Liebe Redaktion von Charlie Hebdo,
wir alle erinnern uns an das Attentat vom 7. Januar 2015, bei dem acht Ihrer Kolleginnen und Kollegen aus dem Leben gerissen wurden. Zwei Islamisten hatten an Ihren Karikaturen des Propheten Mohammed derart Anstoß gefunden, dass Sie an den Machern des Magazins ein Exempel statuieren wollten. Es galt denjenigen, die es wagten, die religiösen Gesetze nicht zu befolgen, die die Täter über alles hielten. Durch Europa ging daraufhin ein Aufschrei. „Je suis Charlie“, hieß es auf Spruchbändern, T-Shirts und Profilbildern auf dem ganzen Kontinent als Zeichen der Solidarität.
Nun hat Ihr Magazin mit einer Karikatur erneut für Aufsehen gesorgt. In der jüngsten Charlie Hebdo-Ausgabe greifen Sie den ertrunkenen Flüchtlingsjungen Aylan Kurdi wieder als Motiv auf. „Was wäre passiert, wenn der kleine Aylan aufgewachsen wäre?“ titelt die Karikatur. Die Antwort darunter lautet: „Ein Hinterngrapscher in Deutschland“.
Wieder lautet die Frage: "Dürfen Sie das?„Darf eine Karikatur bitterböse sein? Ein totes Kind verunglimpfen? Absonderliche Verbindung herstellen? Manche sagen ja, weil sie eine zweckgebundene Begründung geben. Satire solle aufrütteln, auf Missstände aufmerksam machen, der Gesellschaft den Spiegel vorhalten. Ich sage aus anderen Gründen entschieden ja. Die Meinungsfreiheit gilt nicht nur für Beiträge, denen wir alle wohlfeil zustimmen können, sondern auch für Provokationen. Sollen griechische oder polnische Zeitschriften Angela Merkel in Nazi-Uniform darstellen? Ich halte das nicht für gerechtfertigt oder politisch zielführend, würde mich jedoch für das Recht der Presse einsetzen, dies zu tun. Die Meinungsfreiheit ist der Wert an sich, um den es hier geht. Es ist ein Grundprinzip unseres demokratischen Zusammenlebens, das nicht leichtfertig weggewischt werden darf. Das bedeutet nicht“anything goes". Die Grenzen des Geschmacks sind weit. Um Grenzen zu Straftatbeständen zu klären, gibt es immer einen rechtsstaatlichen Weg.
Speziell in meiner Generation sehe ich jedoch generell einen Trend, unliebsame Bilder, Meinungen und Gedanken nicht bloß kritiseren zu wollen, sondern ihre komplette Verbannung oder Brandmarkung im öffentlichen Raum anzustreben. So geschieht es nicht nur im Streit um Karikaturen, sondern auch in Debatten rund um Safe Spaces an Universitäten, Trigger Warnings in der Literatur oder Sprechverbote.
„Dürfen Sie das?“ Die Antwort einer freien Gesellschaft sollte keine selbstauferlegte Zensur des Geistes sein - weder aus guten Absichten noch aus Angst. Wir halten es aus. Das ist das, was ich weiterhin mit dem Ausspruch „Je suis Charlie“ verbinden werde.
Hochachtungsvoll,
Ihr Marcel Wollscheid
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