Eurobarometer: Vor welchen Herausforderungen steht Europa?

, von  Basile Desvignes, übersetzt von Theresa Bachmann

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Eurobarometer: Vor welchen Herausforderungen steht Europa?

Vor zwei Monaten hat das Europäische Parlament die Ergebnisse des Eurobarometers 2018 veröffentlicht. Die Umfrage war im März 2018 in den 28 Mitgliedsstaaten der Europäischen Union durchgeführt worden. Einige Monate vor den Wahlen kann sie in mehreren Bereichen Schlüssel zum Verständnis der politischen Herausforderungen der Union sein. Dieser Artikel greift daher einige wichtige Elemente auf, die weiterer Erklärung und Ausdifferenzierung bedürfen.

Sehr starkes Zugehörigkeitsgefühl zum europäischen Projekt

Zunächst einmal zeigt die Studie, dass das Zugehörigkeitsgefühl zur EU noch nie so hoch war wie im Jahr 2018. Wie zu erwarten, betonten die Dienststellen des Europäischen Parlaments daher, dass dieses Ergebnis ein Sieg für die europäischen Institutionen sei. Dieses Ergebnis überrascht oder erscheint uns angesichts des aktuellen politischen Kontexts in Europa sogar wider jeglicher Intuition: Der Brexit, der Aufstieg und die Machtübernahme nationalistischer Bewegungen, die mit europäischen Institutionen im Konflikt stehen, wie die von Sebastian Kurz‘ ÖVP in Österreich oder der von Matteo Salvini angeführten Koalition in Italien, die sich nur in ihrer Ablehnung Europas einig ist, sind Entwicklungen, die den Aufstieg der Euroskepsis in der Union bezeugen.

Dennoch belegen die Langzeitdaten, dass 62% der Befragten (EU28) glauben, dass eine Mitgliedschaft in der EU eine gute Sache für ihr Land sei; 68% glauben, dass ihr Land von seiner Mitgliedschaft profitiert habe. Dies ist das beste Ergebnis seit 1973, als die Meinungsumfrage erstmals durchgeführt wurde. Nur 17% der Europäer*innen geben heute an, dass sie bei einem entsprechenden Referendum für den Austritt aus der Union stimmen würden.

Darüber hinaus liegt die Zustimmungsrate zum Euro (€) bei 77%, was erneut die höchste Rate in der Geschichte des Eurobarometers ist: Die Europäer*innen identifizieren sich weltweit mit den Projekten der Union. Es scheint also, dass sich die Eurobefürworter*innen freuen können: Der Brexit, der von den europäischen Bürger*innen weltweit als negativ wahrgenommen wird, hat zu einer Erneuerung des europäischen Gemeinschaftsgefühls geführt. Dennoch müssen diese Ergebnisse relativiert werden. Die Dienste des Europäischen Parlaments beschränken sich auf eine allumfassende Analyse des europäischen Zugehörigkeitsgefühls, obgleich es zweckmäßiger erscheint, innerhalb der Union geographisch zu differenzieren. Europhilie wird nicht von allen Ländern der Union gleichermaßen geteilt. Für eine Gruppe von sechs Ländern (Tschechische Republik, Italien, Kroatien, Griechenland, Österreich und Rumänien) sowie das Vereinigte Königreich liegt die Zufriedenheitsrate mit der EU unter 50%.

Das Zugehörigkeitsgefühl zur EU ist nicht gleichmäßig auf die Mitgliedstaaten verteilt: Während es im Norden und Westen der EU stark ist, ist im Süden und Osten eine Tendenz zur Euroskepsis feststellbar.

In Ungarn und Rumänien liegen die Quoten ebenfalls nur knapp über 50%. Dementsprechend ist die Europhilie auf den Norden und Westen beschränkt, während die Euroskepsis im Osten und Süden stärker erscheint: Das Zugehörigkeitsgefühl zur EU ist also nicht gleichmäßig verteilt.

Der Fall Italien zeigt besonders deutlich die europäische Vertrauenskrise: Die Rate derer, die sich zur EU zugehörig fühlen, beträgt nur 42% und im Falle eines Referendums würden 24% der Wähler*innen für den Austritt aus der Union stimmen. Darüber hinaus geben 32% der Befragten an, nicht zu wissen, ob sie für einen Austritt oder eine weitere Mitgliedschaft ihres Landes stimmen würden. Dies deutet auf echte Turbulenzen in der öffentlichen Meinung hin, wenngleich das Land historisch gesehen ein Motor der europäischen Integration ist. Während die Europäer*innen sich alles in allem mit dem europäischen Projekt identifizieren, sind nur wenige zuversichtlich in Bezug auf ihre Zukunft: Nur 28% glauben, dass in der EU „die Dinge in die richtige Richtung gehen“; dieser Wert ist nicht nur gesunken, sondern nähert sich auch seinem niedrigsten Wert.

Die Migrationsfrage ist die größte Sorge der Europäer*innen

Als nächstes befasst sich die Studie mit den Sorgen der Europäer*innen. Die größte unter ihnen ist die Migrationsfrage, die von 50% der Befragten als „wichtig“ eingestuft wird. Das Thema Migration ist sicherlich ein grundlegender Faktor für die Erklärung der Euroskepsis in mehreren Ländern, die direkt damit konfrontiert wurden. Die Quote beträgt zum Beispiel 64% in der Tschechischen Republik (+11 Prozentpunkte), 71% in Italien (+5), 64% in Griechenland (+5 ) gegenüber 39% in Frankreich. Auf den nächsten beiden Plätzen folgen Wirtschaftswachstum und die Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit (47%). Daran schließt sich der Kampf gegen den Terrorismus (44%) an, insbesondere in den vor kurzem von Terrorangriffen betroffenen Ländern Frankreich und Belgien (53%), wenngleich der globale Trend rückläufig ist.

Im Gegensatz dazu besteht bei hoheitsrechtlichen und sozioökonomischen Themen wenig Konsens, diese werden zumeist nur von 15 bis 30% der Befragten als „wichtig“ eingestuft. Darüber hinaus müssen diese Zahlen hinsichtlich ihrer Veränderungen im Laufe der Zeit analysiert werden: Zwischen April und September 2018 gewann die Zuwanderung 5 Prozentpunkte hinzu, während die Prozentzahlen aller anderen Themenkomplexe stagnierten oder sanken. Dieses Phänomen wird vor allem auf lange Sicht sichtbar: Im Jahr 2012 wurde Einwanderung nur von 8% der Befragten als wichtiges Thema angesehen. Nationalistische, populistische und euroskeptische Gruppierungen hören also nicht auf, an Terrain zu gewinnen, wenn sie sich weiterhin auf diejenigen Fragen konzentrieren, die in der öffentlichen Meinung an Bedeutung gewinnen. Der Kampf gegen den Euro, über den unter Europäer*innen Einigkeit herrscht, wird dementsprechend sicherlich aufgegeben werden. Andersherum müssen die traditionellen Parteien – insbesondere die sozialdemokratischen – Einsatz zeigen, wenn sie der Krise, in die sie geraten sind, entkommen wollen.

Zwischen April und September 2018 kletterte die Migrationsfrage nach einem Anstieg von 5 Prozentpunkten an die Spitze der Sorgen der Europäer*innen.

Das Aufkommen der Klimafrage

Ein weiteres Thema gewinnt an Bedeutung unter den europäischen Bürger*innen: die Klimapolitik. Im September 2018 beschäftigte sie 40% der Befragten und wächst weiter konstant (+5 Prozentpunkte seit April 2018). Doch auch hier gibt es große Unterschiede zwischen den Ländern des Nordens und des Westens auf der einen Seite (Schweden: 75%), und den Ländern des Südens und des Ostens (Bulgarien: 18%; Lettland: 21%). Nichtsdestotrotz lässt sich feststellen, dass dieser Anteil in fast allen Mitgliedstaaten ein Wachstum verzeichnen kann, wie beispielsweise in Frankreich mit einem Anstieg um 14 Prozentpunkte zwischen April und September 2018. In Frankreich ist die Klimafrage 54% der Befragten von Bedeutung, sie gilt als ebenso wichtig wie Terrorismus und liegt direkt hinter der Jugendarbeitslosigkeit (54%). Es gibt also einen großen und wachsenden politischen Raum, der insbesondere von ökologischen Gruppierungen besetzt werden kann. Für sie stellen die sozialdemokratischen Parteien, die sich in ganz Europa in einer tiefen Krise befinden, keine Konkurrenz mehr da.

Mangelnde Einbindung der Bürger*innen ins demokratische System

Abschließend bat der Barometer die Teilnehmer*innen um eine Beurteilung der europäischen Institutionen. 46% der Befragten sind mit der Funktionsweise der Demokratie in der EU zufrieden. Diese Zustimmungsrate mag hoch erscheinen, liegt jedoch 9 Prozentpunkte hinter derjenigen der nationalen Institutionen, mit denen die Bürger*innen zufriedener sind. Dies kann zudem je nach Land sehr unterschiedlich ausfallen: während in Irland 15% „unzufrieden“ sind, sind es in Griechenland 64%.

Die Nord-West- / Süd-Ost-Spaltung kann für die Erklärung der Unterschiede innerhalb Europas relevant sein.

Die Nord-West- / Süd-Ost-Spaltung kann für die Erklärung der Unterschiede innerhalb Europas relevant sein. Nur drei Länder (Griechenland, Spanien und Italien) haben eine Unzufriedenheitsrate von mehr als 50%, aber ganze 12 Länder erreichen 40%. Das Empfinden der Bürger*innen, dass ihre Meinung in der EU nicht zählt, kann diese Unzufriedenheit zum Teil erklären. So finden beispielsweise 80% der befragten dänischen Staatsbürger*innen, dass ihre Stimme in der EU zählt, und 79% sind mit ihrer demokratischen Arbeitsweise zufrieden. Umgekehrt geben die befragten Italiener*innen, Spanier*innen und Griech*innen an, dass ihre Stimme nicht zähle und sie mit dem demokratischen Funktionieren Europas nicht zufrieden seien.

Dieser Parameter reicht jedoch nicht aus: Die Bürger*innen einiger Länder wie Frankreich und Ungarn sind mit der Funktionsweise der Demokratie nicht zufrieden, finden jedoch, dass ihre Stimme zählt. Die EU muss daher die Interaktionen mit den europäischen Bürger*innen intensivieren, um sie in die Funktionsweise der Demokratie in Europa einzubinden. Obwohl 65% der Befragten angeben, dass sie wahrscheinlich bei den bevorstehenden Europawahlen abstimmen werden, ist es unwahrscheinlich, dass dies der Fall sein wird. Bei den Europawahlen kommt es immer wieder zu Rekordzahlen bei den Enthaltungen (57% bei den Wahlen 2014), die beständig steigen.

In ihrer Pressemitteilung zum Eurobarometer präsentieren die Dienststellen der Kommission und des Europäischen Parlaments die Ergebnisse der Studie als sehr positiv. Sie heben dabei das Vertrauen der Europäer*innen in die EU-Institutionen und ihr Verständnis für EU-Maßnahmen hervor. Bei genauerer Betrachtung stellen wir jedoch fest, dass das Eurobarometer nur einen einzigen positiven, wenngleich sehr wichtigen, Aspekt aufweist: Die Bürger*innen Europas mögen die EU und die Mehrheit unter ihnen möchte nicht, dass ihr Land sie verlässt.

Ohne dass die Dienststellen der Institutionen dies darstellen, bringen die befragten Bürger*innen nichtsdestotrotz mehrere Sorgen über die Zukunft Europas zum Ausdruck: insbesondere zu den Themen Soziales und Sicherheit, vor allem aber in Bezug auf die Migrationsfrage. Diese Besorgnis spiegelt sich in der letztlich heterogenen Unterstützung der Bevölkerung für die EU-Institutionen wider, insbesondere im Osten und Süden.

Die klimapolitische Herausforderung drängt sich in mehreren Ländern auf und könnte zu einem entscheidenden Thema für die nächsten Europawahlen werden. Jedoch sind nicht alle sozialen Klassen dieser Ansicht: Bei den Eliten stößt die Klimafrage auf mehr Beachtung als bei den unteren Klassen. Es gilt daher, auf die entstehende Spaltung zwischen Progressiven und Populist*innen zu achten, hinter der sich eine Aufspaltung der Klassen versteckt. Jene Spaltung erlaubt es den populistischen Gruppierungen, sich zu legitimieren, indem sie sich als Verteidiger des Volkes gegen die Eliten darstellen. Die Aufspaltung in Progressive und Populist*innen suggeriert, dass die Eliten und das Volk nicht dieselben Werte in Bezug auf Ökologie haben, obwohl das Thema bei ihnen einfach nur nicht den gleichen Stellenwert hat. Bei der Kluft zwischen Progressiven und Populist*innen geht es also einzig und allein um Werte, nicht um Sorgen.

Für die Pro-Europäer*innen ist die Gefahr einer Kampagne, die auf diese Spaltung beschränkt wäre, ohne auf die Migrationsfrage und die Forderung nach dem Schutz der eigenen Kultur einzugehen, sehr real. Die Pro-Europäer*innen müssen daher die Themen aufgreifen, die nationalistische und euroskeptische Parteien derzeit monopolisieren. Der aktuelle progressive Diskurs, der die Werte der Offenheit, der Menschenrechte, die Klimafrage und einen gewissen ökonomischen Optimismus verteidigt, entspricht den Ambitionen der oben genannten Kategorien, stößt aber nur auf wenig Resonanz in der Bevölkerung. Die Meinungsverschiedenheiten zwischen Europäer*innen bei wichtigen Themen bestehen nicht nur auf europäischer, sondern auch auf nationaler Ebene zwischen verschiedenen sozialen Schichten. Die EU muss aufpassen, nicht noch einmal als zu elitär wahrgenommen zu werden: Angesichts des derzeitigen politischen Kontextes, wäre dies der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringen würde.

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