Ein Kommentar von Benedikt Putz

Europa-Bilanz der Bundesregierung: Gähnende Leere

, von  Benedikt Putz

Europa-Bilanz der Bundesregierung: Gähnende Leere
Olaf Scholz: Kein guter Kanzler für Europa? Foto: Wikimedia Commons / Sandro Halank / Copyright

Meinung. Am Sonntag wählt Deutschland ein neues Parlament. Im Wahlkampf wurde mit harten Bandagen gekämpft, persönlich und politisch. Das Thema Europa spielte dabei kaum eine Rolle. Es ist die Fortsetzung einer Schlafwandlerei, die uns teuer zu stehen kommen wird.

Spätestens als am 6. November 2024 der 45. und frisch gewählte 47. Präsident der Vereinigten Staaten in seinem Golfclub Mar-a-Lago auf die Bühne trat, war klar: Die Tage des transatlantischen Bündnisses sind gezählt. Nur wenige Stunden später folgte in Berlin der nächste politische Paukenschlag. Die Ampelkoalition platzt. Kurz zuvor hatte Wirtschaftsminister Habeck die Koalition noch zum Zusammenhalt gemahnt, da Deutschland jetzt „voll handlungsfähig“ sein müsse. Diese Regierung war aber nie handlungsfähig, zumindest nicht in der Außen- und Europapolitik. Dass US-Vizepräsident Vance es auf der Münchner Sicherheitskonferenz nicht einmal mehr für nötig hielt, den Bundeskanzler zu treffen, ist das Ergebnis eines geopolitischen Versagens.

Keine Antworten auf große Fragen

Die Ampelregierung hat viel versprochen, aber wenig gehalten. Das gilt vor allem für die Außen- und Europapolitik. Im Koalitionsvertrag hieß es Ende 2021 noch: „Eine demokratisch gefestigtere, handlungsfähigere und strategisch souveränere Europäische Union ist die Grundlage für unseren Frieden, Wohlstand und Freiheit.“ Ob die Ampel nun an ihren Egos, der mangelnden Führungskompetenz des Kanzlers oder der Größe ihrer Aufgaben gescheitert ist – auf europäischer Ebene hat sie jedenfalls nicht einmal versucht, die selbst vereinbarten Ziele zu erreichen.

Volker Wissing, Michael Kellner und Lars Klingbeil bei der Unterzeichnung des Koalitionsvertrages am 7. Dezember 2021

Um eines vorwegzunehmen: Ja, die weltpolitische Lage ist kompliziert. Die Zeiten des Dreiklangs aus billigem Gas aus Russland, Exporten nach China und Sicherheitsgarantien durch die Vereinigten Staaten, der Deutschland lange Wohlstand bescherte, funktioniert nicht mehr. Es müssen neue Bündnisse geschlossen und neue Wirtschaftszweige aufgebaut werden. Die Ampelkoalition hatte die Chance, Großes zu leisten und Deutschland fit für die Zukunft zu machen. Nach den anfänglichen Erfolgen, zum Beispiel beim Schließen der Gaslücke 2022, ist sie daran krachend gescheitert. Sie hatte keine Antworten auf die großen Fragen unserer Zeit.

Das persönliche Scheitern des Kanzlers

Es gibt ein berühmtes Zitat, das dem ehemaligen US-Außenminister Henry Kissinger zugeschrieben wird: „Wen rufe ich an, wenn ich mit Europa sprechen will?“ Kissinger selbst bestreitet, dies jemals gesagt zu haben. Unabhängig davon beschreibt die Frage aber ein Problem, das auf europäischer Ebene bis heute nicht gelöst wurde. Denn Geopolitik – und ja, wir leben in einem neuen Zeitalter der Geopolitik – wird von einer Handvoll Staats- und Regierungschefs gemacht. In der EU umging man dieses Problem lange Zeit durch ein starkes deutsch-französisches Tandem: De Gaulle und Adenauer, Giscard d’Estaing und Schmidt, Mitterrand und Kohl oder Sarkozy und Merkel.

Angela Merkel und Nicolas Sarkozy bei der Münchner Sicherheitskonferenz 2009

Ein solches Tandem konnte Scholz trotz ständiger Bemühungen Macrons nie auf die Beine stellen. Das ging so weit, dass selbst das wiederbelebte Weimarer Dreieck, das Gesprächsformat zwischen Deutschland, Frankreich und Polen, immer mehr zu einem französisch-polnischen Zweieck wurde. Kein Wunder also, dass das einflussreiche Politmagazin Politico vor einigen Wochen titelte, man müsse heute die italienische Premierministerin Meloni anrufen, wenn man mit Europa sprechen wolle. Eine Rechtspopulistin als mächtigste Person Europas – das ist auch die persönliche Schuld des Kanzlers.

Europa ist kein Nice-to-have, sondern ein Must-have

Dabei gab es in der ausgehenden Legislaturperiode vielleicht zum letzten Mal ein offenes Fenster für Reformen auf europäischer Ebene. In seiner Rede an der Pariser Sorbonne im September 2017 versuchte der französische Staatspräsident Macron, dem europäischen Projekt neues Leben einzuhauchen. Die weitreichenden Reformvorschläge blieben von der damaligen Bundesregierung unter Kanzlerin Merkel unbeantwortet. Doch auch nachdem Macron diesen Versuch 2024 an gleicher Stelle, und wenige Monate später in Dresden, wiederholte, war das Warten auf eine Antwort aus Deutschland vergebens. Mit Blick auf die starken Umfragewerte für den Rassemblement National in Frankreich und die Regierungsübernahme durch rechtspopulistische Parteien in ganz Europa ist das nicht einfach eine vertane Chance, sondern eine Katastrophe.

Diese Untätigkeit hat bereits jetzt fatale Konsequenzen. Geht es nach US-Präsident Trump, muss Europa in den Friedensgesprächen über die Ukraine nicht einmal am Verhandlungstisch sitzen. Europa wird von der großen Bühne der Weltpolitik auf die Zuschauerränge eines Diktatfriedens degradiert. Besonders deprimierend ist, dass die europäische Unmündigkeit größtenteils selbstverschuldet ist. Bereits kurz nach Trumps Wahlniederlage 2020 war klar, dass er 2024 erneut antreten würde. Und wir haben aus seiner ersten Amtszeit gelernt, dass er vor allem eine Sprache versteht: die Sprache der Macht. Statt uns darauf vorzubereiten, haben wir lediglich eine mickrige Taskforce der EU-Kommission zustande bekommen. Die Regierungschefs der einzelnen Länder, die das Schicksal unseres Kontinents immer noch bestimmen, haben es schlichtweg verpennt. Deutschland, das bevölkerungsreichste Land der EU und die drittgrößte Volkswirtschaft der Welt, ist die kaputte Lokomotive dieses Schlafwagenzuges.

Trump und Putin beim G20-Gipfel in Hamburg 2017: Entscheiden sie nun über das Schicksal Europas?
Foto: Wikimedia Commons / Kremlin.ru / Copyright

Was können wir von einer neuen Bundesregierung erwarten?

Sicherlich wird nach dem 23. Februar nicht schlagartig alles besser. Daran haben auch die Medien ihren Anteil. Eine Debatte über die strategische Ausrichtung Deutschlands in Europa findet in der Öffentlichkeit kaum statt. Die Parteien können ganze Wahlkämpfe bestreiten, ohne ihre europapolitischen Konzepte wirklich auf den Prüfstand stellen zu müssen. Es wäre daher wenig verwunderlich, wenn sich die deutsche Visionslosigkeit in der Außen- und Europapolitik fortsetzen würde.

Dennoch gibt es Grund zur Hoffnung. Auch in Brüssel war eines der größten Probleme der letzten drei Jahre der ewige Streit innerhalb der Bundesregierung. Zwischenzeitlich grassierte in Brüssel gar die Angst vor dem „German Vote“ – der deutschen Enthaltung bei Entscheidungen auf EU-Ebene, wenn sich die Koalitionspartner in Berlin auf keine gemeinsame Position einigen können. Das Phänomen ist nicht neu, aber in den letzten drei Jahren kam es immer häufiger zu kurzfristigen Kurswechseln. Die neue Bundesregierung kann und muss das besser machen.

Ein wahrscheinlicher Kanzler Merz steht jedenfalls vor immensen Herausforderungen. Das deutsch-französische Tandem muss wiederbelebt und die Zusammenarbeit mit Polen ausgebaut werden. Die europäischen Institutionen sind reformbedürftiger denn je. Geostrategisch braucht Europa ein Konzept für den Umgang mit der immer stärker werdenden autoritären Achse – ganz zu schweigen von den Angriffen gegen unsere gemeinsame Wertebasis aus dem Inneren. Von Merz, der auf der Münchner Sicherheitskonferenz bereits versehentlich als „Kanzler“ vorgestellt wurde, ist jedenfalls mehr Führungsstärke zu erwarten als von seinem Vorgänger. Es bleibt zu hoffen, dass er seinen künftigen Aufgaben gewachsen ist. Sonst wird diese EU tatsächlich sterben, damit Höckes wahres Europa leben kann.

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