Jenseits der Oder

Serie: 10 Jahre EU-Osterweiterung

, von  Sebastian Gubernator

Jenseits der Oder
Die EU-Osterweiterung ist für Polen eine Erfolgsgeschichte geworden.Vor dem Beitritt kamen viele polnische Gastarbeiter nach Deutschland. Foto: „St. Mary’s Basilica“ © Nico Trinkhaus / Flickr (https://www.flickr.com/photos/ntrinkhaus/13623035505/) / CC BY-NC-SA 2.0-Lizenz (https://creativecommons.org/licenses/by-nc/2.0/)

Zwei Polen kommen in den Neunzigern nach Deutschland. Der eine wird Schwarzarbeiter und heiratet zum Schein eine deutsche Frau. Der andere wird Unternehmer und quält sich jahrelang mit den Behörden. Dann tritt Polen der EU bei. Zwei Lebensgeschichten.

Banken und Bettler, das war also Deutschland. Mitte der Neunziger stieg Łukasz Kowalski aus einem polnischen Bus und war in Frankfurt am Main. Einer Stadt, in der Arm und Reich auseinanderklaffen wie in jeder Großstadt, nur dass man hier ständig daran erinnert wird. Weil jeder Blick in den Himmel zeigt: Es gibt ein Unten und ein Oben, die Gosse und die Skyline. Man kann tief fallen in der Stadt der Bürotürme. Fast zwei Jahrzehnte später, immer noch in Frankfurt: Łukasz Kowalski sitzt in einem Restaurant, die Arme auf dem Tisch. Er heißt eigentlich anders, aber sein richtiger Name soll nicht genannt werden, er will offen reden. Über seine Vergangenheit als Schwarzarbeiter, die Scheinehe. Seine Geschichte ist anders als die von Sławomir Heller, den man in Darmstadt treffen wird, aber es gibt gemeinsame Nenner: Beide kamen von Polen nach Hessen, ins Herz Europas, wie man hier gerne sagt. Sie wissen, wie das war vor dem polnischen EU-Beitritt: das Gefühl, fremd zu sein, die Angst, Deutschland verlassen zu müssen.

Polen: Musterland in Osteuropa

Seit dem 1. Mai 2004 ist Polen in der EU. Auf einer Brücke über die Oder umarmten sich damals die Außenminister Joschka Fischer und Wlodzimierz Cimoszewicz. Über ihren Köpfen ein Feuerwerk, in ihren Ohren Beethovens Neunte. Zuvor hatten sich in einem Referendum 77,5 Prozent der Polen für den Beitritt ausgesprochen. Heute gilt Polen als Musterland in Osteuropa: Die Wirtschaft ist seit dem EU-Beitritt um 49 Prozent gewachsen, die Arbeitslosigkeit hat sich halbiert. Bald wird Donald Tusk Präsident des Europäischen Rates; ein Zeichen: Das Polen, das Łukasz Kowalski verließ, um sein Glück jenseits der Oder zu suchen, existiert nicht mehr.

Wenn Kowalski über die ersten Jahre in Deutschland spricht, klingt das, als sei sein Leben eine Fernsehserie gewesen; ein bisschen Drama, ein bisschen Comedy, und in jeder Episode hat der Held einen anderen Job. Episode eins: Er schleppt Rigips-Platten auf einer Baustelle. Episode zwei: Er presst Glaswolle in eine Dachgeschossdecke. Episode drei: Er schneidet Stoff für Anzüge. Es gibt viele solcher Episoden. 2.000 DM schickt er jeden Monat nach Polen. Seine Familie braucht das Geld, der Vater ist krank, der Bruder hat sechs Kinder. Steuern zahlt Kowalski nicht. Er sagt: Ich hatte Angst vor Polizei und Zollamt. Er sagt auch: „Ich hatte keine andere Möglichkeit.“

Kowalski, der damals kaum Deutsch sprach, stand oft an der Hanauer Landstraße, dem sogenannten Schwarzarbeiter-Strich im Frankfurter Osten. Mit anderen Polen wartete er darauf, dass potentielle Arbeitgeber im Auto hielten und ihnen Jobs anboten. Man verhandelte am Fenster, bis die Bezahlung stimmte, sechs DM pro Stunde waren zu wenig, acht genug. Dann stieg man auf die Rückbank. Den Strich gibt es noch immer, heute sind es vor allem Menschen aus der ehemaligen Sowjetunion, aus Rumänien, Bulgarien und dem früheren Jugoslawien, die wie Prostituierte am Straßenrand stehen und ihre Arbeitskraft anbieten. Ein paar Meter hinter ihnen ragt eine fast fertige Baustelle in den Himmel: Stahl und Glas, der Neubau der Europäischen Zentralbank.

„Aber du bist kein Polizist?“

Die Hanauer Landstraße. Die Jobs. Der Typ, der ihn mal über den Tisch gezogen hat, 7.000 DM versprochen und nicht gezahlt. Was soll man da machen als Schwarzarbeiter? Zur Polizei gehen? Gedanken an eine Zeit, die manchmal lustig und oft traurig war. Łukasz Kowalski vermisste seine Familie. Sie lebte im Nachbarland, aber ihm kam es vor wie das Ende der Welt. Andere betäubten ihren Frust mit Alkohol, er nicht: „Ich war nie so ein Mensch.“ Noch eine Episode aus dem Leben des Łukasz Kowalski: In einer Disko, irgendwann in den Neunzigern, lernt er eine deutsche Frau kennen. Sie trinken Wodka und tanzen im Diskolicht. Später wird sie seine Ehefrau. 10.000 DM zahlt er, damit sie ihn heiratet und er eine unbefristete Aufenthaltsgenehmigung bekommt. Sie leben in getrennten Zimmern und lassen sich nach sieben Jahren scheiden.

Er erzählt seine Geschichte, als sei sie selbstverständlich, nur eine von vielen polnisch-deutschen Odysseen. Einmal hält er inne und fragt: „Aber du bist kein Polizist?“ Dann lacht er kurz, als sei sein Misstrauen nur gespielt. Ist das überhaupt wichtig? Es ist alles Vergangenheit, Kowalski arbeitet längst nicht mehr schwarz. Drei Jobs hat er heute und zahlt Steuern. „Ich denke, ich habe in meinem Leben nicht so viel falsch gemacht“, sagt er. „Ich habe viel gearbeitet. Und ich bin stolz darauf.“ Darmstadt, eine halbe Autostunde südlich von Frankfurt. Sławomir Heller sitzt in einem lichtdurchfluteten Büro, kariertes Hemd, graues Jackett, die Haare kurz. Vor 13 Jahren hat er die Heller IG gegründet; die Firma untersucht Straßen in Deutschland und Polen und berät die Baubehörden: Wo gibt es Unebenheiten, wo bröckelt der Asphalt, was kann man für die Straßen tun? 300.000 Kilometer hat die Heller IG nach eigenen Angaben gespeichert, 250 Terabyte, die Daten werden ausgewertet und in Grafiken gebannt. In Polen gibt es eine Tochterfirma, die einen Standort in Warschau hat und einen in Biała Podlaska, nahe der Grenze zu Weißrussland. Rund 60 Menschen arbeiten unter ihm, sagt Sławomir Heller. Er sagt das nicht ohne Stolz.

Nur die Angst wird er nicht los.

Heller lehnt sich zurück, erinnert sich an eine andere Zeit: 1990 geht ein Beben durch Europa. Der Ostblock zerfällt, die Polen wählen den Gewerkschaftsführer Lech Wałęsa zu ihrem Präsidenten. Er wird zum Symbol des demokratischen Wandels. Im selben Jahr zieht Heller nach Deutschland. Er ist Bauingenieur, in Warschau hat er seinen Doktor gemacht und in den Achtzigern eine Zeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der TU Darmstadt verbracht. Jetzt kehrt er nach Darmstadt zurück. Beim TÜV bekommt er einen Job, sein Chef glaubt an den jungen Einwanderer und macht ihn zum Bereichsleiter. Eine Karriere wie ein Raketenstart. Nur die Angst wird Sławomir Heller nicht los: die Angst, Deutschland verlassen zu müssen. Seine Aufenthaltsgenehmigung hat ein Ablaufdatum.

Jahrelang muss er immer wieder zur Ausländerbehörde. Er füllt Formulare aus und beantwortet Fragen, im Kopf den Gedanken an das Undenkbare: Was, wenn man mich diesmal rausschmeißt aus Deutschland? Heller sagt, er habe auf der Behörde Schikanen erlebt. Eine Frau habe mit Absicht so stark genuschelt, dass er, der Ausländer, sie nicht verstehen konnte. Ein Mann habe gefragt: „Sie sind jetzt sechs Jahre hier – reicht das nicht?“ Einmal will die Behörde seine Aufenthaltsgenehmigung nicht verlängern. Er, der Doktor mit Festanstellung, soll zurück nach Polen. Doch Hellers Chef setzt sich für ihn ein, ab Mitte der Neunziger darf er ganz bleiben – und gründet eine Firma.

Viel hat sich geändert, seit Łukasz Kowalski und Sławomir Heller nach Deutschland gezogen sind. Heute kommen polnische Studenten zur Heller IG, um ein Praktikum zu machen oder als Werkstudenten zu arbeiten. Seit 2007 können sie ohne Grenzkontrolle einreisen, seit 2011 sind sie bei der Arbeitssuche mit anderen EU-Bürgern gleichgestellt. Sie steigen ins Flugzeug, landen in Frankfurt und fahren nach Darmstadt. So einfach ist das.

2004 nahm die Europäische Union zehn Länder als neue Mitglieder auf. Die EU wurde größer, bevölkerungsreicher und östlicher. treffpunkteuropa.de stellt in einer Serie die jungen Mitgliedsstaaten zehn Jahre nach der Erweiterung vor.

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