Neues Klimaziel und eine digitale Dekade - Von der Leyens Rede zur Lage der Union

, von  Florian Bauer

Neues Klimaziel und eine digitale Dekade - Von der Leyens Rede zur Lage der Union
Auf Französisch, Englisch und Deutsch appelliert Kommissionspräsidentin in ihrer ersten Rede zur Lage der Union an den europäischen Zusammenhalt gegenüber Corona-, Klima und Migrationskrise. EU-Kommission / Etienne Ansotte / (C) European Union

Kommissionspräsidentin von der Leyen will das EU-Klimaziel für 2030 auf mindestens 55 Prozent anheben. Es war inzwischen schon erwartet worden, aber ein kleines Ausrufezeichen ist es doch. In ihrer ersten Rede zur Lage der Union bestärkte sie ihre Vision eines grünen, digitalen Europas und kündigte in Reaktion auf Corona für 2021 einen Globalen Gesundheitsgipfel in Italien an. Wirklich überraschen konnte sie aber nur mit der etwas kuriosen Initiative für ein europäisches Bauhaus. In Bezug auf das drängende Thema der europäischen Asyl- und Migrationspakt blieb sie hingegen vage. Ein Überblick.

2010 eingeführt ist die Rede zur Lage der Union inzwischen zu einer festen Institution in der europäischen Debatte geworden. Angelehnt an die US-amerikanische „State of the Union Address“ der US-Präsident*innen werden vor dem Europäischen Parlament Prioritäten für das kommende Jahr verkündet. Für den*die Kommissionspräsident*in, dem*der die Aufgabe zuteil wird, nicht zuletzt eine Herausforderung: Beobachter*innen achten sehr genau darauf, welchen Themen wie viel Raum gegeben wird.

Gemeinsam gegen Corona mit einer europäischen Gesundheitsunion

Von der Leyen begann ihre Rede auf Französisch mit einem Dank an die Beschäftigten im Gesundheitssektor, die in der anhaltenden Corona-Pandemie für das Leben der Patient*innen kämpfen. Von der Leyen will aus der Krise lernen: Als europäische Konsequenz forderte sie mehr Finanzmittel für eine europäische Gesundheitsunion, mit ausgeweiteten Kompetenzen des Europäischen Zentrums für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten (ECDC) sowie einer neuen EU-Agentur für biomedizinische Forschung. Zudem soll 2021 ein globaler Gesundheitsgipfel in Italien stattfinden. Nachdem sie für ihre anfänglich eher zögerliche Reaktion auf die Corona-Krise kritisiert wurde, demonstriert von der Leyen nun Handlungswille und verspricht den Einsatz für eine global verfügbare Impfung anstelle von „Impfstoffnationalismus“.

„Change by design – not by disaster“

Die gesellschaftliche und wirtschaftliche Erholung nach der Corona-Pandemie ist für von der Leyen die Chance, den „Wiederaufbau“ grün zu gestalten. Sie möchte auch in der Klimakrise einen Wandel einleiten und legt mit einer Erhöhung des Klimaziels für 2030 auf mindestens 55 Prozent nach – obwohl offiziell noch das 40 Prozent-Ziel gilt und sich Polen im Europäischen Rat bereits einer Ambitionssteigerung auf 50 Prozent verweigert hat. Harte Verhandlungen zwischen den Mitgliedsstaaten sind zu erwarten.

Allerdings lohnt es sich auch, hinter die plakativ verkündeten Zahlen zu blicken: Ein Teil der zusätzlichen Emissionsminderungen wird geleakten Kommissionsplänen zufolge durch eine neue Berechnungsmethode erreicht. Zukünftig sollen Emissionseinsparungen durch CO2-Sänken wie Wälder oder Moore einberechnet werden, die bisher nicht mit einfließen. Um eine Erhöhung des Ziels bei gleichbleibender Berechnung handele es sich in diesem Fall nicht. Kritik kommt von den Grünen im Europaparlament, die ohnehin ein Ziel von 65% fordern. Der deutsche Europaabgeordnete Michael Bloss kommentierte im Guardian:

"Wir brauchen Führung im Klimabereich mit einem Ziel, das im Einklang mit der Wissenschaft steht, und nicht neue Unsicherheiten oder gar eine weitere Abschwächung des Ziels für 2030.“

Eine grüne Renovierungswelle, Bauhaus und Wasserstoff

Von der Leyen plant, insbesondere die hohen Emissionen des Gebäudesektors stärker zu reduzieren und mit dem neuen EU-Budget eine „Renovierungswelle“ loszutreten. Alte, ineffiziente Gebäude sollen nach heutigen Standards und möglichst mit ökologischen Baustoffen renoviert werden. Und damit Europa dabei in Zukunft auch stilistisch die Nase vorn hat, will sie ein neues, nachhaltiges und vor allem europäisches Bauhaus begründen: Einen „Co-creation space“, in dem Architekt*innen, Student*innen und Ingenieur*innen im wahrsten Sinne die Zukunft Europas designen. Für die Idee gab es im Nachhinein einiges an Zustimmung, aber auch viel Spott:

Ein weiteres Leuchtturmprojekt soll die europäische Wasserstoffstrategie werden, die insbesondere in energieintensiven Branchen wie der Stahlindustrie klimafreundliche Produktion ermöglichen soll. Die damit verbundenen Investitionen sollen auch ländlichen Gebieten zugutekommen, die in „European Hydrogen Valleys“ transformiert werden.

Von der Leyen läutet „digitale Dekade“ ein

In den letzten Jahrzehnten hatte Europa im Digitalbereich das Nachsehen, während die USA nahezu alle Internetgiganten auf sich vereint. Jetzt will von der Leyen den digitalen Turbo zünden. Eine europäische Datenwirtschaft soll entstehen, Industriedaten nutzbar gemacht und dabei möglichst europäische Infrastruktur verwendet werden. Die Europäische Cloud soll nach einigen gescheiterten Anläufen doch noch kommen und von der Leyen versprach sogar eine „digitale Identität“, mit der EU-Bürger*innen Fahrräder leihen und Steuern zahlen können. Eine Digitalsteuer, die derzeit bereits international in der G20 und OECD verhandelt wird, will sie zur Not unilateral durchsetzen. Das verspricht einiges an Konfliktpotenzial für ein ohnehin angespanntes Verhältnis mit den USA, selbst wenn Trump im November abgewählt werden sollte. Von der Leyen zeigte sich aber entschlossen, außenpolitisch entschiedener aufzutreten und europäische Interessen und Werte zu verteidigen.

Eine werteorientierte Außenpolitik

Die Kommissionspräsidentin prangerte chinesische Menschenrechtsverletzungen in Hongkong und gegenüber der Minderheit der Uiguren an, bestärkte die belarussischen Demonstrant*innen und kritisierte Russland für seine weltweiten Desinformationskampagnen. Dabei beklagte sie allerdings auch die oft zögerlichen europäischen Reaktionen und forderte die Abschaffung der Einstimmigkeit bei außenpolitischen Ratsbeschlüssen:

„Fasst Euch ein Herz und erlaubt Beschlüsse mit qualifizierter Mehrheit – zumindest bei Menschenrechtsverletzungen und Sanktionen.“

Es folgte großer Applaus aus dem Plenum. Wie der Vorsitzende der Liberalen im Europaparlament Guy Verhofstadt später anmerkte, ist das Parlament in dieser Angelegenheit aber ebenso machtlos wie die Kommission. Der richtige Adressat wäre der Europäische Rat, denn nur er kann im Konsens Mehrheitsbeschlüsse erlauben.

Wie reagiert die EU auf Moria?

Die Not der Geflüchteten in Moria dominierte die Schlagzeilen der vergangenen Tage. Die verschiedenen Reaktionen der Mitgliedsstaaten zeigten die Zerrissenheit der Union in diesem Thema: Während in einigen Ländern vor allem die moralische Pflicht zur Nothilfe die Debatte bestimmte, waren in anderen die Ängste vor einem falschen Signal und einer erneuten Migrationskrise wie 2015 groß. Von der Leyen muss zwischen diesen Lagern vermitteln und betonte die Wichtigkeit einer gemeinsamen, solidarischen Lösung. In ihrer Rede stellte sie zunächst klar, die Rettung von Menschen in Seenot sei „keine Option, sondern Pflicht“, sprach sich dann aber auch für eine Stärkung der Außengrenzen, bessere Bekämpfung von Schleuser*innen und konsequentere Rückführungen aus. In Moria soll nun im Rahmen eines Pilotprojekts gemeinsam mit der griechischen Regierung ein neues Lager errichtet werden. Kommende Woche wird die Kommission ihren neuen Migrationspakt vorstellen. Es bleibt abzuwarten, ob damit der gordische Knoten der europäischen Migrations- und Asylpolitik durchschlagen werden kann.

Klare Prioritäten, schwierige Umsetzung

Letztlich gab es keine große Überraschung in von der Leyens erster Rede zu Lage der Union. Auch die geplante Erhöhung des Klimaziels war vorher bereits öffentlich geworden. Initiativen wie das Europäische Bauhaus haben wohl eher symbolischen Charakter. Im Wesentlichen bestärkte sie die bereits zu Anfang ihrer Amtszeit gesetzten Prioritäten und Ziele und wird sich jetzt auf ihre Umsetzung konzentrieren müssen. Während sie das Parlament bei den meisten Themen auf ihrer Seite weiß, liegen die eigentlichen Herausforderungen im Europäischen Rat. Ohne eine Einigung der Regierungschef*innen wird sich weder das neue Klimaziel, noch der Migrationspakt umsetzen lassen.

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