Zwischen Mythos und Realität

Wie arbeiten Lobbyist*innen?

, von  Henri Clavier , übersetzt von: Fabio Maion

Wie arbeiten Lobbyist*innen?

Lobbyismus in Europa (1/5). Interessenvertreter*in, Fürsprecher*in, Berater*in für Öffentlichkeitsarbeit, Lobbyist*in… Es gibt zahlreiche Begriffe, die jedoch alle den gleichen Beruf bezeichnen, in dem sich alles um Einflussnahme dreht. Der oft abwertend verstandene Begriff „Lobbyist*in“ hat im Laufe der Zeit zahlreiche – meist schmeichelhaftere – Synonyme erhalten. Zwei Städte gelten dabei als Hauptstädte des Lobbyismus: Brüssel und Washington. In unserer Serie möchten wir hauptsächlich auf den Lobbyismus in der Europäischen Union, und somit in Brüssel, eingehen.

Skizze eines geheimnisumwobenen Berufs

Die geheimnisumwobenen Aktivitäten von Lobbyist*innen entsprechen nicht immer den weitverbreiteten Mythen von Korruption und anderen Untergrundgeschäften. Denn während Korruption illegal ist und niemals frei von Zwang ist, ist Lobbyismus eine legale Praxis, die ohne Zwang auskommt. Lobbying ist eine ganz alltägliche Handlung, bei der vor dem passenden Publikum Argumente präsentiert werden, um bestimmte Interessen durchzusetzen. Somit ist Lobbyismus – beziehungsweise Interessenvertretung – ein Teil moderner Gesellschaften. Lobbying ist klar definierten Regeln unterworfen, die sich von Staat zu Staat unterscheiden können. Die Regeln in der EU sind nicht die gleichen wie in den USA, wo Lobbyist*innen politische Entscheidungsträger*innen direkt finanzieren können.

Im Europäischen Transparenzregister werden unter lobbyierenden Organisationen solche verstanden, „die Einfluss auf die Rechtsetzung und Politikgestaltung der EU-Institutionen nehmen möchten“. Beim Lobbying wird also hauptsächlich versucht, Entscheidungsträger*innen (Funktionäre*innen, Abgeordnete etc.) zu beeinflussen, indem ihnen Argumente dargelegt werden. Ausgehend von dieser Definition betreiben sowohl Total als auch Greenpeace Lobbying. Dieses Beispiel zeigt, wie schwer es ist, den Begriff „Lobbyismus“ allgemein zu fassen. Es fallen gänzlich unterschiedliche Akteure*innen darunter. Neben internationalen Energie- und Technologieunternehmen finden sich auch Gewerkschaften oder die Vereinigung der Kartoffelnbauern*bäuerinnen wieder. Jede gesellschaftliche Gruppe, jeder Wirtschaftssektor hat Interessen, die vor der europäischen Legislative geltend gemacht werden. Lobbyist*in zu sein ist also deutlich banaler, als es den Anschein hat, und weit entfernt von dem geheimnisvollen Dasein, das der Tätigkeit oft zugeschrieben wird. Lobbying ist folglich nicht das Gleiche wie organisierte Korruption, sondern zielt vielmehr darauf ab, einen Entscheidungsprozess zu beeinflussen.

Man unterscheidet Lobbyist*innen, die direkt und dauerhaft bei einem Unternehmen oder einem Verband angestellt sind (Hauslobbyist*innen), von anderen Akteur*innen. Eine Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit ins Leben zu rufen, kann sich als kostspielig erweisen und bleibt oft nur finanziell gut ausgestatteten Player vorbehalten. Beratungsfirmen und Anwaltskanzleien bieten für Lobbying-Kampagnen ebenfalls ihre Dienste an. Auf subtilere Art und Weise werden Thinktanks oft durch ihre Finanzierung als eine intellektuelle Form des Lobbyings benutzt. Ebenfalls häufig werden – der breiten Öffentlichkeit wenig bekannte – Firmen beauftragt, die auf die Erstellung wissenschaftlicher Studien spezifiziert sind und ihre Dienste anbieten, um einer Lobbying-Kampagne damit Schwung zu verleihen.

Was ist den Lobbyist*innen untereinander gemein?

Es existiert also eine große Schar potenzieller Arbeitgeber*innen – die auf dem Markt nachgefragten Profile sind aber deutlich weniger divers. Lobbyist*innen bzw. Öffentlichkeitsberater*innen haben in den meisten Fällen einen Master in Jura, in Politik- oder in Wirtschaftswissenschaft. Da Interessensvertretung ein Bereich ist, in dem persönliche Beziehungen eine wichtige Rolle spielen, legen Arbeitgeber*innen Wert auf einen Aufenthalt in europäischen Organisationen.

Im Alltag gehen Lobbyist*innen – die aufgrund des geringen Wissens über sie Quelle vieler Mythen sind – einer klar definierten Routine nach. Um eine Lobbying-Kampagne erfolgreich zu betreiben, muss der*die Beauftragte zuerst die Interessen identifizieren, die sein*e Auftraggeber*in durchsetzen möchte. Die zentrale Herausforderung besteht dabei darin, dass Lobbyist*innen in der Lage sein müssen, eine Argumentation den richtigen Gesprächspartner*innen zu präsentieren. Es bringt wenig, mit Josep Borrell zu Abend zu essen, um mit ihm über das Verbot der Hetzjagd zu sprechen. Lobbyist*innen müssen außerdem nicht nur die zentralen Protagonist*innen identifizieren, sondern auch die Interessen der anderen Beteiligten, die beim Gesetzgebungsprozess mitmischen werden.

Damit dies gelingt, kartografieren Lobbyist*innen die verschiedenen Interessen, um so potenzielle Verbündete, aber auch Gegenspieler*innen und ihre Argumentationslinien zu identifizieren. Diese Etappe vereinfacht die weitere Arbeit und bietet die Möglichkeit, Bündnisse zu schließen und die Ziele klarer zu definieren. Auf diesen in der Anfangsphase erstellten Überblick über die verschiedenen Interessen greifen Lobbyist*innen während der gesamten Kampagne zurück, die sich stets nach dem aktuellen Stadium des Gesetzgebungsprozesses richtet. Die Phase der öffentlichen Konsultation ist für die Lobbyist*innen besonders wichtig, da diese die Möglichkeit bietet, die Interessen der Auftraggeber*innen in einem Positionspapier der Europäischen Kommission darzulegen.

Die Europäische Union und ihr Verständnis von Gemeinwohl

Die meiste Arbeit innerhalb des Gesetzgebungsprozesses findet bereits statt, bevor sich das Europäische Parlament und der Rat damit beschäftigen – und zwar bei Funktionär*innen der Europäischen Kommission. Bei dieser vorbereitenden Arbeit spielen Expert*innengruppen eine tragende Rolle. Diese Gruppen, deren Aufgabe darin besteht, die Kommission bei komplexen Themen zu unterstützen, setzen sich aus unabhängigen Expert*innen, Vertreter*innen von Staaten, aber auch aus Interessensvertreter*innen (von NGOs, Unternehmen, Gewerkschaften…) zusammen. Diesen Expert*innengruppen wird seitens der Lobbyist*innen besonders viel Interesse zuteil, da sie so versuchen, die Berichte, die später der Europäischen Kommission präsentiert werden, in die gewünschte Richtung zu lenken. Anschließend verbringen Lobbyist*innen ihre Zeit mit persönlichen Treffen mit Funktionär*innen der Kommission, um dabei Argumente für ihre Position vorzubringen. Sie sind auch dazu angehalten, mit Abgeordneten des Europäischen Parlaments zusammenzuarbeiten, um Änderungen an einem Gesetzestext vorzuschlagen, bevor dieser zur Kommission kommt.

Lobbying ist somit ein zentraler Bestandteil des Entscheidungsprozesses in der Europäischen Union, gerade auch unter Berücksichtigung des ersten Artikels im Unionsvertrag, der das Prinzip der Transparenz sanktioniert. Während diese Nähe alarmieren könnte – insbesondere im Hinblick auf Interessenskonflikte, die diese Praktiken hervorrufen könnten –, stehen die europäischen Institutionen Lobbyismus sehr aufgeschlossen gegenüber. Es sei daran erinnert, dass die Direktiven und Regulierungen, die in Brüssel ausgehandelt werden, mehr als 450 Millionen Bürger*innen in Europa betreffen. Den europäischen Institutionen wird oftmals vorgeworfen, übermäßig technokratisch, von der Realität des Kontinents abgelöst oder sogar illegitim zu sein. Dieses Legitimitätsdefizit ist für die Handlungsfähigkeit der EU hinderlich.

Im Zuge dessen werden die Einbeziehung von Interessensgruppen und öffentliche Konsultationen als optimales Mittel gesehen, um einen Überblick über die öffentliche Meinung in Europa zu gewinnen. Die Beteiligten dazu zu animieren, ihre Meinungen und Interessen offen auszusprechen, und diese im weiteren Prozess zu berücksichtigen wird somit als Chance gesehen, um eine Art europäisches Gemeinwohl herauszuarbeiten. Dieses angelsächsische Verständnis von Gemeinwohl, dem sich die europäischen Institutionen verschreiben, steht im Gegensatz zu einem Rousseauschen Verständnis. Wohl wissend, dass es nicht möglich ist, Lobbying zu verbieten oder zu stoppen, ziehen es die europäischen Institutionen vor, dieses proaktiv zu integrieren, um sich so zur Vision einer konsultativen Demokratie zu bekennen. Durch diesen Ansatz wollen die europäischen Institutionen die Vorstellung einer technokratischen Maschine und insbesondere auch die Vorstellung politischer Illegitimität bekämpfen. Das Einbeziehen von Lobbyismus wird somit indirekt auch als Mittel der Legitimierung europäischer Institutionen verstanden.

Der Beruf von Lobbyist*innen oder Interessensvertreter*innen entspricht keineswegs immer der landläufigen Ansicht. Der allgemeine Begriff „Lobby“ trägt dazu bei, das Bild eines informellen Bündnisses geheimnisvoller Akteur*innen zu festigen. Ganz konkret ist Lobbying aber schlichtweg der Versuch nichtstaatlicher Akteur*innen, Teil eines Entscheidungsprozesses zu werden und so dessen Ergebnis zu beeinflussen. Die beunruhigendsten und gefährlichsten Praktiken für eine Demokratie hängen häufiger mit der Verwechslung von Lobbyist*innen und öffentlichen Entscheidungsträger*innen als mit Korruption zusammen.

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