Jean-Marie Cavada: „Es gibt keinen Fortschritt bei der steuerlichen und sozialen Gleichheit in Europa“

, von  Alessandro Ciolek, Axel Abdelli, Marie Dilou, Ophéline Parpex, übersetzt von Lydia Haupt

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Jean-Marie Cavada: „Es gibt keinen Fortschritt bei der steuerlichen und sozialen Gleichheit in Europa“
Für Jean-Marie Cavada, stellvertretender Vorsitzender des Rechtsausschusses im Europäischen Parlament und Mitglied der ALDE-Fraktion, führt kein Weg daran vorbei, dass die Europäische Union die steuerlichen, wirtschaftlichen und sozialen Ungleichheiten verringert, wenn sie wieder einen Bezug zu den Bürgerinnen und Bürgern herstellen will. Foto: © Photo Claude TRUONG-NGOC / Wikimedia Commons

Für Jean-Marie Cavada, stellvertretender Vorsitzender des Rechtsausschusses im Europäischen Parlament und Mitglied der ALDE-Fraktion, führt kein Weg daran vorbei, dass die Europäische Union die steuerlichen, wirtschaftlichen und sozialen Ungleichheiten verringert, wenn sie wieder einen Bezug zu den Bürgerinnen und Bürgern herstellen will.

Wie erklären Sie sich, dass sich die Bürgerinnen und Bürger auf europäischer Ebene nicht ausreichend repräsentiert fühlen und dass sie das Gefühl haben, dass Europa ohne sie entscheidet? Müssen die Institutionen reformiert werden?

Jean-Marie Cavada: Es stimmt, dass wir große Fortschritte machen könnten. Zunächst müsste die französische politische Klasse überhaupt über Europa sprechen. Auf kommunaler, regionaler und nationaler Ebene wird europäisches Geld ausgegeben. Aber Sie sehen kaum je eine europäische Flagge an Gebäuden, die aus europäischen Fonds gebaut wurden, um diese Finanzierung deutlich zu machen. Dazu kommt, dass die französische Presse sehr auf Frankreich fokussiert ist. Sie beschäftigt sich nicht ausreichend mit dem Leben unserer europäischen Nachbarn, ihren Debatten und deren Bedeutungen, gerade so, als ob das mit Frankreich nichts zu tun hätte. Man darf jedoch keinesfalls vergessen, dass circa die Hälfte aller Gesetze, die in Frankreich gelten, ihren Ursprung in Straßburg haben. Ein weiteres Problem ist, dass das französische Bildungssystem die Schülerinnen und Schüler nicht genügend für die europäische Geschichte sowie die aktuellen Herausforderungen der EU sensibilisiert. Die napoleonischen Eroberungen werden in den Geschichtsbüchern auf zahlreichen Seiten geschildert, die Entstehung der europäischen Gemeinschaft hingegen wird auf zwei Seiten zusammengefasst: links einige Daten, und rechts eine Karte. Das reicht einfach nicht.

Emmanuel Macron hat die europäische Frage mit Nachdruck in die politische Debatte zurückgebracht und plant, ein „Europa, das beschützt" entwickeln. Ist es eine gute Idee, das Verhältnis der Bürgerinnen und Bürger zur Europäischen Union zu erneuern?

JMC : Ja, damit die Menschen sich mehr als Europäer fühlen können. Warum gibt es die extreme Linke und vor allem die extreme Rechte in Frankreich? Weil grundlegende Fragen nicht gelöst wurden. Diejenigen, die in Frankreich den FN oder in Deutschland die AFD wählen, haben Angst vor Migration und den Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt. Sie befürchten, dass große Massen von Arbeitskräften nach Europa kommen, einerseits aus Osteuropa und andererseits aus außereuropäischen Ländern, und die Arbeitsplätze verknappen. Dabei spielt es auch keine Rolle, ob diese Jobs in Frankreich oder Deutschland überhaupt jemand annehmen möchte. Wir haben die Franzosen und Europäer nicht gefragt, wie sie sich die Migrationspolitik vorstellen, indem wir ihnen Alternativen anbieten. Wie sollten Flüchtlinge behandelt werden? Aus meiner Sicht müssen wir sie willkommen heißen. Flüchtlinge wurden verfolgt, sie haben ihr Land verlassen, um ihr eigenes Leben und das ihrer Kinder zu retten. Dazu kommt auch noch ein weiteres Problem: wirtschaftliche und soziale Ungleichheit aufgrund großer europäischer oder internationaler Unternehmen, die keine Steuern zahlen. Die Konzerne entgehen den Steuern, während Sie Ihre bezahlen.

Ist Besteuerung demnach eine Herausforderung für die Demokratie in Europa?

JMC : Auf jeden Fall, denn es gibt keinen Grund dafür, warum wir keine Steuergerechtigkeit haben. Wenn wir das nicht angehen, werden sich die Menschen sagen: „Na also wenn das Europa ist, dann ...“. Europa hat sich nicht die nötige Macht gegeben, um sich dieses wichtigen Themas anzunehmen. Solche Vorhaben brauchen Zeit, das kann 10, 15, oder gar 20 Jahre dauern. Wir haben 25 Jahre gebraucht, um die gemeinsame Währung zu schaffen, zwischen 1975 und 2000. Es könnte weitere 20 Jahre dauern, bis die Steuergerechtigkeit erreicht ist, das stört mich nicht. Zum Beispiel könnte man schrittweise die Unterschiede zwischen den Ländern mit den höchsten Steuern und denen mit den niedrigsten Steuern verringern. Dies ist bisher nicht geschehen. Ein anderes Problem ist die Tatsache, dass, wenn ein Arbeiter bei uns oder in Deutschland oder in den Niederlanden oder anderswo ankommt, der nationale Arbeiter besser bezahlt wird, während der eingewanderte Arbeiter, selbst wenn er Europäer ist, weniger gut bezahlt wird. Unternehmen bevorzugen daher Wanderarbeiter, weil sie weniger kosten. Wir müssen diese Missstände beheben. Die europäischen Länder sollten sich auch verpflichten, den gleichen Prozentsatz ihres BIP in die sozialen Sicherungssysteme zu investieren, einschließlich der Sozialversicherungen, der Rentenzahlungen. Wir kommen bisher nicht voran auf dem Weg zur fiskalischen und sozialen Gleichheit.

In Katalonien sehen wir, dass ein Teil der Bevölkerung unermüdlich für die Unabhängigkeit kämpft. Hat Europa ein Interesse daran, diesen Unabhängigkeitswunsch anzuerkennen und sich in diesen Konflikt einzumischen?

JMC : Wir sehen in der Tat einen großen Konflikt in Katalonien, und wir müssen abwarten, wie die Wählerinnen und Wähler sich am 21. Dezember entscheiden werden. Laut aktuellen Meinungsumfragen wird die Mehrheit der Stimmen an die Separatisten gehen. In jedem Fall gibt es große Differenzen. Einige denken, dass an der Unabhängigkeit kein Weg vorbei führt, andere hingegen glauben, dass die Autonomie Kataloniens durch Verhandlungen gestärkt werden muss. Teils sind die Unterschiede auch sehr subtil. Da ich ein Europäer aus Frankreich bin, dessen Familie aus Spanien stammt, ist mir die Einheit Spaniens wichtig, denn die Zersplitterung Europas ist der Tod Europas.

Sie glauben, dass mehr Staaten in Europa dazu führen, dass wir weniger Europa haben?

JMC: Ja. Je mehr Staaten es gibt, desto schwieriger ist es, Entscheidungen zu fällen. Kleine Splittereinheiten haben nicht genügend Macht, um die großen Funktionen staatlicher Souveränität zu erfüllen. Das vereinigte Spanien hat eine Armee. Katalonien wird niemals eine Armee haben, die in der Lage ist, eine Streitmacht aufzustellen. Sie werden fünf Lastwagen und zehn Soldaten schicken, aber wir können kein System erfinden, das sich damit schützen kann.

Sie finden also, es sei eine Einschränkung für Europa, zu zahlreich zu sein, weil es die Kommunikation untereinander unmöglich macht. Die Frage nach der Öffnung der Europäischen Union stellt sich dadurch gar nicht.

JMC: Ja, sicherlich. Die Europäische Union darf sich nicht weiter öffnen, solange sie sich nicht mit den Souveränitätsfragen befasst hat. Es ist klar, dass der Kontinent an ein gemeinsames Schicksal gebunden ist, und deshalb verursacht die Fragmentierung zusätzliche Schwierigkeiten. Darüber hinaus haben viele Menschen ihre Sympathien für Europa nach der Osterweiterung verloren, weil sich das Tempo der Entscheidungen, aufgrund von Spaltungen und den Interessen der zusätzlichen Länder, plötzlich verlangsamt hat. Land. Lange hat man gesagt, dass man zunächst Fortschritte bei der Vertiefung machen muss, bevor man sich an die Erweiterung wagt. Ich teile diese Idee.

Das Interview wurde am 4. Dezember 2017 von Marie Dilou, Opheline Parpex, Axel Abdelli und Alessandro Ciolek von der Pariser Schule für Kommunikation und Journalismus (IICP) geführt. Dieses Interview ist Teil der Reihe „Europaabgeordnete in der Schule", organisiert von Jeunes Européens - France, um die Journalisten von morgen auf die Herausforderungen der Europäischen Union aufmerksam zu machen.

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