Das oberste Ziel der britischen Außenpolitik unter den Tories von Boris Johnson war nicht nur der Erhalt der nationalen Souveränität. Zeitgleich strebte sie den Wiedergewinn jener Weltmachtposition an, welche während des 20. Jahrhunderts im Zuge von zwei Weltkriegen und des Kalten Krieges Schritt für Schritt verloren gegangen war. Dabei ist es unwahrscheinlich, dass die einstige führende See-, Handels- und Kolonialmacht wieder in genau dieselbe Rolle schlüpfen kann. Vielmehr scheint Großbritannien darauf angewiesen, mit anderen führenden westlichen Staaten enge Kooperationen zu pflegen.
Die „Special Relationship“ zu den USA
Eine besondere Bedeutung kommt dabei den engen Beziehungen zu den Vereinigten Staaten zu. Deren Ursprünge reichen noch bis in die Zeit des Zweiten Weltkrieges zurück und sind davon gekennzeichnet, dass London der politischen Führung in Washington die Rolle eines Seniorpartners anerkennt. Wie seine Vorgänger*innen im Amt des Premierministers war Boris Johnson dabei bemüht, von der politischen Elite in Washington als engster Partner weltweit wahrgenommen zu werden. Diese Einstellung war Ausdruck jener in Großbritannien verbreiteten Meinung, dass das eigene wirtschaftliche Wohlergehen und die eigene Sicherheit nur in Zusammenarbeit mit den Vereinigten Staaten garantiert werden kann. In Europa jedenfalls hatte sich London den nicht unzutreffenden Ruf eines Anwalts von US-Interessen erworben. Für die Tories ist die Allianz mit den USA eine „natürliche“ Kooperation, da sie von der gemeinsamen Sprache, dem Common Law und dem liberalen Wirtschaftsmodell untermauert wird. Sie garantierten für die Tories die fast perfekte Deckungsgleichheit von Werten und Interessen.
Die Beziehungen zu Europa
Unter Boris Johnson war die britische Europapolitik davon geprägt gewesen, dass die Beziehungen zur EU als supranationaler Institution auf ein Minimum reduziert wurden. So schlossen die Tories nach dem vollzogenen Brexit zwar mit Brüssel ein weitreichendes Freihandelsabkommen, suchten aber außen- und verteidigungspolitisch die Kooperation mit den einzelnen Nationalstaaten der Europäischen Union. Von besonderer Wichtigkeit waren dabei Frankreich und Deutschland. Bereits 2010 hatten London und Paris bilateral eine enge militärische Kooperation bei Interventionstruppen, Flugzeugträgern und Atomwaffen vereinbart, die den Segen der USA erhalten hatte. Großbritannien und Frankreich waren ferner enger Partner in der E3, welche noch Deutschland mit einschloss und in der Quad, an der neben den drei europäischen Großmächten auch die USA beteiligt waren. Die militärische Komponente, die das Vereinigte Königreich in diesen Formaten mit einbrachte, war nicht gering: So ist die Gesamttonnage seiner Kriegsmarine so groß wie diejenige Frankreichs und Deutschlands zusammen genommen. Zudem sollen ab 2025 40.000 personenstarke britische Interventionstruppen bereitstehen, um überall auf der Welt eingesetzt werden zu können. Schon heute führt Großbritannien einen militärischen Verbund der Ostsee-Anrainer an. Für die Zukunft rechnet man in London damit, für die USA in Europa an Wert zu gewinnen, da diese ihre militärischen Kapazitäten sehr wahrscheinlich in den Indopazifik verlegen werden.
Das Commonwealth als Stütze globaler britischer Machtprojektion
Der Brexit brachte es mit sich, dass sich Großbritannien politisch ein Stück weit von Europa abnabelte und dem Commonwealth zuwandte – also jenem lockeren Zusammenschluss ehemaliger britischer Kolonien, der an die Stelle des verblichenen Empires getreten war. Boris Johnsons Parteifreund*innen verwiesen gerne auf das angenommene große Potenzial dieser Staatenvereinigung. So haben die jährlichen Wirtschaftswachstumszahlen des Commonwealth das der EU-Mitgliedstaaten überflügelt und man scheint in London offenbar anzunehmen, dass sich das Commonwealth zu einer ökonomischen Größe entwickeln kann. Um dem Konzept des „Global Britain“ dienlich zu sein, müsste es aber noch grundlegend politisch umgestaltet und auf Großbritannien ausgerichtet werden. Dazu forderten die Tories innerhalb des Commonwealth die Schaffung supranationaler Institutionen und eines gemeinsamen Binnenmarktes. Allerdings trafen die britischen Pläne bei gewichtigen Mitgliedern der Staatengemeinschaft wie Kanada, Australien und Indien auf Vorbehalte und es ist nicht ausgemacht, dass London sie wird umstimmen können. Gerade Indien versucht ganz entgegen den Plänen der Tories seinen Wirtschaftsraum gegen äußere Einflüsse abzuschotten.
Die Rivalen: Russland und China
Ein wichtiger Faktor für das zukünftige Verhältnis Großbritanniens zu den USA ist China. Dieses Land wird in London als strategischer Rivale betrachtet. Dies hat zwei Gründe: Zum einen möchte das Vereinigte Königreich von den USA weiter als wichtigster Partner wahrgenommen werden und sich deshalb in näherer Zukunft auf deren Seite im Indopazifik engagieren. Zum anderen ist Großbritannien wie die Vereinigten Staaten an der weltweiten Verbreitung liberaler Werte interessiert. Diese doppelte Frontstellung gegen Peking schließt jedoch nicht aus, dass London zu China gute wirtschaftliche Kontakte geknüpft hat. Der Boom des chinesischen Marktes hat dazu geführt, dass die britische Wirtschaft hier in großem Rahmen eigene Produkte absetzen kann. Zugleich aber schlägt hier die „systemische“ Gegnerschaft durch: Das Vereinigte Königreich duldet nicht, dass chinesische Unternehmen in strategisch wichtigen Sektoren wie Kommunikation und Hightech zu viel Einfluss gewinnen. Gegenüber Russland wird ebenfalls das Interesse an guten bilateralen Wirtschaftskontakten betont. Auch arbeitet man mit ihm bei bestimmten Konflikten zusammen, wie etwa dem um das iranische Atomprogramm. Zugleich gibt der einflussreiche britische Think-Tank Chatham House aber an, dass Russland langfristig am Niedergang britischer Macht interessiert sei. Folglich sei das Land wie China als Rivale einzustufen. Die Beziehungen zu Moskau verschärften sich dann im Zuge des russischen Angriffs auf die Ukraine, infolgedessen Großbritannien die massiven Wirtschaftssanktionen des Westens gegen Russland mittrug. An den Einsatz eigener Truppen in der Schwarzmeer-Region denkt man in London aber nicht.
Fazit: Historische Einordnung des „Global Britain“ und ein Ausblick
Großbritannien war seit der Frühen Neuzeit eine global agierende Großmacht, wurde dann aber im 20. Jahrhundert durch zwei Weltkriege erheblich geschwächt. Die als solche empfundene sowjetische Bedrohung und der Aufstieg der USA zur führenden Weltmacht führten dann dazu, dass London die Seniorpartnerschaft Washingtons in der westlichen Welt akzeptierte. Dessen wichtigster Verbündeter in den internationalen Beziehungen zu bleiben, ist bis heute die Maxime des Vereinigten Königreichs.
Die sich seit Anfang des 21. Jahrhunderts anbahnende multipolare Weltordnung kann Großbritannien nutzen. Denn durch den Aufstieg Chinas werden die Vereinigten Staaten voraussichtlich stärker im Indopazifik gebunden werden, sodass sie in anderen Weltgegenden auf mächtige Verbündete angewiesen sein werden. Ähnlich scheint sich London auszurechnen, künftig in Europa und am Persischen Golf eine gewichtigere Rolle zu spielen. Infolge seiner maritimen Überlegenheit zur See ist es außerdem möglich, dass festere militärische Kooperationen mit Frankreich und Deutschland unter britische Führung geraten könnten. Dies würde den Wert Londons für die USA abermals erhöhen. Sollte schließlich auch noch der Umbau des Commonwealth gelingen, so der Wunsch der Tories, könnte sich Großbritannien als eine der weltweit führenden Mächte etablieren.
Allerdings ist die Umwandlung des Commonwealth keine ausgemachte Sache und könnte am Widerstand wichtiger Länder dieser Staatenvereinigung wie Indien, Kanada und Australien scheitern. Zudem ist die militärische Komponente der britischen Weltmachtrolle alles andere als gesichert: So mangelt es den britischen Streitkräften zunehmend an Personal und modernstem Gerät. Auch ist unklar, ob der Brexit nicht doch zu einem Minuswachstum der heimischen Wirtschaft führt, sodass die Verteidigungsausgaben Großbritanniens womöglich nicht auf der gegenwärtigen Höhe gehalten werden können. Daher steht die Zukunft der Großmacht Großbritannien in den Sternen und es wird sich in den nächsten Jahren zeigen, in welche Richtung das Pendel ausschlagen wird. Rishi Sunak, der neue britische Premierminister, verwarf bereits das Ziel, nachdem 3 % des britischen Bruttosozialprodukts in die Rüstung investiert werden sollte. Auch wird erwartet, dass er gegenüber der Europäischen Union einen pragmatischeren Kurs fahren wird als sein Vor-Vorgänger Johnson. Dies scheint wirtschaftlich auch nötig zu sein, da das angestrebte Handelsabkommen mit Indien sich noch in der Schwebe befindet. Kaum eine Veränderung geben dürfte es unter Sunak aber in den Beziehungen zu China und Russland.
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