Wer heute die Wilhelmstraße in Berlin entlangfährt, sieht am Ufer der Spree das Regierungsviertel, weiter runter drängen sich Tourist*innen am Checkpoint Charlie für ein Foto an der ehemaligen Ost-West-Grenze. An der Kreuzung vorbei gelangt man zum Ufer des Landwehrkanals. Abends treffen sich Freund*innen hier auf ein Bier, es wird erzählt und gelacht.
In derselben Straße fand von 1884 bis 1885 die sogenannte „Kongo-Konferenz“ statt - mit gewaltigen Konsequenzen, die sich bis heute auf dem afrikanischen Kontinent spüren lassen. Beteiligt waren Portugal, Spanien, Frankreich, Belgien, Italien und England ebenso wie Österreich-Ungarn, Dänemark und Schweden-Norwegen, das Osmanische Reich und die USA. Vertreter*innen afrikanischer Länder wurden nicht eingeladen. Auf der Konferenz wurde über Grenzen auf dem afrikanischen Kontinent entschieden, Einflussbereiche der europäischen Staaten festgelegt und der Wettlauf um die Ressourcen Afrikas verstärkt. Die Konferenz glich einer gierigen Kuchenaufteilung.
In der Wilhelmsstraße erinnert heute eine Gedenktafel an die Konferenz: „Erinnern, Versöhnen: Gemeinsam Verantwortung tragen für unsere Zukunft“, so heißt es darauf. Dieser Aufruf zu gemeinsamer Verantwortung sollte auch auf europäischer Ebene aufgegriffen werden.
Ein langer Prozess durch die internationalen Institutionen
„Dort [auf dem Steinplatz] findet man zwei Gedenkstätten für die Opfer des Stalinismus und Nationalsozialismus, die Anfang der 1950er Jahre errichtet wurden. Der Steinplatz könnte also fast zum Symbol der europäischen Erinnerungsgeschichte werden. Allerdings würde eine weitere Gedenkstätte fehlen: eine, die an die europäischen Kolonialverbrechen erinnert.“ - Claus Leggewie, Kulturwissenschaftler an der Universität Essen
2017 schrieb der ehemalige Menschenrechtskommissar des Europarats Nils Muižnieks einen Kommentar zu Afrophobie, Diskriminierung und rassistischer Gewalt aller Formen aufgrund von Hautfarbe und ethnischer Herkunft in Europa. Muižnieks Aufforderung: Europa soll sich seinem kolonialen Erbe und seiner Mitverantwortung am Sklav*innenhandel stellen, um Rassismus bekämpfen zu können. Seine Stellung leitet von der UN-Resolution aus dem Jahr 2013 ab, die die „Decade for People of African Descent“ ausruft. Die Dekade ist ein wichtiger Grundstein, um der Anerkennung des weltweiten Rassismus gegenüber Schwarzen Menschen und den Zusammenhang zwischen diesem und der imperialen und kolonialen Vergangenheit vieler, hauptsächlich europäischer Länder anzuerkennen. Schwerpunkte des Programmes sind Anerkennung, Gerechtigkeit und Entwicklung. Es werden konkrete Handlungen und Maßnahmen erläutert, die ergriffen werden sollen, unter anderem die Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheit.
Eine große Diskussion zur Erinnerungspolitik und Erinnerungskultur gab es auf EU-Ebene nach der Ost-Erweiterung. Die Geschichten der beiden totalitären Regimen, das Nationalsozialismus und das Stalinismus mussten einen festen Platz in der Erinnerungspolitik bekommen, um eine bessere Integration der Länder zu erreichen. Nicht nur um den Rassismus zu bekämpfen, sondern auch um den zunehmenden Populismus und die lauten Stimmen, die Migration zu kriminalisieren versuchen, muss heute wie schon 2004 eine größere Auseinandersetzung über den Kolonialismus und den Sklavenhandel gefordert werden.
Das Europäische Parlament nimmt schüchtern das Thema auf
Im Mai 2018 fand erstmals die „People of African Descent Week“ im Europäischen Parlament auf Initiative der Parlamentarier*innengruppe Anti-Rassismus und Vielfalt (ARDI) statt. Unter der Leitlinie „Honoring Black Europe“ haben sich in dieser Woche Antirassismus-Aktivist*innen, Intellektuelle und Abgeordnete aus ganz Europa getroffen und Themen angesprochen, die in der europäischen Öffentlichkeit, größten Teils ignoriert werden. Vertreter*innen der Kommission wie etwa Frans Timmermans, Vizepräsident, oder Vera Jourova, zuständig für Justiz, waren jedoch abwesend.
Darauffolgend beschloss das Europäische Parlament im März 2019 zum ersten Mal eine Entschließung zu den Grundrechten Menschen afrikanischer Abstammung. Darin forderte es unter anderem die Mitgliedstaaten auf, Maßnahmen zu ergreifen, um Entschädigungen, offizielle Entschuldigungen und Rückgaben zu ermöglichen. Die EU und ihre Mitglieder sollen gemeinsam durch diesen Beschluss, den 2007 von den Vereinten Nationalen etablierten „Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer der Sklaverei und des transatlantischen Sklavenhandels“, der jährlich am 25. März stattfindet, anerkennen. Die Einführung des „Black History Month“ der ursprünglich in den USA Ende der 70er Jahren entstand, wurde ebenfalls gefordert. Fünf Monate später in der Entschließung des Europäischen Parlaments zur „Bedeutung der Erinnerung an die europäische Vergangenheit für die Zukunft Europas“ ist das Wort Kolonialismus jedoch nicht mehr zu finden.
Das Bewusstsein ist in den letzten Jahren gewachsen, hauptsächlich dank der Lobbyarbeit von Organisationen wie dem European Network against Racism (ENAR) oder der European Agency of Fundamental Rights (FRA). Das ENAR hat 2017 ein Framework zur Bekämpfung von Afrophobia entwickelt, die FRA ihrerseits den Bericht „Being black in Europe“ 2018 veröffentlicht, um auf das Thema aufmerksam zu machen.
Auch die jüngsten Proteste in vielen europäischen Städten von Berlin bis Bristol über Brüssel sind ein erneuter Weckruf, schärfer und kritischer auf die Kolonialvergangenheit zu schauen – dies sollte nicht nur auf nationaler Ebene stattfinden, sondern auch in der Europäischen Union.
Eine „ever closer union“, wie sie im Vertrag von Rom steht, kann sich nicht nur auf die Geschichte des letzten Jahrhunderts aufbauen. Sie muss sich auch mit den Geschehnissen der Jahrhunderte davor auseinandersetzen und die Mitgliedstaaten darin bestärken, dies ebenso zu tun. Die Dekade für Menschen afrikanischer Abstimmung dauert offiziell noch vier Jahr, die Themen sind aber darüber hinaus wichtig und fortlaufende Aufgaben, die nicht bei der nächsten Möglichkeit aus den Augen zu verlieren sind. Sich mit seiner Geschichte zu beschäftigen ist nicht Zeichen einer progressiven Haltung, sondern schlichtweg selbst übernommene Verantwortung.
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