Nach dem Brexit-Votum jubelten Vertreter von Rechtsaussen-Parteien anderer europäische Staaten wie Marine Le Pen und Geert Wilders, während das Pfund auf den tiefsten Stand seit 31 Jahren fiel und viele Briten fieberhaft googelten, was die EU ist und was ein Austritt aus ihr bedeutet. Bald nach der Abstimmung stieg im Vereinigten Königreich die Anzahl Hassverbrechen gegen Immigranten und Personen ausländischer Abstammung. In Hammersmith wurde ein polnisches Kulturzentrum mit xenophoben Graffitis besprüht. Englische Kriegsdenkmäler für polnische Piloten und Codebrecher, welche nach der deutsch-sowjetischen Eroberung ihres Landes die Alliierten unterstützt hatten, konnten Flugblätter mit der Aufschrift „No more Polish Vermin“ nicht verhindern. Nicht nur Mittel- und Osteuropäer fanden sich fremdenfeindlichen Äusserungen gegenüber. Auch wurde öffentlich gegen Moslems und Schwarze gepöbelt. Dass sich letztere kaum wegen der Personenfreizügigkeit in Grossbritannien befinden, sondern aufgrund der britischen Kolonialgeschichte, schien nicht zu interessieren.
Parallelen zwischen Brexit und US-Wahl
„We want our country back!“, das war einer der Slogans der Brexit-Befürworter. So gerne ich einen gewissen US-Präsidentschaftskandidaten totschweigen möchte, so erinnert der Brexit-Spruch doch an Donald Trumps „Make America Great Again“, welches nach dem Referendum von rechtsextremen Kreisen zu „Make Britain White Again“ umgewandelt wurde. Was haben „Make America Great Again“ und „We want our country back“ gemeinsam? Beide Slogans klingen pathetisch, sind jedoch kaum aussagekräftig. Beide beschwören eine Zeit alten Ruhmes und Selbstherrschaft zu einem unbestimmten Zeitpunkt hervor. Laut den Populisten ist diese goldene Epoche vorbei, und die Nation ist nur noch ein Schatten von dem, was sie einst war. Durch den Austritt aus der EU bzw. Zäune an der Grenze zu Mexiko soll die Nation zurück in das verlorene Paradies gelangen.
In der Brexit- und Trump-Rhetorik erkennen wir zwei häufige Elemente des Nationalismus in seiner extremen Form. Zum einen haben wir eine Rückberufung auf alte Zeiten, in welche die nationale Gesellschaft von heute zurückprojiziert wird. Die Ur-Interpretation von Nationalismus besagte, dass die Bildung ethnischer Gruppen in der menschlichen Natur angesiedelt sei und dass die Geburt der Nationen mit der Evolution Hand in Hand geht. Zum anderen wird eine grosse Bestimmung der eigenen Nation heraufbeschworen. Die Populisten versprechen den Wählerinnen und Wählern nationale Selbstverwirklichung, sofern das Volk ihren Ideen folgt. Dass Nationen in ihrer heutigen Form nicht so alt sind wie die Nationalisten gerne behaupten, haben Historiker schon oft und ausführlich gezeigt. Vor dem späten 18. Jahrhundert definierten Monarchien die politischen Systeme Europas. Diese Dynastien waren durch strategische Ehen miteinander verbunden und beherrschten multi-ethnische Staatsgebilde. Auch nationale Identitäten sind keine alte Tradition. Die Völker Europas wie wir sie heute kennen sind keine kontinuierliche Entitäten, sondern entstanden aus fragmentierten Gruppen, welche sich nicht immer über ihre Ethnie, sondern zum Bei-spiel auch über ihren sozialen Status identifizierten. Benedict Anderson nannte Nationen auch „Imagined Communities.“
Die Rückkehr des Nationalismus
Doch was bedeutet es, wenn die Ideologie des Nationalismus, welcher kaum philosophische Inhalte hat, aber dennoch eine ungeheure emotionale Macht ausübt, im Westen und auch global wieder aufblüht? Was passiert, wenn Europas Staaten sich der Gemeinschaft entziehen, um ihr vermeintliches Wohl alleine zu suchen? Erinnern wir uns an die ursprüngliche Idee der Europäischen Integration: die Verhinderung weiterer Kriege auf dem von Gewalt gegeisselten Kontinent. Nach dem britischen EU-Referendum äusserten Brexit-Befürworter den Wunsch nach lockereren Handelsabkommen statt den EU-Verträgen. Es gab tatsächlich schon einmal eine Zeit, als europäische Länder im Handel kooperierten, Bürger ohne Grenzkontrollen innerhalb des Kontinents reisten und sowohl Pressefreiheit wie auch Demokratie gestärkt wurden. Doch dieser Austausch von Personen und Waren endete kurz nachdem ein serbischer Nationalist einen österreichischen Erzherzog erschoss. Vor und in den Anfängen des Ersten Weltkrieges waren nationalistische Gefühle weit verbreitet. Jedes Land wollte seinen Platz an der Sonne, und der Krieg war für Chauvinisten der ideale Moment, um die Stärke ihres Landes zu beweisen. Während ein Konflikt vom Ausmaß des Ersten Weltkrieges momentan in Europa unwahrscheinlich ist, sollten wir den heutigen Frieden auf dem Kontinent nicht als Selbstverständlichkeit hinnehmen. Handel allein führt nicht zu Freundschaft zwischen Staaten. Japan war 2013 Chinas zweitgrößter Handelspartner, und doch herrschen zwischen den beiden Ländern immer noch grosse Spannungen, unter anderem wegen des Zweiten Weltkrieges. Die Versöhnung zwischen den Völkern nach 1945 war einer der Grundgedanken der Europäi-schen Integration, und sie hat vergleichsweise gut funktioniert („ni haine – ni oubli“). Zudem halfen die Europäischen Institutionen, Transparenz über die Vorhaben anderer Staaten zur schaffen, um das Risiko eines Wettrüstens wie vor 1914 zu vermindern. Aber Europas nationalistische Rhetorik anerkennt die erfolgreiche Kriegsverhinderung durch die Integration kaum.
Doch das Streben nach nationalem Alleingang führt nicht nur zu Spannungen innerhalb Europas, sondern schwächt den Kontinent auf globalem Niveau. Vor der Brexit-Abstimmung wollten die Befürworter der Stimmbevölkerung klarmachen, dass Grossbritannien immer noch globalpolitisch ein ausreichend wichtiger Spieler ist, um sich ohne die EU in der Welt durchzusetzen. Eine Pro-Leave Karikatur zeigte den britischen Löwen, wie er vor dem Union Jack eine eingeschüchterte EU-Katze anbrüllte. Doch die Zeiten des British Empire sind vorbei.
Weder Grossbritannien, noch die Niederlande, noch Portugal besitzen heute noch nennenswerte Kolonien, und sie haben stark an globalem Einfluss verloren. Wollen die Staaten Europas ihre Interessen gegenüber Aufsteigern wie China oder Indien verteidigen, ist ein gemeinsames Auftreten in ihrem eigenen Sinne. Mangelnde Kooperation zwischen den europäischen Staaten ist kein Zeichen von individueller Stärke, sondern von kollektiver Schwäche nach aussen. Der Brexit brachte dem Vereinigten Königreich nicht „Independence“ – eine Wortwahl, welche übrigens eine Beleidigung für jede ehemalige britische Kolonie ist – sondern es wird nach wie vor mit den globalen Supermächten verhandeln müssen, nur jetzt ohne die Unterstützung des restlichen Europas.
Europa weckt keine Emotionen
Auch wenn noch so auf die Vorteile der Integration hingewiesen wird, bleibt Europa den Bürgern fern, solange es keine Emotionen weckt. Der Nationalismus wird gerne verteufelt, aber wir müssen seine beeindruckende psychologische Macht anerkennen. Anderson wies daraufhin, dass Nationalismus weniger zur Bereitschaft, Angehörige einer anderen Gruppe zu töten, als vielmehr zur freiwilligen Selbstopferung für die eigene Gemeinschaft führte. Einen europäischen Nationalismus zu propagieren scheint aber gefährlich, denn er kann sehr leicht zu irrationalem Verhalten führen. Wie Europa einen Platz in den Herzen seiner Bewohner finden kann, ist schwierig zu sagen. Ein wichtiger Beitrag wäre eine bessere Bildung über Europas Institutionen und Geschichte, damit leere Versprechen aus nationalistischen Kreisen besser durchschauen werde können.
1. Am 28. Juli 2016 um 15:02, von mister-ede Als Antwort Keine Rückkehr nach Eden
Aber welche Emotionen soll ein Kontinent auslösen? Was soll z.B. ein Schweizer aus dem europäischen Kontinent an Gefühlen ziehen? Oder ist die EU gemeint? Die löst doch aber jede Menge Emotionen aus, z.B. Trauer, Scham und Wut, weil seit Jahren Schutzsuchende an den Außengrenzen der EU sterben. Braucht es also wirklich noch Nationalismus, um diese EU nicht mehr zu wollen?
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