Studentenrevoluzzer, Steinewerfer, Taxifahrer, Politiker, Außenminister, Lobbyist – und nun bücherschreibender Elder Statesman. Von Stillstand oder Langeweile kann in Joschka Fischers Leben keine Rede sein. Gerade das hat ihn zu einer äußerst streitlustigen und streitbaren Person gemacht, wie er mit seinem kürzlich erschienen Buch „Scheitert Europa?“ auf ein Neues beweist: Trotz aller Europamüdigkeit, gerade jetzt plädiert Fischer für den großen Wurf: Die Gründung der Vereinigten Staaten von Europa.
Das größte Problem: Führungsschwäche.
Womöglich deshalb scheut Fischer auf rund 150 Seiten nicht davor zurück, in der Geschichte des Kontinents sogar bis zum Imperium Romanum zurückzuschauen. So entsteht der Eindruck, die Geschichte Europas rückblickend mystifizieren zu wollen, ähnlich wie jede Nationenbildung ihre eigene Geschichte zur Sinngebung erst kreiert. Möglicherweise versucht Fischer aber nur, im Schatten zweier Weltkriege und der darauffolgenden Teilung des Kontinents, die gegenwärtigen Herausforderungen für die politische Integration als vergleichsweise bestehbar darzustellen.
So sieht Fischer das größte Problem in der Führungsschwäche der europäischen politischen Eliten. Obwohl eine gemeinsame Währung nur mit einer gemeinsamer Wirtschafts- und Sozialpolitik bestehen kann, was folglich die Vergemeinschaftung von Schulden miteinschließt, bleibt die Rettungspolitik an Ermangelung einer Vision krisen- und nicht strategiebetrieben. Gleiches trifft auf den Umgang mit Putins Russland zu. Dabei ist seine Kritik keinesfalls parteipolitisch motiviert, denn sie zielt sowohl auf den Sozialisten François Hollande als auch auf die Christdemokratin Angela Merkel ab.
Europa als Risiko
Auch die eher hilflose europafreundliche Rhetorik der beiden wohl wichtigsten europäischen Politiker füllt diese Leerstelle nicht, vielmehr wird sie durch das Erstarken von europaskeptischen Parteien wie dem Front National oder der AfD besetzt. Diese Parteien sind es, welche die europäische Frage nicht in den Hinterzimmern im fernen Brüssel verhandeln wollen und ihr so ganz nebenbei zur erneuten Politisierung im Alltag verhelfen. Daher ist es wenig verwunderlich, dass gerade die AfD in der Grenzstadt Frankfurt (Oder) mit 20 Prozent ihre besten Erfolge erzielte. Europa ist eben nicht nur ein Versprechen für viele Menschen, sondern für einige auch ein Risiko – zumindest der Wahrnehmung nach.
Umso lohnenswerter ist es, Fischers Vorschläge zu diskutieren. So schlägt er etwa vor, dass Vertreter aus den nationalen Parlamenten in einer Eurozonen-Kammer über eine gemeinsame Haushalts-, Finanz- und Wirtschaftspolitik bestimmen. Fischers Hoffnung ist, dass so nicht nur die Krise überwunden, sondern die gesamte europäische Integration demokratisch legitimiert würde. Seine Idee muss an dieser Stelle weiter gedacht werden. Die Staats- und Regierungschefs scheinen durch die Krise wie gelähmt und sind zu beschäftigt mit deren Folgen. Der Wandel zu einer europaweiten Demokratie- und Sozialbewegung muss deshalb auch „bottom-up“, also direkt von der Gesellschaft kommen. Und die wächst gerade heran: Das Potential ist mit einer hochqualifizierten, aber überwiegend prekär beschäftigen, Erasmusgeneration von Studierenden zumindest vorhanden. Ob sich Joschka Fischer auf seinen alten Tagen wieder mit den Studenten auf den Barrikaden zusammenschließen würde, bleibt jedoch sein Geheimnis.
Joschka Fischer: Scheitert Europa?, Kiepenheuer & Witsch Verlag, Köln 2014 gebunden, 160 Seiten, 17,99 EUR.
1. Am 20. November 2014 um 19:23, von Christian Beck Als Antwort Mit einer Vision durch die europäische Krise
Wenn wir Revolution machen wollen, braucht es einen europäischen Ballhausschwur. Dafür ist es aber schlecht, vorher den aktuellen „Dritten Stand“ im Europaparlament erst mal zu spalten in jetzt-schon-Euro-Länder und noch-nicht-Euroländer (wie z.B. Polen). Ansonsten: Klingel mich an, wenn die Barrikaden stehen. Ich komme gerne mal vorbei!
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