Kann Georgien noch von einer europäischen Zukunft träumen?

, von  Amal Sadki, Erik Romera Tiedemann, José Ignacio Simó de Noriega

Alle Fassungen dieses Artikels: [Deutsch] [English]

Kann Georgien noch von einer europäischen Zukunft träumen?
Proteste in Tiflis, der Hauptstadt Georgiens, im März 2023 Foto: Erekle Poladishvili/Georgia Today

Frühling 2023: junge Georgier*innen gehen auf die Straße, um gegen einen besonders umstrittenen Gesetzentwurf zu protestieren, der die Zukunft Georgiens in der Europäischen Union zu gefährden droht. Doch was denken die Georgier*innen über die Aussichten ihres Landes und wie schätzen Expert*innen die Situation ein?

„Es war eine sehr unangenehme Situation, und es war fast unmöglich zu atmen - trotzdem skandierten die Menschen für die Freiheit und ließen sich von den abschreckenden Maßnahmen der Regierung nicht einschüchtern.“

So beschreibt die junge Georgierin Keti Archaia ihre Erfahrung als sie von Tränengas und Wasserwerfern getroffen wurde. Sie hatte sich den Protesten im März gegen das Gesetz „über die Transparenz ausländischen Einflusses“ angeschlossen, um für eine demokratische Zukunft in Georgien zu kämpfen.

Das kleine Land Georgien im Kaukasusgebirge mit seinen knapp vier Millionen Einwohnern, macht selten internationale Schlagzeilen. Am achten März 2023 jedoch ging ein Foto von Nana Malashkhia viral. Zu sehen ist die 47-Jährige wie sie die EU-Flagge schwenkt, während sie von einem Wasserwerfer getroffen wird. In der Hauptstadt Tiflis war es zu Protesten gegen den Gesetzesentwurf gekommen, da sich dieser gegen NGOs und Medien richtet, die von ausländischen Investoren finanziert werden. Das Gesetz war von der Volksmachtbewegung vorgeschlagen worden, die die unzulässige Einflussnahme der USA und der EU auf die inneren Angelegenheiten des Landes zu ihrem Hauptanliegen macht. Dem Entwurf zufolge müssten sich Organisationen, deren Jahreseinnahmen zu mindestens 20 % durch ausländische Gelder gedeckt sind, als „Agenten ausländischer Einflussnahme“ registrieren lassen und eine Überwachung durch das georgische Justizministerium akzeptieren.

Kritiker*innen und Vertreter*innen der Zivilgesellschaft zogen sofort Vergleiche mit einem ähnlichen Gesetz, das 2012 in Russland eingeführt wurde und unter anderem zur Unterdrückung abweichender Meinungen von Medien und Menschenrechtsorganisationen geführt hatte. Viele befürchteten, dass diese Ähnlichkeit den Westen abschrecken und Georgien weiter in den russischen Orbit treiben würde. Die People’s Power-Bewegung konterte diese Behauptungen jedoch mit einer Erklärung, in der sie erklärte, dass das georgische Gesetz in Wirklichkeit auf dem US-amerikanischen Foreign Agents Registration Act (FARA) basiere.

Warum dann die EU-Flagge?

Georgien befindet sich in einer besonders heiklen geopolitischen Lage: Das Land ist zwischen seiner sowjetischen Vergangenheit und seinen europäischen Ambitionen gefangen und versucht zugleich dem euro-atlantischen Raum beizutreten, ohne dabei den Kreml zu verärgern. Im August 2008 erreichten diese Spannungen ihren Höhepunkt. Damals marschierte Russland in Georgien ein, um die Separatisten in den Regionen Südossetien und Abchasien zu unterstützen. Seither sind diese Regionen unter russischer Besetzung.

Anfang 2022 bereitete Georgien zusammen mit der Republik Moldau und der Ukraine einen Antrag auf EU-Mitgliedschaft für 2024 vor. Doch aufgrund des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine beschleunigten alle drei Länder den Prozess und reichten ihre Anträge ein. Moldau und der Ukraine wurden einige Monate später der Kandidatenstatus zuerkannt, während Georgiens Antrag durch die Aufforderung der Europäischen Kommission, 12 Bedingungen zu erfüllen, unterbrochen wurde.

Aus Sicht von Prof. Dr. Eva Heidbreder, Professorin für Europastudien an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg folge der Beitritt zur Europäischen Union klaren Richtlinien und politischen Erwägungen, was den Beitritt Georgiens zur Union in naher Zukunft sehr unwahrscheinlich mache. Der Grund, warum der Ukraine und Moldau im Gegensatz zu Georgien der Kandidatenstatus zuerkannt wurde, „hat eindeutig mit extremen politischen Spannungen zu tun“ - so Heidbreder - dennoch wird die EU weiterhin ihre Beitrittskriterien für eine ordentliche Mitgliedschaft anwenden.

Wie in den Verträgen vorgeschrieben, bewertet die EU-Kommission den wirtschaftlichen und politischen Status aller neuen Bewerberländer: Während Georgiens Wirtschaft kein Problem darstellt, wirft die politische Landschaft viele Fragen auf. Zu den 12 Empfehlungen gehören unter anderem Fragen der politischen Polarisierung, der institutionellen Funktionsweisen, der Justizreform, der Menschenrechte und der Gleichstellung der Geschlechter sowie die Entoligarchisierung, d. h. der Abbauprozess des Einflusses wohlhabender und mächtiger Akteure in den staatlichen Angelegenheiten. Trotz der überwältigenden Unterstützung der Bevölkerung für die EU-Standards für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit hat die Macht russophiler Oligarchen, wie beispielsweise von dem ehemaligen Premierminister Bidzina Iwanischwili viele demokratische Reformen verhindert.

Nach Ansicht des Hohen Vertreters der EU für Außen- und Sicherheitspolitik, Josep Borrell, hätte das zuvor erwähnte Gesetz den Versuch Georgiens, der EU beizutreten, gefährdet. Der nationale Aufruhr und die internationale Kritik führten schließlich zur Rücknahme des Gesetzes, doch damit sind die schwierigen Umstände nicht beseitigt.

Wie sieht die Situation vor Ort aus?

Der Widerstand der Georgier*innen, insbesondere der jüngeren Generation, gegen die autokratische Wende ihrer Regierung war so heftig, dass die Regierung gezwungen war, den Gesetzentwurf zurückzuziehen. Dies erklärt die Anwesenheit so vieler EU-Flaggen bei den Protesten, die für junge Leute, wie Keti Archaia, ein Symbol für ein besseres Leben sind, in dem es politische Freiheit, Meinungsfreiheit, Achtung der Rechtsstaatlichkeit und gleiche Rechte für alle gibt.

Keti ist jedoch der Meinung, dass die Georgier*innen noch nicht bereit seien, der EU beizutreten, insbesondere die älteren Generationen. Sie würden die EU nur im Hinblick auf die wirtschaftlichen Vorteile schätzen, die ihnen ein möglicher Beitritt bringen würde. Dabei würden sie nicht verstehen, was ein tatsächlicher Beitritt auch gesellschaftlich bedeutet und was es braucht, um dorthin zu gelangen. Mit anderen Worten: Die Kopenhagener Kriterien akzeptieren und erfüllen. Keti ist sich jedoch sicher, dass mit den Werten der jungen Georgier*innen und der künftigen Generationen das Ziel eines EU-Beitritts bald zu erreichen sein wird.

Keti sieht die Regierung, den Generationenkonflikt in ihrem Land und die russische Bedrohung als die Haupthindernisse für einen baldigen EU-Beitritt. Eine mangelnde Bereitschaft auf Seiten der EU sei unterdessen weniger der Grund.

Wie sehen nun diese Bedingungen für eine EU-Mitgliedschaft aus?

Zunächst gibt es die Standard-Beitrittskriterien, die so genannten Kopenhagener Kriterien. Diese verstehen institutionelle Reformen als Grundlage für ein demokratisches und stabiles Land, das Teil der Union werden möchte. Die EU hat in diesem Kontext einen gewissen Einfluss, um die Rechtsstaatlichkeit der Kandidatenländer zu beeinflussen.

Allerdings manövriert sich die Union in eine „Art Falle“, wie Prof. Eva Heidbreder erklärt. Sie warnt davor, dass die EU, sobald ein Staat Mitglied wird, einen Großteil ihres Einflusses auf diesen Staat verliere, da die Mitgliedschaft nichtmehr als Anreiz zur Erfüllung bestimmter Vorgaben diene.

Darüber hinaus spielen geopolitische Überlegungen eine Rolle. Laut Heidbreder sei es höchst unwahrscheinlich, dass die EU ein Mitgliedsland aufnähme, das sich im Konflikt mit Russland befindet. Die von Russland besetzten georgischen Gebiete Südossetien und Abchasien sind Konfliktherde, in denen „eine Eskalation von russischer Seite sehr wahrscheinlich ist“.

Hat die EU Instrumente, um diesen [Konflikt] zu lösen? - Nein!
 Eva Heidbreder, Professorin an der Universität Magdeburg

Für Heidbreder ist klar, dass die EU-Außenpolitik nicht über die Mittel verfügt, um den Konflikt zu bewältigen. Wenn die EU Georgien aus institutionellen und geopolitischen Gründen nicht schnell die Mitgliedschaft gewähren kann, bleibt die Frage: Wie kann sie ihr Engagement für Georgien unter Beweis stellen, ohne die Glaubwürdigkeit ihrer auf Erweiterung basierten Außenpolitik zu verlieren? So kann die EU vorerst viele Assoziierungsangebote machen: „alles andere als eine Mitgliedschaft, auch wenn das nicht öffentlich gesagt wird.“

Heidbreder betont ferner, dass es für Europa entscheidend ist, wie der russische Krieg gegen die Ukraine endet. Erst dann können geopolitische Konflikte gelöst werden. Für Georgien stellt sich derweil die Frage, wie weit die politischen Eliten bei der Entoligarchisierung und den politischen Reformen gehen würden. Für viele ist das Versprechen der EU sehr groß. Sie sehen eine Vision, die für einen hohen Lebensstandard steht und viele Freiheiten symbolisiert.

Für Georgien könnte die Erfüllung der 12 Prioritäten für eine Mitgliedschaft in der EU einen hohen Preis haben - einen Preis, den die Ukraine nach der Euromaidan-Revolution leider mit einem Krieg bezahlt. Keti Archaia sendet daher eine Botschaft an die Europäer*innen: Die EU muss gegenüber Russland vorsichtig sein und eine wirtschaftliche Unabhängigkeit von Russland anstreben. In der Tat ist es besser, jetzt einen kleinen Preis zu zahlen als einen großen in der Zukunft.

„Schauen Sie sich Georgien an und beurteilen Sie uns nicht anhand unserer Regierung, sondern anhand unserer Menschen“, sagt sie. „Die Georgier*innen, vor allem die jüngeren, stehen für Werte, die den EU-Werten näher sind, als es zunächst scheint.“

Dieser Artikel ist Teil des Projekts „Newsroom Europa", das junge Europäer aus drei EU-Mitgliedstaaten (Deutschland, Schweden und Spanien) in kritischer und aufgeschlossener Medienberichterstattung und zur Funktionsweise der europäischen Entscheidungsfindung schult. Das Projekt wird gemeinsam von der Europäischen Akademie Berlin e.V. durchgeführt Nationalmuseen für Weltkultur Schweden und der Friedrich-Naumann-Stiftung Spanien und wird auch von der Europäischen Union kofinanziert.



Förderer des Projekts „Newsroom Europe“


Ihr Kommentar
Vorgeschaltete Moderation

Achtung, Ihre Nachricht wird erst nach vorheriger Prüfung freigegeben.

Wer sind Sie?

Um Ihren Avatar hier anzeigen zu lassen, registrieren Sie sich erst hier gravatar.com (kostenlos und einfach). Vergessen Sie nicht, hier Ihre E-Mail-Adresse einzutragen.

Hinterlassen Sie Ihren Kommentar hier.

Dieses Feld akzeptiert SPIP-Abkürzungen {{gras}} {italique} -*liste [texte->url] <quote> <code> et le code HTML <q> <del> <ins>. Absätze anlegen mit Leerzeilen.

Kommentare verfolgen: RSS 2.0 | Atom