Themenschwerpunkt China: Arnaud Boehmann über das Leben in China, Teil 3/3

Interview: Ein Jahr als Europäer in China

, von  Grischa Alexander Beißner

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Interview: Ein Jahr als Europäer in China
Arnaud Boehmann in China (Privat zur Verfügung gestellt)

Arnaud Boehmann lebte ein Jahr lang in China. Für viele Europäer*innen ist das Land der Mitte, jenseits von dramatischen Berichten und Vorurteilen, noch immer schwer greifbar. Wie sieht der Alltag dort aus? Was bewegt die Chines*innen? Über seine Eindrücke davon, wie es ist, als Europäer in China zu leben, sprach Arnaud mit treffpunkteuropa.de in einem einstündigen Interview, das wir in drei Teilen veröffentlichen. Im letzten Teil sprachen Arnaud und Grischa über die Sichtweite beim Smog, deutschen Kleinmut und darüber, was Chines*innen und Europäer*innen voneinander lernen können.

Bereits in den letzten Wochen hat uns Arnaud Boehmann seine Eindrücke zu China geschildert, aber auch eine persönliche Perspektive auf ein Land eröffnet, das man als Europäer*in nur schwer einschätzen kann. Im dritten und letzten Teil unseres Interviews mit Arnaud Boehmann, sprechen wir über Alltägliches wie das Leben mit dem Smog, aber auch darüber, wie man das schwierige Verhältnis zwischen Europa und China verändern könnte. Denn die Dynamik, die in Europa herrscht, unterscheidet sich sehr stark von der in China üblichen.

Man kann das Land der Mitte zu Recht für seine Menschenrechtslage oder die orwellschen Überwachungsmethoden, über die man hier viel zu lesen bekommt, kritisieren. Aber das ist eben nur eine Seite dieses vielseitigen Landes: Während in China ein mutiger, teilweise gar waghalsiger Wille zum Aufbruch die Gesellschaft und die Menschen antreibt, scheinen Europa und ganz besonders Deutschland vor jedem Risiko zurückzuschrecken. Mutige, neue Ideen und Konzepte findet man immer seltener. Dafür dominiert eine fast selbstzerstörerische Sucht nach dem Alten, dem Gewohnten, dem Alles-soll-so-bleiben. In Punkto Digitalisierung ist Deutschland nicht mehr „erste Welt“, sondern hängt China weit hinterher.

In China zu leben, die Erfahrung machen nur wenige Europäer*innen. Wenn man den durchschnittlichen Deutschen nach China befragt, dann klingt die Antwort zumeist skeptisch, oft besorgt. Menschenrechtsverletzungen, Massenproduktion und chinesische Investitionsstärke sind oft die ersten Dinge, die man hier mit China verbindet. Viele fühlen sich von der Wirtschaftsmacht des Landes ein wenig bedroht, zumindest aber unwohl.

Arnaud selbst studiert Sinologie, deshalb war es für ihn ganz normal in China erst ein, dann zwei Auslandssemester zu verbringen. Wie ein Wasserfall sprudeln die Worte aus dem Wahlhamburger, wenn er von China erzählt. Schon seit längerem engagiert er sich im deutsch-chinesischen Kulturaustausch. Am liebsten zum Thema Musik, da organisiert er Veranstaltungen und Konzerte mit. Arnaud schreibt aber auch Artikel für Sinonerds.com, einer Informationsplattform zu China mit einem vor allem kulturell sehr spannenden Onlinemagazin. Als Deutsch-Franzose ist er es gewohnt, zwischen den Kulturen zu navigieren und unterschiedliche Perspektiven miteinander zu verbinden. Seine Eindrücke und Erlebnisse hat er unserem Redakteur Grischa Beißner geschildert. Eine Stunde lang sprachen sie über China und Europa, was das Leben dort ausmacht und auch was Europäer*innen und Chines*innen dringend voneinander lernen sollten.

treffpunkteuropa.de Bei all der berechtigten Kritik an China gibt es also durchaus auch Dinge, die China besser und intelligenter macht als Europa. Was, findest Du, sollte Europa mehr so machen wie China?

Arnaud Boehmann: Also gerade das Langfristige und diese soziale Dynamik ist etwas, was wir dringend lernen sollten. Auch dass sich die reichen Leute nicht so sehr abkapseln.

Die langfristige Planung und der Mut, einen Fehlschlag in Kauf zu nehmen ist natürlich mit gewissen finanziellen Risiken verbunden, aber der Erfolg gibt China recht. Deutschland hat damals nach diesem tragischen Unfall das Transrapid-Projekt eingestellt - China hat es fertig gebaut. China hat ein Bahnnetz mit - so habe ich es empfunden - nur minimalsten Verspätungen trotz enormen Streckenumfangs. Davon können sich Deutschland und Europa einige Scheiben abschneiden.

Viele von diesen Großprojekten haben Erfolg gehabt und man sieht es auch in der Politik, die China international fährt: Großprojekte werden angepackt, man traut sich, zaudert nicht, aber überstürzt auch nicht. Alles wird sehr sorgfältig geplant, es werden extrem viele Leute in Think-Tanks und in Planungsstäben beschäftigt, damit diese Riesenprojekte laufen. Und natürlich geht mal eins schief, aber das verkraften sie dann, das stecken sie weg. Also davon sollte sich Europa sehr viel abgucken, denn viele unserer Probleme rühren daher, dass man a) nicht langfristig plant und man sich b) vor großen Projekten scheut aus der Angst vor einem Fehlschlag. Egal ob es um Infrastruktur oder um die europäische Integration und Solidarität geht.

treffpunkteuropa.de: Gibt es auch etwas, was China mehr wie Europa machen sollte? Was hast Du beispielsweise am meisten vermisst in deiner Zeit dort?

Arnaud: Günstigen Kaffee. Ich hab viel von meinem Geld für viel zu überteuerten Kaffee ausgegeben. (lacht) Nein. Also viel von dem, was China momentan macht, hat einen sehr hohen Preis, was die Umwelt angeht. Und gerade wo sich die USA fatalerweise aus dem Pariser Klimaabkommen zurückgezogen haben, da versucht nun China diese Lücke zu füllen. China ist, glaube ich, inzwischen der weltweit größte Solarstromerzeuger und man baut dort gewaltige Anlagen, um regenerativ zu werden.

Die Motivation ist da, es gibt auch Strategien und Ansätze, um die Luft zu reinigen. China ist ja für seine extrem hohen Luftverschmutzungswerte in den Großstädten berüchtigt. Aber ich glaube, dass viele der chinesischen Großprojekte immer noch mit viel zu wenig Rücksicht auf die Umwelt gefahren werden und dass die Chines*innen da langfristig sehr aufpassen müssen, dass sie nicht ihre eigene Lebensgrundlage gefährden: Durch Staudämme, das Aufstauen von großen Flüssen, durch neue Aquapolitiken und Bebauungssysteme, die Art, wie sie ihre Großstädte ausbauen.

Es gibt auch noch ein paar ziemlich große Lücken im Gesundheitssystem. Natürlich ist es eine logistisch extreme Leistung, so ein riesiges Volk zu versorgen. Das ist selbstverständlich schwierig, aber da besteht definitiv noch Aufholbedarf. Und ich glaube letztlich, dass ein bisschen Entspannung China insgesamt gut tun würde. Die Menschen stehen unter extremem Stress im Alltag. Es ist eine absolute Leistungsgesellschaft und darunter leidet ganz speziell die junge Generation. Den Prüfungs- und Bildungsstress, den junge Chines*innen tagtäglich erleben, den können wir hier überhaupt nicht nachfühlen und man merkt es den jungen Menschen an. Eine nicht unerhebliche Zahl junger Leute kommt nach dem Gao Kao - das ist quasi das chinesische Abitur - mit Burnout-Syndrom an die Universitäten. Das kann gesamtgesellschaftlich nicht gut sein und ich glaube, dass es allen Gesellschaftsschichten gut tun würde, einen Gang runterzuschalten. Nicht, um Chinas Entwicklung auszubremsen, sondern damit die Menschen ihr sich immer mehr verbesserndes Leben auch genießen können.

treffpunkteuropa.de: Wie muss man sich eigentlich den Smog in den Städten vorstellen? Ist die Luft schwerer zu atmen? Oder stinkt es einfach nur?

Arnaud: Es gibt ja diesen Luftqualitätsindex, der Feinstaubpartikel pro Kubikmeter Luft misst. Ich meine mich zu erinnern, dass wir das letzte Mal in Stuttgart Smogalarm hatten. In Deutschland wird Alarm ausgelöst, wenn der Wert über 40 liegt. Der Standard hier liegt bei 20-30 oder darunter. In Peking gab’s vor ein paar Jahren die sogenannte “Airpocalypse”, da hatten die Werte von 800.

Bei mir war das so: Solange es unter 100 war, merkt man es eigentlich nicht, da gewöhnt man sich sehr schnell dran. Leute, die ein bisschen sensibler sind, kriegen Kopfschmerzen. Man sollte dann auch wirklich keinen Sport machen. Wer dann joggen geht, merkt, dass man viel kurzatmiger wird und schon beim Treppensteigen außer Atem ist. Ich hab immer ab 200 eine Atemmaske aufgesetzt. Das kam im Winter häufiger vor. An Weihnachten hatten wir 300 auf der Skala in Chengdu.

Der Smog besteht nicht durchgehend: Wenn es regnet, dann wird es wieder besser. Aber zwanzig, dreißig Mal kam das während meines Aufenthaltes schon vor. Und viele Menschen, eigentlich alle, die es sich leisten können, haben einen Luftfilter im Zimmer stehen, da man dann drinnen die gleiche Luft hat wie draußen. Ohne einen Filter wird’s also echt hart. Ab einer gewissen Smogdichte sieht man es auch richtig. Viele normale Wohnhäuser dort haben 40 Stockwerke und wenn man dann aus dem Fenster guckt und das Nachbargebäude nicht mehr sieht, dann weiß man, dass die Luft heute schlecht ist.

Grundsätzlich ist aber das Wasser die viel größere Thematik. Man kann in China das Leitungswasser nicht trinken. Man kann es natürlich mit mittelmäßigem Erfolg abkochen, aber viele Leute kaufen sich das Wasser in Kanistern im Supermarkt. Wenn man dann Leute sieht, die mit importiertem italienischen oder französischen Wasser rumlaufen, das ist dann ein richtiges Luxusgut. Sauberes Wasser muss man sich kaufen, das ist schon ein Unterschied.

treffpunkteuropa.de: Was können Europäer*innen von Chines*innen lernen?

Arnaud: Man spricht ja hierzulande oft von den “first world problems” also, dass wir uns über Sachen aufregen, die dann letztlich doch nichts Großes sind. Viele der jungen Chines*innen, gerade die, die vom Land kommen, haben in ihrer Kindheit noch sehr ärmliche Verhältnisse erlebt.

Noch immer wird diskutiert, ob China ein Entwicklungsland ist, ein entwickeltes Land oder ein Schwellenland. Wenn man in China auf das Land fährt, sieht man gleich, wo Nachholbedarf ist. Aber dadurch, dass China nun eine sehr fortschreitende Urbanisierungsrate hat, sind natürlich viele Leute, die jetzt in den Großstädten leben, ursprünglich vom Land. Es gibt auch noch immer mehrere Millionen Wanderarbeiter*innen, die im Prinzip obdachlos sind, und von Baustelle zu Baustelle, von Fabrik zu Fabrik durchs Land ziehen.

Ich glaube, dass die Chines*innen noch etwas genügsamer sind als wir, die haben weniger Ansprüche, sie kommen mit weniger aus. Es gibt beispielsweise in China, auch an großen Universitäten, die typischen chinesischen Wohnheime. Und es ist dort völlig normal, auch wenn die Student*innen aus wohlhabenden Familien kommen, dass sie dann im Wohnheim wohnen. Da teilen sich vier, sechs oder acht Studierende einen Schlafsaal mit Hochbetten. Die haben dann unter dem Hochbett einen Schreibtisch und einen halben Kleiderschrank. Und da ist alles, was die haben, drin. Sie können unglaublich gut improvisieren, wie sie dann eben doch alles, von Sportklamotten zum schicken Abendkleid zu Alltagsjeans und T-Shirt, trotzdem immer parat haben, waschen und trocknen. Und ich glaube, dass auch mal ein wenig Genügsamkeit und Flexibilität, wenn es darum geht, mit weniger auszukommen, etwas ist, was wir von den jungen Chines*innen lernen sollten. Es gibt natürlich auch in China einen enormen Konsummarkt, da sind die keine Ausnahme, aber sich vor Augen zu halten, dass man im Zweifelsfall auch mit weniger auskommt, das können die Chines*innen einfach viel besser.

treffpunkteuropa.de: Hast Du einen Rat an Europa, was die EU im Umgang mit China anders machen sollte?

Arnaud: Ich glaube, es ist ein großer Fehler, in der Fremdwahrnehmung China zur neuen Sowjetunion zu machen. Es ist nicht wieder Kalter Krieg und es ist nicht der böse rote Block. Man kann darüber streiten, ob China nun unser neuster Partner, unser bester Verbündeter oder unser engster Freund werden soll, aber fest steht, auch bei dem, was Europa teilweise sehr berechtigt an China zu kritisieren hat, dass China keinen Grund hat, auf das Ausland zu hören, wenn das in einer belehrenden oder einem fast schon kolonialen Ton daherkommt. Von wegen: „Macht es so wie wir, dann wird’s besser.“ Aber das erkennt man ja aus der eigenen Erfahrung, man hört auf Freunde lieber.

Und ich denke, dass ein positives, idealerweise freundschaftliches Verhältnis zwischen Europa und China ein guter Weg für die Zukunft sein wird. China ist ein Land mit enorm viel Potenzial. Gerade angesichts eines Amerikas unter Trump und auch danach sollte man sich nicht wieder auf einen US-Europa Block festlegen lassen, der China als reines Feindbild wahrnimmt. Das nützt niemandem, und wir leben nun mittlerweile in einer so durchglobalisierten Welt, dass wir das uns überhaupt nicht leisten können,selbst wenn wir wollten. Die Amerikaner’innen, die so viel gegen China wettern, sind auch abhängig: Schließlich hat China so unglaublich viele von den US-amerikanischen Schulden aufgekauft. Im Prinzip hat China mit seinem „Sozialismus chinesischer Prägung“ die USA geschlagen.

So wie die USA die Sowjetunion wirtschaftlich bis zum Schluss ausgespielt und damit den kalten Krieg „gewonnen“ haben, haben die Chines*innen es mit ihrem Transfersystem aus staatlicher Kontrolle über die Banken, einem großen Investitionsprogramm - also dem kompletten Gegenteil unserer Austeritätspolitik - und gleichzeitig aber auch einem kapitalistischen Marktsystem geschafft, eine Weltwirtschaftsmacht zu sein, die „too big to fail“ ist. Und ich glaube, dass wir China auf der Ebene respektvoll, im Idealfall freundschaftlich, aber auf jeden Fall konstruktiv gegenübertreten sollten und uns nicht aus Angst vor chinesischer Einmischung abkapseln sollten.

Aber gleichzeitig muss man natürlich sehen: Chinesische Privatinvestoren und chinesische Unternehmen kaufen in Europa Land auf, kaufen Firmen auf, da muss man natürlich aufpassen, dass das nicht zu einseitig wird. Da kann man sich Restriktionen überlegen oder man wirkt daraufhin, dass China sich mehr dem Westen öffnet und es dann beiderseitig wird. Wenn wir aufpassen, dass das Verhältnis nicht einseitig wird, sondern konstruktiv und partnerschaftlich wird, dann könnte es sich zum beiderseitigen Vorteil wandeln.

Danke, Arnaud, für das Gespräch! Hier geht es zu den Teilen 1 und 2 des Interviews.

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