Europäer*in zu sein bedeutet Antirassist*in zu sein

, von  Nikolas Karanikolas

Europäer*in zu sein bedeutet Antirassist*in zu sein
Ist (Anti-)Rassismus Teil der europäischen Identität? Foto: AdobeStock / Volodymyr / Lizenz gekauft durch den Autor

#RassismusneinDanke, #JeNeSuisPasUnVirus – das Internet, unsere Medien und ganz Europa sind voller Bekundungen gegen Rassismus sowie für Vielfalt und Toleranz. Diese Position gegen Rassismus ist nicht nur heute – am Tag gegen Rassismus – deutlich spürbar, sondern hat sich zu einem Mainstream des Antirassismus entwickelt. Umgekehrt hat sich jedoch ebenso ein Mainstream des Rassismus gebildet. Ist die europäische Identität eine antirassistische, fragt sich treffpunkteuropa.de-Redakteur Nikolas Karanikolas. Ein Kommentar.

Beide Ströme, der Rassismus ebenso wie der Antirassismus, sind fest in Gesellschaft, Politik und den hohen Häusern Europas verankert. Das zeigte zum Beispiels der Ausruf des griechischen Politikers Eleftherios Synadinos, dass Türk*innen schmutzig seien, und die Positionierung von Beatrix von Storch zum Gebrauch von Schusswaffen gegen Geflüchteten. Die beiden Politiker*innen stehen in einer langen Reihe von Menschen, die sich im EU-Parlament rassistisch geäußert haben. Dem gegenüber steht beispielsweise das Plädoyer des ehemaligen Präsidenten des Europäischen Parlaments Martin Schulz. In diesem bezeichnete er die Europäische Union als antirassistisch und schloss Synadinos von einer Sitzung des Parlaments aufgrund jener rassistischen Äußerung gegenüber Türk*innen aus.

Rassismus hat sich in der EU eingenistet

Mit einem Blick auf die politische Landschaft und auf Aussagen, die in Parlamenten wie dem Europäischen geäußert werden, stellt sich die Frage, ob Rassismus ein salonfähiger Bestandteil unserer Gesellschaft geworden ist. Dieser These widerspricht bereits die Präambel der Treaty Establishing a Constitution for Europe, welcher Werte wie Gleichheit oder Menschenrechte als die grundlegenden für Europa bezeichnet. Auch die Europäische Union wehrt sich durch politische Akzente entschlossen dagegen: beispielsweise durch die Gender-Equality-Strategy 2020 – 2024. In dieser versucht sie, Geschlechtergerechtigkeit anhand einer intersektionalen Perspektive zu erreichen. Damit zeigt sie auch: Ohne Einsatz gegen Rassismus geht Geschlechtergerechtigkeit nicht. Ebenso beschloss das Europäische Parlament im Februar eine Resolution, die gesundheitlich nicht notwendige Operationen an Intersexkindern (Ein Mensch, dessen genitale oder andere sexuelle Merkmale nicht klar einer klassischen Definition eines männlichen oder weiblichen Körpers zuordenbar ist.) verurteilt und Mitgliedstaaten nahelegt, diese zu verbieten. Die Botschaft der EU ist klar: Es gibt Rassismus, das ist ein Problem und das müssen wir angehen.

Doch sind einige Mitgliedstaaten der EU weit von der Bereitschaft entfernt, diese Resolution auch umzusetzen. Sowohl die Gender-Equality-Strategy als auch diese Resolution werfen ähnliche Problematiken auf wie der Konflikt zwischen Synadinos und dem Europäischen Parlament im Jahr 2016. Die Europäische Union als Organisation strebt häufig nach einem antirassistischen Ideal, dem andere Akteur*innen, beispielsweise einzelne Mitglieder des Europäischen Parlaments entgegenwirken. Nun könnte anhand eines umgewandelten Wiener Sprichwort bilanziert werden, „die Europäische Union ist gut, nur die Mitgliedstaaten sind schlecht“. Deutschland ist dabei ebenso keine Ausnahme in der Europäischen Union. Aufgrund der Hautfarbe haben in Deutschland 37% der Menschen mit Migrationshintergrund, die People of Color (PoC) sind, Diskriminierung erfahren. Der EU-Durschnitt liegt bei 27%.

Die EU zwischen Ideal und Realität

Einerseits strebt die EU eine Gemeinschaft ohne Rassismus an, andererseits nimmt Rassismus in den Mitgliedstaaten zu. Manch einer mag sogar sagen, dass Rassismus ein fester Bestandteil des öffentlichen Raumes geworden ist. Die EU und die Mitgliedstaaten als zwei Welten zu betrachten, die nicht miteinander interagieren oder sich gar in zwei verschiedene Richtungen entwickeln, ist jedoch nicht korrekt. Dies kann anhand des Beispiels der Resolution zu Operationen an Intersexkindern gezeigt werden. Human Rights Watch unterstrich in ihrem World Report 2020 den Einfluss der Resolution der EU diesbezüglich zu Veränderungen der Politik in den Mitgliedsstaaten. So zog jene Resolution ein Verbot solcher Operationen in Malta und restriktive Schritte in Spanien nach sich.

Ist die EU für ihre Mitgliedstaaten also eine Vorreiterin für Menschenrechte? Sie kann es sein, wenn sie durch ihre inhaltlichen Positionen die Mitgliedsstaaten zu einem Umschwung bringen kann. Möchte man diesen Sachverhalt massiv herunterbrechen und anhand eines psychologischen Phänomens erklären, wäre ein möglicher Begriff „Lernen am Modell“. Dieses Modell geht auf den kanadischen Psychologen Albert Bandura zurück. Er stellte fest, dass beispielsweise Kinder das Verhalten von Modellen wie Erwachsenen imitieren und auf diese Weise lernen. Nun sträubt sich sicherlich nahezu jeder Mitgliedstaat zu sagen, dass er etwas von der Europäischen Union zu lernen habe. Jedoch zeigt das Beispiel der EU-Resolution zu Operationen an Intersexkindern, dass die EU durchaus Ideale oder Normen setzten kann. Diese nehmen Staaten teils an oder zwingen diese wenigstens zu einer Reaktion. Der amerikanische Politologe Francis Fukuyama beschreibt dies als das Ringen um eine Identität. In diesem Kontext ist Identität nicht nur das eigenen Selbstverständnis, sondern auch Ausgangspunkt, von dem sich weitere politische Entscheidungen ableiten. Da dies im gesamt europäischen Rahmen betrachtet wird, kann sogar von einem Ringen um eine europäische Identität gesprochen werden. Die Kernfrage ist nun, was für ein europäische Identität wir besitzen und welche wir haben wollen.

Eine europäische Identität gegen Rassismus

Rassismus als Identität existiert wohl leider in Europa. Politiker*innen, die sich in Parlamenten rassistisch äußern sowie Alltagsrassismus unterstreichen das und fördern diese Identität. Demgegenüber unterstreicht die EU mit antirassistischen Resolutionen und Beschlüssen ihre Identität als offene, gleiche und tolerante Gemeinschaft. Beide Identitäten ringen und der Ausgang ist noch offen. Doch kann jede*r Bürger*in Teil dieses Ringen um eine Identität sein. Ein Anfang kann es sein, eine Identität zu wählen, vielleicht eine europäische Identität, die für einen bedeutet, in einer Welt ohne Rassismus leben zu wollen. Europa ist bunt und vielfältig. Vor diesem Hintergrund ist die Frage, ob wir ein Europa wollen, das Rassismus zulässt, gleichzusetzten mit der Frage, ob wir überhaupt eine Europäische Union wollen. Toleranz, Respekt und Vielfalt sind Grundfeste der Europäischen Union. Der Einsatz gegen Rassismus ist daher auch Einsatz für die Europäische Union. Deswegen sollte es für uns heißen, dass Europäer*in zu sein auch bedeutet, Antirassist*in zu sein.

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