Investitionen in fossile Energien. So soll der Vertrag ab Sommer 2023 keine neuen Investitionen in fossile Energien schützen. Zudem werden Investor-Staat-Streitverfahren zwischen den Mitgliedstaaten der EU ausgeschlossen. Klimaschutzverbänden und -aktivist:innen sowie verschiedenen Fraktionen im Europäischen Parlament (S&D, Grüne/EFA, GUE/NGL) geht die Reform aber nicht weit genug: Denn Klimaschutzmaßnahmen sollen auch nach der Reform nicht grundsätzlich von Klagen ausgenommen werden. Bereits getätigte Investitionen in fossile Energieträger sollen noch bis mindestens zehn Jahre nach der Reform weiter geschützt werden.

Am 18. November 2022 scheiterte die Vertragsreform im EU-Ministerrat. Die erforderliche qualifizierte Mehrheit kam aufgrund der ausbleibenden Zustimmung von Frankreich, Spanien, der Niederlande und Deutschland nicht zustande. Die Abstimmungsniederlage untersagte der EU, der Vertragsreform bei der Energiecharta-Konferenz in der mongolischen Hauptstadt Ulan-Bator Ende November 2022 zuzustimmen. Die Abstimmung wurde auf Bestreben der EU-Kommission schließlich verschoben.

Was bedeutet ein Ausstieg aus dem Vertrag?

Neben der von Umweltschützer:innen kritisierten inhaltlichen Unzulänglichkeit stellt die sogenannte „Sunset-Klausel“ des Vertrags ein weiteres Hindernis dar: Mitglieder sind demnach noch für zwei Jahrzehnte nach dem Austritt an ihre Vertragsverpflichtungen gebunden. Prof. Dr. Christian Tietje, Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Europarecht und Internationales Wirtschaftsrecht an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, hält hierzu fest:

"Ein […] Rücktritt wird […] frühestens ein Jahr nach Eingang der Notifikation des Rücktritts wirksam. Bis dahin bleibt die vollumfängliche Rechtsbindung an den ECT für die entsprechende Vertragspartei bestehen. Für Investitionen, die im Territorium der Vertragspartei, die vom ECT zurücktritt, vor Wirksamwerden des Rücktritts getätigt wurden beziehungsweise von Investoren der betreffenden Vertragspartei im Territorium anderer Vertragsparteien vorgenommen wurden, besteht allerdings ein Investitionsschutz für weitere 20 Jahre […].“

Ein Ausstieg aus dem Vertrag schützt einen Staat während einer Übergangsfrist von 20 Jahren also nicht vor Klagen gegen seine Klimapolitik. Diesen Umstand bekam auch Italien nach seinem Austritt im Jahr 2016 zu spüren: Im August 2022 wurde Italien von einem Schiedsgericht zu einer Entschädigungszahlung an das britische Öl- und Gasunternehmen Rockhopper verurteilt. Die zu zahlende Summe betrug über 190 Millionen Euro.

Die Dringlichkeit der Klimakrise und die von den Mitgliedsstaaten angestrebten Klimaziele offenbaren die Schwächen des Energiecharta-Vertrags. Fest steht aber auch, dass die Vertragsaustritte mit weitreichenden Rechtsrisiken einhergehen.

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