Frieden gilt als eine der größten Errungenschaften der Europäischen Union (EU). Aber wo fängt er an und wo hört er auf? Die Friedens- und Konfliktforschung unterscheidet zwischen zwei verschiedenen Kategorien von Frieden, dem negativen und dem positiven Friedensbegriff. Dabei meint der negative Friedensbegriff die Abwesenheit personaler, direkter Gewalt. Klar, Frieden, das ist das Gegenteil von Krieg und den gibt es seit dem 2. Weltkrieg innerhalb der EU tatsächlich nicht mehr. Frage geklärt, die EU ist verdiente Preisträgerin des Friedensnobelpreises? So einfach ist es leider nicht. Natürlich hat die Staatengemeinschaft einen wichtigen Beitrag dazu geleistet, dass Europäer*innen heute ohne Angst vor Krieg und in weitestgehend sicheren Verhältnissen leben können. Doch Frieden ist eben mehr als die Abwesenheit von Krieg. Daher kennt die Friedens- und Konfliktforschung auch den positiven Friedensbegriff. Dieser meint neben der Abwesenheit von Krieg auch die Abwesenheit von struktureller, indirekter Gewalt. Diese ist meist deutlich schwerer zu fassen. Kann man in innergesellschaftlichen Konflikten und Ungleichheiten auch eine Form des mangelnden Friedens erkennen? Wie lässt sich die Verleihung des Friedensnobelpreises rechtfertigen, wenn der Frieden nur bis zu den EU-Außengrenzen reicht? Und muss sich die EU zurückbesinnen auf ihre eigentliche Gründungsidee?
Frieden – eine zentrale Motivation für die Entstehung der EU
Die EU erhielt den Friedensnobelpreis 2012 mit der Begründung, dass sie „mehr als sechs Jahrzehnte zur Verbreitung von Frieden und Versöhnung, Demokratie und Menschenrechten in Europa beigetragen hat.“ (Thorbjörn Jagland, Vorsitzender des norwegischen Nobelkomitees) Nach den Schrecken des Zweiten Weltkriegs war ein dauerhafter Frieden eine der zentralen Motivationen für die Entstehung der EU. Als deren Ursprung wird der Schuman Plan von 1950 angesehen. Durch diesen sollte die französische und deutsche Kohle- und Stahlproduktion unter eine gemeinsame Aufsichtsbehörde gestellt werden. So wollte man einen Krieg zwischen den beiden Nachbarländern, die sich in den vorangegangenen 70 Jahren in insgesamt drei Auseinandersetzungen bekämpft hatten, unmöglich machen. Daraus entstand 1952 die sogenannte Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS), auch Montanunion genannt, der neben Deutschland und Frankreich auch die vier weiteren Gründungsstaaten Italien, Belgien, Niederlande und Luxemburg beitraten. Hierauf bauten alle weiteren europäischen Integrationsschritte auf. Der Einsatz für Frieden ist also das Fundament der EU. Umso kritischer muss man deshalb auf aktuelle Entwicklungen blicken, die diesen Grundpfeiler der europäischen Idee untergraben.
Grenzen des positiven Friedens innerhalb der EU
Innerhalb der Grenzen der EU gibt es seit Jahrzehnten keine kriegerischen Auseinandersetzungen mehr. Der negative Frieden ist hier also gewährleistet. Doch wie steht es um den sogenannten positiven Frieden? Lassen sich in europäischen Gesellschaften Anzeichen indirekter, struktureller Gewalt feststellen? „Strukturelle Gewalt geht nicht von einem handelnden Subjekt aus, sondern ist in das Gesellschaftssystem eingebaut. Sie äußert sich in ungleichen Machtverhältnissen und folglich ungleichen Lebenschancen von Frauen und Männern, jungen und alten Menschen, Menschen mit unterschiedlichem kulturellem Hintergrund oder Lebensform.“ Das klingt bekannt, oder? Schaut man sich aktuelle Debatten über Rassismus, Sexismus, Klassismus und andere Formen von Diskriminierung an, stellt man schnell fest, dass auch die europäische Gesellschaft von ungleichen Machtverhältnissen und Unterdrückung geprägt ist. Sei es die Black Lives Matter Bewegung oder das Ankreiden von sogenannten Catcalls – strukturelle Gewalt ist und bleibt ein Problem innerhalb der EU, welches von engagierten Minderheiten und viel zu wenig von Seiten der Politik bekämpft wird. Wie so viele andere Privilegien, scheint es also auch den positiven Frieden nur für einen Teil der EU-Bürger*innen zu geben.
Jahrelanger Krieg an den Grenzen der EU
Doch dies ist leider nur eines von vielen Versäumnissen der EU in Sachen Frieden. An ihren Außengrenzen und außerhalb dieser setzt sich die europäische Staatengemeinschaft erschreckend wenig für Frieden und gegen Krieg ein. Ein Beispiel für einen Krieg an den Grenzen der EU ist die Ukraine. Geografisch so nah an Brüssel scheint sie aus den Köpfen europäischer Entscheidungsträger*innen doch verbannt zu sein. Seit der Annexion der Krim im Jahr 2014 – also bereits seit sieben Jahren – herrscht dort Krieg. Mittlerweile sind dabei nach Zählungen der UN 13000 Menschen getötet worden, 3000 davon Zivilist*innen. Doch was hat die EU damit zu tun? Als Auslöser des Konflikts kann ein Kräftemessen zwischen der EU und Russland gesehen werden. Beide Parteien wollen die Ukraine gerne in den eigenen Reihen wissen, auch um sich gegenüber dem jeweils anderen zu behaupten. Eskaliert ist die Situation durch Proteste in Zusammenhang mit einem Assoziierungsabkommen mit der EU. Russlands Reaktion hierauf kam keinesfalls überraschend, man hätte schon im Vorfeld Schritte zur Deeskalation ergreifen können (siehe auch den Artikel „Krim-Konflikt: Die Verantwortung Europas“). Doch das war nicht der Fall. Die Annexion der Krim wurde zwar als Verstoß gegen das Völkerrecht verurteilt und Sanktionen gegen Russland verhängt, aber ansonsten spricht der mehrjährige Krieg vor den Türen der EU nicht wirklich für ein aktives und entschiedenes Engagement für die „Verbreitung von Frieden und Versöhnung“ (vgl. Begründung des norwegischen Nobelkomitees durch Thorbjörn Jagland).
Europäische Waffenexporte als Verstärker von Kriegen in der Sahel-Region
In anderen Regionen kann die Verantwortung für Kriege noch deutlicher bei der EU gesehen werden. Die Mitgliedstaaten der Friedensnobelpreisträgerin, die sich im Sinne Alfred Nobels für die „Abschaffung und Verminderung der stehenden Heere“ einsetzen soll, waren im Jahr 2015 der zweitgrößte Waffenlieferant der Welt – nach den USA und noch vor Russland. Zusätzlich zu den Waffenlieferungen der Mitgliedsstaaten wurde am 22. März 2021 die sogenannte „European Peace Facility“ (EPF) verabschiedet. Bisher beschränkten sich die Interventionen der EU als Staatengemeinschaft hauptsächlich auf die Ausbildung von Regierungsgruppen, die so im Kampf gegen Terrorismus unterstützt werden sollten, sowie die Lieferung technischer Ausrüstung. Mit der EPF ist es der Staatengemeinschaft nun erstmals möglich, selbst Waffen an Drittstaaten zu liefern – bisher konnten dies nur die Mitgliedstaaten. Offiziell heißt es in den Dokumenten der EU, man wolle dadurch Partnerländern helfen, ihre Bevölkerung besser zu schützen. Eines dieser Partnerländer, in das die EU jetzt Waffen liefern kann, ist Mali. Auch deutsche Truppen der Bundeswehr sind hier schon seit mehreren Jahren im Einsatz. Doch ein stabiler Frieden ist nicht in Sicht.
Paradox: mehr Gewalt trotz mehr internationaler Akteur*innen
„Die Gewalttaten haben in der ganzen Region im Vergleich zu 2015 um das Zehnfache zugenommen. Wir sehen hier ein Paradox; mehr Gewalt obwohl mehr internationale Akteure vor Ort sind. Sie tragen aber nicht dazu bei, die Konflikte in der Sahel-Region zu entschärfen“, äußert sich Giuseppe Famà der International Crisis Group gegenüber Monitor. Wie sollen noch mehr Waffenlieferungen aus der EU im Rahmen der EPF in dieser Situation förderlich für den Frieden sein? Zumal bekannt ist, dass es immer wieder zu Menschenrechtsverletzungen durch die malische Armee kommt. Allein im letzten Jahr kam es dabei nach Angaben der Vereinten Nationen zu 320 Opfern. Diese Taten können in Zukunft durch Waffen begangen werden, die direkt von der Friedensnobelpreisträgerin EU kommen. Das passt nicht zusammen. Und man kommt nicht umhin zu denken, dass der europäischen Staatengemeinschaft die Gewinne aus rentablen Waffenexporten wichtiger sind als der Einsatz für Frieden.
Kritik an der europäischen Flüchtlingspolitik
Doch Handlungen bleiben selten ohne Konsequenzen. Ursprünglich wollte man mit militärischen Interventionen in Mali und anderen Regionen Fluchtursachen bekämpfen. Doch die Waffenlieferung an diktatorische Regime bewirkt das genaue Gegenteil. Seit Jahren kritisieren verschiedene NGOs die europäische Flüchtlings- und Asylpolitik (z.B. UN-Flüchtlingshilfswerk, Amnesty International, Seawatch etc.). Menschenverachtende Zustände in Lagern, in denen Menschen mit Fluchterfahrung in Deutschland, Frankreich und anderen europäischen Ländern leben müssen, und Abschiebungen in angeblich sichere Herkunftsländer, in denen jedoch Verfolgung und Krieg drohen, sind nur einige Beispiele dafür. Geändert hat sich in den letzten Jahren jedoch nichts. Die Situation auf dem Mittelmeer und in sogenannten Flüchtlingslagern ist nach wie vor höchst problematisch und von Friedensförderung weit entfernt.
Kriminalisierung der Seenotrettung auf dem Mittelmeer
Eigentlich sind Kapitän*innen gleich durch drei internationale Abkommen zur Seenotrettung verpflichtet (Internationales Abkommen über die Seenotrettung, Internationales Abkommen zum Schutz menschlichen Lebens auf See und Seerechtskonvention der Vereinten Nationen). Das Seevölkerrecht legt außerdem fest, dass die Geretteten „innerhalb einer angemessenen Zeit an einen sicheren Ort“ gebracht werden müssen, „an dem das Leben der Überlebenden nicht mehr weiter in Gefahr ist und an dem ihre menschlichen Grundbedürfnisse gedeckt werden“. Diese Voraussetzung ist in dem Bürgerkriegsland Libyen, in das geflüchtete Menschen täglich zurückgeschickt werden, aber nicht gegeben. Immer wieder wird von Vergewaltigungen, Folter und Misshandlungen in den Lagern für geflüchtete Menschen berichtet. Dennoch wird die zivile Seenotrettung seit Jahren von der EU kriminalisiert. Das bekannteste Beispiel ist wohl die Festnahme der Kapitänin Carola Rackete durch italienische Behörden im Jahr 2019. Doch auch andere Schiffe ziviler Seenotrettungsorganisationen werden immer wieder festgesetzt und dadurch daran gehindert, Menschenleben zu retten. Hinzu kommt, dass die EU die lybische Küstenwache unterstützt. Diese fängt Menschen auf der Flucht über das Mittelmeer ab und bringt sie zurück nach Libyen. Das nennt man auch illegale Pushbacks.
Tödliche Abschottungspolitik der EU
Die traurige Bilanz der europäischen Abschottungspolitik: 21 500 Menschen auf der Flucht sind seit 2014 im Mittelmeer ertrunken. Allein dieses Jahr waren es schon mehrere hundert. Und solange die EU nicht grundsätzlich etwas an ihrer Flüchtlingspolitik ändert, werden es täglich mehr. Diese Zahlen erscheinen vielleicht abstrakt, das Mittelmeer und die EU-Außengrenzen weit entfernt, doch es handelt sich um Menschenleben. Hinter jeder einzelnen Zahl steht ein Menschleben, eine Person, die vor Krieg, Verfolgung und Terror geflohen ist und alles hinter sich lassen musste. Doch die Hoffnung dieser Menschen auf ein sicheres Leben innerhalb der Grenzen der „Festung Europa“ wurde nicht erfüllt. Ihren Frieden, auf den sie so stolz ist und den sie sich gerne auf ihre blaue Flagge mit den 12 gelben Sternen schreibt, will die EU anscheinend nicht mit allen teilen. Was das noch mit einer „Verbrüderung der Völker“, die Alfred Nobel mit dem Friedensnobelpreis ehren wollte, zu tun hat, bleibt wohl ein großes Rätsel – so tief und unergründlich wie das tödliche Mittelmeer vor den europäischen Grenzen.
Die EU muss umdenken.
Die EU ist zweifelsohne mit einem lobenswerten Ideal in ihre Entstehungsgeschichte gestartet. Und die Abwesenheit von Krieg, die für einen Großteil ihrer Bürger*innen zur Normalität wurde, ist eine äußert wertvolle Errungenschaft, für die man jeden Tag dankbar sein kann und sollte. Damit die EU aber das Friedensprojekt ist, welches sie gerne wäre, muss sie sich aktiv für Frieden einsetzen – innerhalb und außerhalb ihrer Grenzen. Dafür bedarf es ein Umdenken, welches auch mal unbequem werden wird. Aber es handelt sich um einen möglichen und notwendigen Schritt, damit die EU sich als Verteidigerin von Frieden sehen kann. Ganz nach dem Motto: „Frieden ist nicht alles, aber ohne Frieden ist alles nichts.“
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