Menschen mit Migrationshintergrund: Die wohlbekannten Unbekannten

, von  Arnisa Halili

Menschen mit Migrationshintergrund: Die wohlbekannten Unbekannten
Unknown legends. Foto: bereitgestellt von Thao Tran.

Jede vierte Person in Deutschland hat einen sogenannten Migrationshintergrund. Laut den letzten Erhebungen des Statistischen Bundesamtes sind es aktuell 20,8 Millionen Menschen, Tendenz steigend. Doch noch immer polarisiert das Thema Herkunft die öffentliche Debatte um Zugehörigkeit und Identität. Ein Beitrag über die Frage nach dem Anfang und dem Ende des Migrationshintergrunds.

Die Berlinerin und Migrationsforscherin Naika Foroutan ist eine bekannte Stimme in Deutschland, wenn es um Fragen bezüglich der Herkunft geht. Dass sich Menschen, die selbst einen Migrationshintergrund haben, mit Migrationsthemen auseinandersetzen, scheint auf den ersten Blick nicht ungewöhnlich. Ein Gespräch, in dem sie 2018 bei Deutschlandfunk Kultur zum Thema Postmigrantische Gesellschaft sprach, entpuppte sich jedoch als Schlüsselmoment für viele Zuhörer*innen der Sendung: Bis zum Schluss des Podcast blieb der Name des Moderators ungenannt. Unerwartet berichtet dieser, dass Menschen immer wieder überrascht sind, dass er Person of Colour ist. Viele Zuhörer*innen mussten sich eingestehen, dass René Aguigah in ihren Köpfen bis zu diesem Moment ein weißer* Deutscher Mann gewesen ist ohne Migrationshintergrund.

Die Vorstellung, dass weiße* Menschen Fragen stellen und Menschen mit gelesenem Migrationshintergrund darauf antworten, ist ein Bild, das in Filmen, Büchern, Serien und weiteren Medienformaten jahrzehntelang reproduziert wurde. Die Wirkungskraft dieser ungleichen Erzählungen zeigt sich noch heute, wenn Personen, deren Äußeres als Hinweis auf einen Migrationshintergrund gelesen wird, in alltäglichen Situationen wie im Supermarkt von ihnen unbekannten Menschen nach ihrer Herkunft gefragt werden.

Vom Gastarbeiter über Ausländer zum Mensch mit Migrationshintergrund

In der Vergangenheit gab es einen sprachlichen Wandel aus dem der*die Gastarbeiter*in zu dem*der Ausländer*in wurde und aus diesem*dieser der Mensch mit Migrationshintergrund. Die genannten Begriffe standen dabei immer im Gegensatz zum*zur Deutschen.

Die 1980er Jahre waren in Deutschland geprägt durch eine erhöhte Einwanderung. Die Entstehung des Begriffs Migrationshintergrund stand ganz im Zeichen dieser gesellschaftlichen Herausforderung, da nun zunehmend Begriffe gefordert waren, die dieses Phänomen fassen konnten.

Seit 2005 wird zwischen der Bevölkerung mit und ohne Migrationshintergrund in Deutschland unterschieden. Die Bestimmung des Herkunftslandes von Personen erfolgt über verschiedene Merkmale. Dabei ist der Geburtsstaat der Person von Bedeutung oder der Geburtsstaat der Eltern wird herangezogen. Laut Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) hat eine Person dann einen Migrationshintergrund, wenn sie selbst oder mindestens ein Elternteil nicht mit deutscher Staatsangehörigkeit geboren ist. Doch weder im wissenschaftlichen Diskurs noch im Bereich der amtlichen Statistiken und der Bildungsberichterstattung liegt eine einheitliche Definition des Migrationshintergrunds vor. Trotzdem ist die Auseinandersetzung mit dem Begriff höchst relevant, um die gegenwärtigen identitätspolitischen Debatten rund um die Gleichstellung von Frauen, LGBTQ+ oder People of Colour zu verstehen.

Zusammenspiel von Zugehörigkeit und Herkunft

Der Migrationshintergrund wird dann von Bedeutung, wenn über Identitäten und Zugehörigkeit von Menschen in einer Gesellschaft gesprochen wird. Es ist noch nicht lange her, da sind Menschen davon ausgegangen, dass die Identität einmal gebildet wird, unveränderlich ist und eine Art festen Kern in ihrem Inneren hat. Heute geht man davon aus, dass Menschen eine Vielzahl von Identitäten in sich tragen, die sich zu verschiedenen Zeitpunkten in Beziehung zu unterschiedlichen Menschen anders zeigen. Wichtig ist zu berücksichtigen, dass die verschiedenen Identitäten, die ein Mensch in sich trägt, sich auch immer wieder verändern können. Optimierte Arbeitsabläufe, veränderte Familienverhältnisse, Digitalisierung und weitere Aspekte tragen zur ständigen Veränderung der Identität von Menschen bei. Diese sich ständig verändernden Identitäten eines Menschen können selbstverständlich auch in einen Konflikt, eine Identitätskrise, geraten. Davon betroffen sind jedoch nicht nur, wie lange vermutet, Menschen mit Migrationshintergrund, da sie aufgrund ihrer Familiengeschichte als zwischen zwei Stühlen sitzend betrachtet wurden, sondern auch Menschen ohne Migrationshintergrund.

Fremdheit ist männlich

Der Migrationshintergrund eröffnet die Möglichkeit zur Beschreibung potentieller Fremdheit. Kritiker*innen von Political Correctness-Debatten können behaupten, dass Andersheit per se nicht negativ gesehen werden muss. Stützen können sie ihre Aussagen auf den Soziologen Georg Simmel. Simmel sagt, dass das Konzept des*der Fremden zunächst neutral eingeordnet werden kann, weil es ihm*ihr möglich ist aus der Distanz objektiv und offen dem gegenüber zu begegnen. Andersheit ist in unserer Gesellschaft jedoch häufig negativ konnotiert und sollte daher nicht zur Beschreibung von Menschen mit Migrationshintergrund dienen.

Der gelesene Migrationshintergrund eines Menschen wird zum Ausgangspunkt für das Zuschreiben einer vermeintlich traditionellen Identität. Im Jahr 2018 veröffentlichte der Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR) erstmals eine Studie, die unter dem Titel „Wo kommen Sie eigentlich ursprünglich her? Diskriminierungserfahrungen und phänotypische Differenz in Deutschland“ publiziert wurde. Die Ergebnisse zeigen, dass Menschen, deren Äußeres von manchen als ein Indiz für einen möglichen Migrationshintergrund gelesen wird, sich weitaus häufiger diskriminiert fühlen als Migrant*innen, die sich äußerlich nicht von der Mehrheitsgesellschaft unterscheiden. Unter der Mehrheitsgesellschaft ist hier der Anteil von Menschen ohne Migrationshintergrund zu verstehen, der aufgrund seiner Größe die vorherrschende Kultur einer Gesellschaft repräsentieren soll.

Zudem wird über den Migrationshintergrund betont, dass es eine erste Generation – oftmals maskulin – gibt, die am Herkunftsort geboren ist. Die Nachfolger*innen, die meistens am Zielort geboren und sozialisiert sind, werden durch den Begriff häufig vermeintlich herkunftsländerspezifischen Stigmatisierungen ausgesetzt. Der Begriff hat somit eine intergenerationelle Funktion: Er wird unfreiwillig vererbt.

Warum kategorisieren wir Andere?

Es gibt keine eindeutige Antwort auf diese Frage, aber Zuschreibungsprozesse stellen einen grundlegenden Bestandteil der eigenen Wahrnehmung dar, weil Begriffe wie der Migrationshintergrund unter anderem Sicherheit und Orientierung für Menschen ohne Migrationshintergrund stiften können. Da es keine festen Identitäten mehr gibt und sich alle aufgrund der Globalisierung in einem ständigen Wandel befinden, wissen viele Menschen ohne Migrationshintergrund nicht mehr wer sie sind. Über den Begriff des Migrationshintergrunds wissen sie jedoch, was sie nicht sind: ein Mensch mit Migrationshintergrund. In der Abgrenzung zum Anderen gewinnt die verunsicherte Mehrheitsgesellschaft an Sicherheit in Bezug auf die eigene Identität. Dabei darf nicht außer Acht gelassen werden, dass die Möglichkeit jemanden etwas wie einen Migrationshintergrund zuzuschreiben von der eigenen Position (Status, soziale Klasse, Bildungsstand, Vernetzung und Kontakte) in einer Gesellschaft abhängig ist.

Die Zukunft des Migrationshintergrunds

Von einigen Kulturtheoretiker*innen wird die These vertreten, dass aufgrund der Globalisierung starre Konzepte wie die nationale Identität sich auflösen werden. Ein gleiches Schicksal würde dem Migrationshintergrund widerfahren, da beide Begriffe in Abhängigkeit zueinanderstehen. Rechtsradikale Parteien und Bewegungen konnten sich in den vergangenen Jahren in zahlreichen europäischen Ländern profilieren, wodurch eine weitere Überlegung aufkommt, dass die Existenz des Begriffs des Migrationshintergrunds kollektive Identitäten stützt und nationale Identitäten sogar erstarken lässt. Weitere Vorstellungen sind, dass sich nationale Identitäten im Niedergang befinden und hybride Identitäten, wie Menschen mit Migrationshintergrund, ihren Platz einnehmen. Menschen mit Migrationshintergrund könnten dabei als Übersetzer*innen zwischen verschiedenen Lebenswelten in einer Gesellschaft agieren und demokratische Strukturen fördern, wie es das Projekt Selam Opera der Komischen Oper Berlin zeigt. Über das transkulturelle Projekt soll Stadtbürger*innen klassische Musik näher gebracht werden. Hier geht es nicht um Kunst für Migrant*innen, sondern Kunst von und mit Migrant*innen. Der Migrationshintergrund muss also nicht zwangsweise verschwinden: Wichtig ist aber, wie, wo und von wem der Begriff verwendet wird.

Alternative: Biodeutsch sein

Im Zuge der Diskussionen um den Migrationshintergrund ist die „Alternative“ biodeutsch entstanden. Bekannt wurde der Begriff 2015 durch eine Rede des Grünen-Politkers Cem Özdemir, der ihn ironisch in Bezug auf Menschen ohne Migrationshintergrund verwendete. Die Ursprünge des Begriffs liegen jedoch Jahre zuvor bei dem Ulmer Kabarettisten Muhsin Omurca. Biodeutsch ist selbstverständlich nicht die Lösung der identitätspolitischen Debatten in Deutschland und es bleibt unklar, ob sich Menschen ohne Migrationshintergrund selbst als Biodeutsche bezeichnen, aber der Begriff zeigt, dass wir Sprache gestalten und gegenwärtige Ungleichheiten sowie vermeintliche Gegebenheiten hinterfragen können. Gleichzeitig zeigt der Begriff biodeutsch auch, dass Menschen mit Migrationshintergrund auch aktive Rollen einnehmen können und Ideen entwickeln, um Erzählungen über sich selbst und ihre Mitmenschen vielseitiger zu gestalten.

Warum es wichtig ist, darüber zu sprechen

Nun liegt die Vermutung nahe, dass die Woher-kommst-du-Frage im Alltag häufiger fällt als die Welchen-Migrationshintergrund-hast-du-Frage. Dennoch stehen der Begriff des Migrationshintergrunds und die erste Frage in einem engen Verhältnis zueinander: Die statistische Erhebung des Migrationshintergrunds repräsentiert die institutionelle Verankerung der Herkunftsdebatte.

Es ist wichtig diese Debatte zu führen, weil sie unsere Vorstellungen darüber wie wir vermeintlich Anderen begegnen in Frage stellen. Es geht nicht darum die „richtige" Antwort zu finden oder den Begriff zu verbieten, sondern vielmehr sich eigenen Vorurteilen gegenüber anderen bewusst zu werden. Insbesondere mit Blick auf zukünftige Migrationsbewegungen aufgrund von Kriegen, Klimawandel und weiteren Faktoren, ist es wichtig unterschiedliche Perspektiven einzunehmen und starre Konzepte, wie den Migrationshintergrund, zu hinterfragen. Wichtig zu erwähnen bleibt, dass der Begriff des Migrationshintergrunds an sich kein Problem darstellt, aber in Kontexten, in denen er genutzt wird, häufig eine negative Konnotation erfährt.

Der Migrationshintergrund kann als Teil einer Erzählung verwendet werden, sollte aber nicht die Haupterzählung der Identität eines Menschen sein müssen. Zudem handelt es sich um eine Erzählung, die von der Mehrheitsgesellschaft etabliert wurde und damit nicht die Diversität von Menschen mit Migrationshintergrund darstellen kann. Die Frage, wie wir in Zukunft mit dem Thema Herkunft in unserer Gesellschaft umgehen möchten, bleibt weiterhin ungelöst. In der Auseinandersetzung mit dem Migrationshintergrund liegt jedoch ein Potenzial, die Identitäten aller Menschen in unserer Gesellschaft vielseitig zu denken.

*„Weiß“ bezeichnet hier keine biologische Eigenschaft und keine reelle Hautfarbe, sondern eine politische und soziale Konstruktion. Mit „Weißsein“ ist die dominante und privilegierte Position innerhalb des Machtverhältnisses Rassismus gemeint, die sonst zumeist unausgesprochen und unbenannt bleibt (Amnesty International Glossar für Diskriminierungssensible Sprache)

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