Es ist der 5. März und ein langer Wahlkampf in Estland geht zu Ende. Wochenlang buhlten die Parteien im 1,3 Millionen-Einwohner-Staat um die Stimmen der Wähler*innen. Jetzt ist Abend und auch die allerletzte Möglichkeit seine Stimme abzugeben ist verstrichen. Gespannt warten Parteimitglieder und Bürger*innen auf die ersten Hochrechnungen. Und als sie da sind, kann vor allem eine jubeln: Premierministerin Kaja Kallas. Ihre liberale Estnische Reformpartei, die Eesti Reformierakond konnte mit ihren Regierungsanspruch mit 31,2% der Stimmen nicht nur verteidigen, sondern sogar festigen. Schließlich erhöhte sich die Anzahl der Sitze der Reformpartei im Riigikogu, dem nationalen Parlament, von 34 auf 37 von 101 Sitze. „Die meisten Wähler haben gesprochen und wenn ich es richtig vom Bildschirm ablese, sieht es für uns ziemlich gut aus.“, sagte Kallas dem estnischen Fernsehsender ETV kurz nach der Ausstrahlung der ersten Hochrechnung. Die Reformpartei und ihre Spitzenkandidatin können sich nun sicher sein: Wir haben auf die richtigen Themen gesetzt.
Nicht nur Außenpolitik: Die Debatte um den Krieg in der Ukraine
Das zentrale Thema des Wahlkampfes war der Einmarsch Russlands in die Ukraine und die Rolle Estlands in diesem Konflikt. Kallas, seit 2021 Premierministerin des baltischen Landes, positionierte sich früh an der Seite der Ukraine. Als Befürworterin von Sanktionen gegen Russland und Waffenlieferungen an die Ukraine trat die 45-jährige seitdem öffentlichkeitswirksam auf, u. a. durch die Veröffentlichung eines Gastbeitrages in der New York Times. Die Wichtigkeit des Konflikts kommt nicht von irgendwo. Estland ist ein direkter Nachbar Russlands: Fast 300 km Grenze teilen sich die beiden Staaten. Als ehemaliger Sowjetstaat hat die junge Demokratie also ihre ganz eigene Geschichte mit dem flächenmäßig größten Land der Welt. Seit Jahren provozieren sich die Staaten zudem gegenseitig: Estland hielt beispielsweise eine Militärparade im Jahr 2015 nahe der russischen Grenze ab. Im Gegenzug dazu verletzte Russland 2022 wiederholt den estnischen Luftraum.
Was Estland ebenfalls von vielen anderen Staaten in Europa unterscheidet, ist der beachtlich hohe Anteil der russischen Minderheit im eigenen Land. Damit ist der Krieg in der Ukraine automatisch auch ein innenpolitisches Thema. Etwa ein Viertel der Gesamtbevölkerung hat einen russischen Hintergrund. Debatten entflammten im Wahlkampf, wie mit der Situation umgegangen werden soll. Beispielsweise wurde über das Fortbestehen russischsprachigen Schulunterrichtes diskutiert. Wirklich profitieren bei der russischstämmigen Wählergruppe konnten andere Parteien aber nicht wirklich. Die bei der russischstämmigen Bevölkerung beliebte Estnische Zentrumspartei erhielt 15,3% und die rechtsnationale Partei Ekre 16,1%. Letztere stellt sich zunehmend gegen weitere Waffenlieferungen an die Ukraine. Vermutet wird ein Wahlboykott der russischstämmigen Bevölkerung, was sich auch in der geringen Wahlbeteiligung von 63,7% bemerkbar macht. Zudem besitzen viele russischstämmige Menschen nur den staatenlosen grauen Pass. Dieser Konflikt kann die estnische Demokratie zukünftig massiv herausfordern.
Mir ist heut nicht nach rausgehen: Ich wähle von zu Hause!
Bereits seit 2005 ist es für alle Est*innen möglich von zu Hause zu wählen. Das E-Voting erfreut sich großer Beliebtheit: Insgesamt 51% der Wähler*innen gaben ihre Stimme 2023 online ab. Dabei braucht es kaum mehr als eine PIN-Nummer und das passende Programm, welches auf der Wahl-Website heruntergeladen werden kann. Das E-Voting-System wird schon seit Jahren von den Verantwortlichen verteidigt und teilweise sogar als sicherer angesehen als die analoge Wahl. Cyber Security hat einen hohen Stellenwert in Estland: Im Jahr 2007 wurde der baltische Staat Opfer eines schweren Hackerangriffs, welcher unter anderem Banken und die Websites wichtiger Staatsorgane lahmlegte.
Auf der Suche nach einem neuen Bündnis oder ein Weiter so?
Mit dem eindeutigen Wahlergebnis hat die Estnische Reformpartei einen klaren Regierungsanspruch. Allerdings reicht es nicht, um alleine regieren zu können: Partner*innen müssen her. Bisher regierte Kallas mit der sozialdemokratischen SDE (9,3%) und der konservativen Isamaa (8,2%), die beide ein schlechteres Wahlergebnis erhielten als noch vor 4 Jahren. Es ist offen, ob dieses Bündnis fortbestehen wird, denn die Reformpartei hat alle Möglichkeiten. Besonders interessant dürfte die Option Eesti 200 (13,3%) sein. Die liberale Partei ist der große Gewinner der Wahl und zog frisch ins Parlament ein. Ob die Frage der Koalitionsbildung Kallas am Abend des 5. März beschäftigte, ist schwer zu sagen. Immerhin hatte sie endlich Klarheit: Die Wahl hat sie gewonnen.
Kommentare verfolgen: |