Es ist das bisher schlechteste Ergebnis ihrer Geschichte: Die Nacht des 24. September 2017 werden die Mitglieder der Sozialdemokratischen Partei Deutschland (SPD) nicht so schnell vergessen – so sehr sie das bestimmt möchten. Aber wo die deutschen Sozialdemokraten bei 20 Prozent einen Schrecken bekommen, stehen sie im europäischen Vergleich sogar gut da. In Polen flogen die Sozialdemokraten mit ihrem Bündnis 2015 mit unter acht Prozent aus dem Parlament, in Österreich gerade erst aus der Regierung. Während im Jahr 2000 von damals noch 15 EU Staaten zehn sozialdemokratisch regiert wurden, sind es 2017 - die kommissarische Bundesregierung eingeschlossen - nur noch sechseinhalb von 28 Staaten. Doch auch in den Ländern, wo die Sozialdemokraten die Regierung stellen, wackeln sie. In Schweden, das neben den anderen skandinavischen Ländern als sozialdemokratisches Vorzeigeprojekt gilt, gab es 2010 ebenfalls das schlechteste Ergebnis aller Zeiten. In Frankreich unterstützte der ehemalige Premierminister Manuel Valls anstelle des Kandidaten seiner eigenen Partei dessen Gegenkandidaten Emmanuel Macron bei den Präsidentschaftswahlen. „Die sozialistische Partei ist tot“, schlussfolgerte er.
Die Zeit der Sozialdemokraten zu Ende?
Ganz unrecht hat Manuel Valls mit dieser Aussage nicht. Die großen Namen der europäischen Sozialdemokratie wie Willy Brandt oder Olof Palme sind mit der sozialdemokratischen Ära in den 70er Jahren verbunden. Der Historiker Bernd Faulenbach geht sogar so weit, diese Zeit als „Jahrzehnt der Sozialdemokratie“ zu bezeichnen. An dieser These wurde durchaus Kritik geübt, und auch die heutigen sozialdemokratischen Lichtgestalten Brandt und Palme wurden damals in ihren Parteien nicht nur positiv gesehen. Dennoch wird auf jedem SPD Parteitag Willy Brandt mindestens zehnmal als das Ideal der Sozialdemokratie zitiert. Hingegen wird eine andere Gruppe sozialdemokratischer Regierungsverantwortlicher gerne verschwiegen. Dabei liegen zwischen dem Erstarken der Sozialdemokraten Ende der 90er und ihrem heutigen Dilemma nur 20 Jahre. Zu dieser Zeit kamen mit Tony Blair in Großbritannien und Gerhard Schröder in Deutschland zwei Sozialdemokraten an die Regierung, die einen deutlich marktfreundlichen Kurs verfolgten. Das Schröder-Blair-Papier, das als Neuausrichtung der europäischen Sozialdemokraten verstanden werden sollte, und die in Deutschland daraus folgende Agenda 2010 wurden von Kritikern als Abkehr von der Kernwählerschaft der Partei verstanden, die aus den Arbeiterbewegungen einst hervorging - den Arbeitern.
Doch alleine diese Bezeichnung wirft Fragen auf. Während im letzten Jahrhundert als Arbeiter vor allem Menschen bezeichnet wurden, die im produzierenden Gewerbe arbeiten, wandelte sich diese Gruppe in den letzten Jahrzehnten. Immer weniger Menschen arbeiten in der Produktion und immer mehr im Dienstleistungssektor. So schrumpft die Kernwählerschaft der Sozialdemokraten nicht nur, sondern sie wird auch noch entzweit. Während eine Gruppe von Arbeitern in einem festen Arbeitsverhältnis mit Tarifvertrag im Betrieb abgesichert ist, wird die unterprivilegierte Gruppe der Arbeiter in prekären Geschäftsverhältnissen in Leiharbeit und mit Werkverträgen immer größer. Diese Menschen bekommen laut des Deutschen Gewerkschaftsbundes bis zu 40 Prozent weniger als die Stammbelegschaft eines Betriebes. Für sie steigt das Armutsrisiko und damit die Angst um ihre finanzielle Existenz. Dieses Gefühl wird durch ein externes subjektives Unsicherheitsgefühl noch verstärkt. Viele Menschen sind der Meinung, dass die Welt um sie herum unberechenbarer und gefährlicher geworden ist und das die Politik darauf nicht genügend reagiert.
Fehlende Antworten auf die großen Fragen der Zeit
Dieses Problem lässt die europäische Sozialdemokratie ratlos zurück. Es scheint ihr nicht möglich, den Menschen durch ihre politische Arbeit diese Angst zu nehmen. Dies liegt nicht jedoch nicht nur an mangelnden Ideen, sondern auch an einem Misstrauen ehemaliger Wähler, welches nicht nur aus den Reformen von Blair oder Schröder resultiert: In vielen Ländern waren Sozialdemokraten während der Wirtschafts- und Eurokrise an der Regierung, in Griechenland regierten sie von 2009 bis 2011, in Spanien von 2004 bis 2011. Viele Bürger waren mit den vorgelegten Konzepten nicht zufrieden und wählten nicht mehr sozialdemokratisch. Dennoch scheint auch seitdem kein überzeugendes Konzept vorzuliegen, das diese dringenden Fragen für die Arbeiter zeitgemäß beantwortet. Eine Lücke entstand, in die immer mehr populistische Parteien vorstoßen: laute und radikale Protestparteien, aber auch Populisten, die sich scheinbar sozial geben.
Nicht nur im rechten politischen Spektrum sind in den letzten Jahren neue Parteien entstanden. Seit den 70er Jahren hat sich demokratisch viel bewegt. So entstanden viele ökologisch-grüne Parteien. Auch wenn die Schwerpunkte andere sind als die der Sozialdemokratie, sind Wählerbewegungen im linken Spektrum nicht selten. Dazu schrumpft die traditionelle Wählergruppe und die Parteien richten sich kaum an neue Wählergruppen - so sinken die Stimmenanteile. In der Regierungsbildung sind linke Bündnisse derweil längst nicht mehr die einzige vorrangige Koalition. Große Koalitionen zwischen den beiden größten Parteien, meist Sozialdemokraten und Konservative, gab es in Österreich, Deutschland, Griechenland und den Niederlanden. In allen Ländern haben die Sozialdemokraten danach Stimmen verloren. Inzwischen werden nicht nur in der sogenannten Mitte Koalitionen gebildet. In Estland lässt sich die sozialdemokratische Regierung von einer Koalition aus liberalen und nationalkonservativen stützen – auch sie verzeichnet Verluste. Europaweit haben die sozialdemokratischen Parteien in solchen Konstellationen verloren. Neben den Koalitionspartnern scheinen sie ihr Profil zu verlieren oder so weit zu verwässern, dass es für den Wähler kaum möglich ist, die Antworten der Sozialdemokratie auf die großen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts zu erkennen.
Schwierige Ausgangslage, aber Lebenszeichen für die Europawahl 2019
Dennoch haben nicht nur äußere Umstände Einfluss auf die derzeitige Situation der Sozialdemokraten. Scheinbar planlos wirkt die politische Richtung auch nach innen. Statt Themen finden vor allem Personalien und Grabenkämpfe ihren Weg in die Berichterstattung. So hatte der rechte Flügel des Partido Socialista Obrero Español (PSOE) zuletzt seinen Vorsitzenden abgesägt, um eine Regierungsbeteiligung mit der Linken zu verhindern, und schon Wochen vor dem SPD-Parteitag vergangene Woche spekulierten deutsche Medien über die Zukunft von Martin Schulz in der SPD. Diese Außenwahrnehmung hat auch Einfluss darauf, dass die Zahl der Neumitglieder konstant schrumpft. Junge Menschen engagieren sich vermehrt in thematischen Bewegungen, die keine festen Strukturen haben und nach außen als progressiver wahrgenommen werden. Gerade für die Sozialdemokratie, deren tiefgehende Strukturen auf ehrenamtlichem Engagement aufgebaut sind, gehen so Vernetzungen vor Ort verloren. Der Altersdurchschnitt steigt derweil konstant, in der deutschen SPD liegt er bei 60 Jahren - nicht nur an der Basis, sondern auch bei den Vorsitzenden. Den europäischen Sozialdemokraten fehlt es an der Spitze an authentischen, integren und charismatischen Persönlichkeiten. Die meist männlichen Vorsitzenden werden in der Öffentlichkeit als unbeweglich oder auch einfach gar nicht wahrgenommen.
Dennoch scheint die Sozialdemokratie noch nicht tot zu sein. Der Erfolg von Jeremy Corbyn und der Labourpartei sind ein Zeichen, dass leidenschaftliche Sozialdemokraten immer noch Wahlen gewinnen können. Neben dem Wahlkampf, der es schaffte, eine Bewegung junger Menschen außerhalb der Partei auszulösen, war es nicht zuletzt der langjährige Außenseiter selbst, der die Menschen anzog. Um weiterhin aktiv die Politik mitzugestalten, muss es den Sozialdemokraten bis zur Europawahl 2019 gelingen, ein solches Lebenszeichen europaweit zu erzeugen und auf Herausforderungen wie steigende Ungleichheit, Wohnungsnot oder die Zukunft der EU überzeugende Antworten zu geben.
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