Dieser Artikel ist der vierte in der vierteiligen Serie „Die EU und Grundrechte in einer multipolaren Welt“

New Challenges: Das gesamte Interview mit Jeremy Shapiro

, von  Benedikt Rößler, Katharina Egle

New Challenges: Das gesamte Interview mit Jeremy Shapiro
Sicherheitsmacht EU? Kommandoübergabe bei der Antipirateriemission vor Somalia. flickr / EU NAVFOR / Lizenz

Jeremy Shapiro ist der Forschungsdirektor des European Council on Foreign Relations. Zuvor war Shapiro Mitarbeiter des Projekts International Order and Strategy am Brookings Institute in Washington DC. Er war Mitglied des politischen Planungsstabs des US-Außenministeriums, wo er den Außenminister in Bezug auf die US-Politik in Nordafrika und der Levante beriet. Zuvor war er leitender Berater des stellvertretenden Außenministers für europäische und eurasische Angelegenheiten Philip Gordon. Sein Fachgebiete umfassen US-Außenpolitik und die transatlantischen Beziehungen.

Jeremy Shapiro ist der Forschungsdirektor des European Council on Foreign Relations. Zuvor war Shapiro Mitarbeiter des Projekts International Order and Strategy am Brookings Institute in Washington DC. Er war Mitglied des politischen Planungsstabs des US-Außenministeriums, wo er den Außenminister in Bezug auf die US-Politik in Nordafrika und der Levante beriet. Zuvor war er leitender Berater des stellvertretenden Außenministers für europäische und eurasische Angelegenheiten Philip Gordon. Sein Fachgebiete umfassen US-Außenpolitik und die transatlantischen Beziehungen.

TPE: Zunächst möchten wir kurz über die Ereignisse des vergangenen Jahres sprechen. Im Januar 2021 haben Sie gemeinsam mit Mark Leonard zehn außenpolitische Trends für 2021 veröffentlicht, in denen Sie vorhersagten, dass die EU ihren Kampf mit Polen und Ungarn verstärken würde. Inwieweit hat sich diese Vorhersage Ihrer Meinung nach bewahrheitet?

Shapiro: *lacht* Jetzt werden meine Vorhersagen gegen mich verwenden. Sehr grausam. *lacht* Ich denke, sie hat sich größtenteils bewahrheitet. Die EU hat ihren Kampf gegen Polen und Ungarn im Bereich der Rechtsstaatlichkeit intensiviert, die Verhandlungen gehen weiter. Die EU hat nicht wirklich den Hammer fallen lassen, aber der Kampf hat sich in diese Richtung bewegt. Er hat noch nicht viel bewirkt, aber ich erwarte, dass dieser Kampf weitergehen wird. Ich glaube nicht, dass die EU aufgibt, denn sie hat mit den Coronavirus recovery funds ein erhebliches Druckmittel in der Hand, und sie hat dies zu einer Bedingung für Fortschritte in der Rechtsstaatlichkeits Frage gemacht. Im Laufe des Jahres hat das polnische Verfassungsgericht ein Urteil gefällt, das besagt, dass man sich nicht an EU-Recht halten muss. Das Problem hat sich also erheblich verschärft, aber ich glaube, dass auch die EU ihren Kampf verstärkt hat.

TPE: Glauben Sie, dass es mit einem Austritt dieser beiden Länder aus der EU enden wird?

Shapiro: Nein, ich glaube nicht, dass es auf einen Austritt aus der EU hinauslaufen wird. Weder Polen noch Ungarn wollen die EU verlassen und es gibt keine Möglichkeit, sie dazu zu zwingen. Und ich glaube, sie sind ganz froh, dass sie diesen Kampf mit der EU für immer führen können. Vielleicht möchte die EU, dass sie austreten, aber das werden sie nicht. In gewisser Weise werden Polen und Ungarn diesen Kampf wahrscheinlich auch gewinnen. Der Kampf wird wahrscheinlich ewig andauern. Die EU wird vielleicht einige finanzielle Mittel zurückhalten, aber sie wird die wichtigsten Instrumente in ihrem Arsenal nie wirklich einsetzen. Und langsam aber sicher wird sich die EU daran gewöhnen, Länder in ihrer Mitte zu haben, die ihre Werte nicht ganz aufrechterhalten, und obwohl der Kampf weitergehen wird, wird ein neues Gleichgewicht gefunden werden, in dem die EU sie grundsätzlich akzeptiert. Man könnte argumentieren, dass dies bereits geschehen ist. Obwohl ich glaube, dass die EU immer noch versucht, die Bedingungen dafür auszuarbeiten, was Akzeptanz bedeutet.

TPE: Glauben Sie, dass interne Veränderungen in der politischen Landschaft in Ungarn und Polen zu einer Lösung dieses Problems führen könnten?

Shapiro: Ich halte das für eine viel bessere Möglichkeit als die, dass die EU diesen Kampf gewinnt. In Ungarn finden im April oder Mai Wahlen statt, bei denen die Opposition eine gewisse Chance hat, zu gewinnen. Ich glaube, in Polen finden die Wahlen erst 2023 statt, aber auch hier ist die Zivilgesellschaft viel stärker als in Ungarn und hat sicherlich die Möglichkeit, die Wahlen zu gewinnen. Es ist natürlich ziemlich ungewiss, aber im Allgemeinen werden nur die innenpolitische Entwicklung und die Frustration über diese Regierungen eine Chance haben, diesen Streit mit der EU zu lösen. Ich glaube nicht, dass die EU diesen Kampf von außen gewinnen kann, im Gegenteil, die EU könnte ihn von außen noch viel schlimmer machen.

TPE: Wir alle wissen, dass dieser interne Angriff auf das Modell der liberalen Demokratie die normative Kraft Europas geschädigt hat. Die hypothetische Frage, die gestellt wird, lautet: "Wie kann die EU ein Leuchtturm der Demokratie sein, wenn sie nicht in der Lage ist, ihre Werte und Versprechen innerhalb der Union zu halten?” Wie sehr, glauben Sie, schadet dieser Angriff auf Menschenrechte und liberale Demokratie der Fähigkeit der EU, als normative Kraft zu agieren?

Shapiro: Ja, überhaupt nicht. Aber der Grund dafür ist, dass die EU nie wirklich die Fähigkeit dazu hatte. Das ist eine Art europäische Einbildung. Die Amerikaner haben diese Einbildung auch, aber sie ist nicht ganz so stark. Ich glaube nicht, dass irgendjemand in der Welt wirklich etwas wegen der normativen Macht der EU getan hat. Natürlich haben die Länder mit der EU über Themen wie Menschenrechte verhandelt und tun es immer noch, aber das hat mit der Macht der EU zu tun. Ihre Macht als Markt, ihre Macht als gelegentlicher Sicherheitsakteur und ihr Verhältnis zu den Vereinigten Staaten, nicht weil sie ein „Leuchtturm der Demokratie“ wäre. Und das ist in meinen Augen eine ziemlich absurde Vorstellung. Das Ausmaß an Zynismus außerhalb Europas, was die europäischen Beweggründe angeht, ist dramatisch. Und das gilt auch für die Vereinigten Staaten. Es gibt nicht wirklich viele Menschen in den Vereinigten Staaten, die denken, “ach wissen Sie, die Europäer schikanieren uns wegen der Todesstrafe, weil sie eine bessere Demokratie als wir sind. Und deshalb sollten wir so sein wie sie.” Das ist, um es milde auszudrücken, keine sehr verbreitete Ansicht. Und ich denke, dass dies in anderen Teilen der Welt noch mehr zutrifft, wo die Vorstellung, dass die EU die Chinesen wegen europäischer Hingabe an die Demokratie bedrängt, eine lächerliche Vorstellung ist.

Ich weiß, dass diese Dinge im Inland ein wenig mehr Macht haben, als das Ausland gesteht. Aber im Großen und Ganzen hat das Ausland mehr Recht als die Europäer. Es ist meist die Staatsraison, die diese Dinge verursacht. Die Tatsache, dass Europa und die europäische Zivilgesellschaft sich wirklich der Demokratie und den Menschenrechten verschrieben haben, ändert manchmal die Mechanismen, die angewendet werden, aber nicht den Grund. Sie sehen also, dass es nicht allzu überraschend ist, dass die EU im Umgang mit Äthiopien sehr viel stärker auf die Menschenrechte setzt als im Umgang mit China oder Saudi-Arabien.

TPE: Glauben Sie, dass sich diese Außensicht auf Europa als nicht unbedingt „Leuchtturm der Demokratie“ in den letzten zwanzig Jahren verstärkt hat, oder glauben Sie, dass sie nie eine normative Kraft hatte?

Shapiro: Ich glaube nicht, dass sie in diesem Sinne eine normative Kraft hatte. Was die EU definitiv hatte und hat, ist ihre Anziehungskraft. Die Menschen schauen sich sowohl die europäische Demokratie als auch die europäische Wirtschaft an und denken: „Da will ich leben, da will ich hin, da will ich mein Geld anlegen.” Das ist sehr stark, und das erklärt die Einwanderungswellen und den Zustrom von ausländischem Geld. Ich glaube, das hat sich in den letzten 20 Jahren etwas abgeschwächt, aber ich denke, es ist immer noch da und stark. Aber ich denke, das ist etwas anderes als das, was Sie unter normativer Macht verstehen, nämlich die Fähigkeit, in die Welt hinauszugehen und zu sagen:“Wir sind eine Demokratie, und wir wollen, dass ihr es auch seid, und so sollt ihr euch verhalten, und wir tun das aufgrund unserer normativen Position in den internationalen Beziehungen.” Ich denke, dass die Leute ihr sehr wenig Anerkennung zollen, und sie haben weitgehend, nicht vollständig, aber weitgehend Recht damit.

TPE: Die Osterweiterung der Europäischen Union in den 00er Jahren war also eher eine Folge des möglichen Marktzugangs als eine normative Kraft, die nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion ein Interesse an diesen Werten geweckt hat?

Shapiro: Ich denke, im Großen und Ganzen ist das richtig. Natürlich gab es in diesen Ländern bestimmte Leute, die daran interessiert waren, dies zu garantieren, aber wenn wir zurückblicken, können wir sehen, dass das Angebot, das diese Länder annahmen, der Zugang zum europäischen Markt war: der Zugang zu der Art von Wohlstand, die damals in Westeuropa herrschte, und es ist ihnen gelungen, durch die Erweiterung Zugang zu erhalten, und je mehr sie davon haben, desto mehr lehnen sie die normativen Aspekte ab. Das ist von Land zu Land unterschiedlich, aber ich würde sagen, dass sich jedes einzelne Land in seinem eigenen normativen Ansatz wohl fühlt. Und keines von ihnen - auch nicht die baltischen Staaten - würde den westeuropäischen normativen Ansatz zu Demokratie und Menschenrechten teilen. Sie sind auch nicht gerade daran interessiert, diese von Brüssel oder Paris zu erhalten. Aber sie befinden sich in einer ähnlichen Situation, was aber eher mit ihrer inneren Entwicklung zu tun hat. Ich glaube, alle diese Länder waren nie wirklich daran interessiert, über einen normativen Rahmen hinauszugehen, auch wenn sie mit dem Beitritt zur EU einiges davon akzeptiert haben.

TPE: Es hört sich an, als seien dies die Folgen einer mangelnden Integration innerhalb der Europäischen Union. Wir sprechen oft von den „Vereinigten Staaten von Europa“, und dass, am Ende des Tages, die Europäische Union ein Bundesstaat werden könnte. In den USA scheint es eine einheitliche normative Kraft zu geben, während es diese in Europa aufgrund mangelnder Integration (noch) nicht gibt?

Shapiro: Es ist schwer zu sagen, dass sich die EU wirklich in diese Richtung bewegen. Die EU ist hartnäckig national. Und selbst wenn man sich in Westeuropa umschaut, sieht man eine Reihe von Ländern, die eine Reihe von Werten teilen und daher keine Probleme haben, miteinander auszukommen, aber dennoch stur national sind. Trotzdem sind sie nicht daran interessiert, sich von Brüssel vorschreiben zu lassen, was diese Werte sein sollen, oder sie von ihren Nachbarn zu übernehmen. Als politische Gemeinschaften definieren sie sich wirklich sehr stark als nationale politische Gemeinschaften, und Europa als ein Außenstehender ist. Man könnte sagen, dass Belgien oder Luxemburg Ausnahmen sind. Belgien hat so wenig nationale Identität und hat wirklich versucht, sich als ein Teil der politischen Gemeinschaft Europas zu definieren. Aber man merkt Belgien an, dass es anders ist als jedes andere Land in Europa. Und in diesem Sinne ist Frankreich näher an Polen als an Belgien - wenn man mit diesem Maßstab misst.

Und die Tatsache, dass Frankreich nicht die Konflikte hat, die Polen mit der EU hat, liegt zum Teil daran, dass die Werte mehr übereinstimmen und zum Teil daran, dass es viel mächtiger ist und die EU es nicht wagt, Frankreich auszuschalten, was die Kämpfe verhindert. Aber wenn man sich Dinge wie das Stabilitätspaket anschaut, wenn man sich anschaut, inwieweit sich Frankreich und andere Länder an die europäischen Vorschriften halten, dann sieht man, dass die EU nicht viel besser oder schlechter dasteht als in Polen. Es ist eine sehr starrsinnige nationale Gemeinschaft, die eine instrumentelle Sichtweise auf die EU hat. Es gibt ein Spektrum, an dessen einem Ende Belgien steht und am anderen Polen, aber die meisten Länder sind näher an Polen als an Europa.

TPE: Nach dem Abzug der westlichen Truppen aus Afghanistan und dem Sturz der afghanischen Regierung im August haben Sie einen Beitrag darüber verfasst, was dieser schnelle und chaotische Abzug für die europäischen Verbündeten der USAbedeutet. In Ihrer Analyse stellen Sie fest, dass es „an der Zeit ist, aufzuwachen und den post-amerikanischen Kaffee zu riechen“, denn die USA sind zu einem normalen Land geworden, was bedeutet, dass sie nur dann kooperieren, wenn ihre vitalen Interessen auf dem Spiel stehen. Welches sind Ihrer Meinung nach die vitalen Interessen, bei denen die EU und die USA jetzt und in Zukunft zusammenarbeiten könnten?

Shapiro: Es gibt eine ganze Reihe von Themen, bei denen sie zusammenarbeiten können. Ich denke, dass China aus amerikanischer Sicht ein wichtiges Thema ist, bei dem die USA das Gefühl haben, dass sie die Zusammenarbeit mit Europa benötigen - Zumindest was den wirtschaftlichen Kampf angeht. Und die Europäer scheinen dem zuzustimmen. Die Modalitäten für diese Zusammenarbeit sind recht schwierig. Aber wenn man sich ansieht, was sie im Handels- und Technologierat auf die Beine gestellt haben, sieht das nach einer langen, schwierigen Agenda für die Zusammenarbeit im geo-ökonomischen Kampf gegen China aus.

Aber ich denke, es gibt noch eine ganze Reihe anderer Themen, bei denen sie zusammenarbeiten können und dies auch tun: das Klima zum Beispiel. Und bis zu einem gewissen Grad auch in Russland, aber das wird immer schwieriger. Ich denke, dass sie in Afrika etwas kooperieren werden, was mit den chinesischen und bis zu einem gewissen Grad auch mit den russischen Problemen dort zu tun hat. Was ich damit sagen will, ist nicht, dass die Zusammenarbeit nicht fortgesetzt werden kann. Aber wenn sie fortbestehen soll, muss sie ausgewogener sein. Und sie muss die Rolle der USA mehr als die eines normalen Landes betrachten. Ein Land, das die Zusammenarbeit sucht, um seine Kapazitäten zu erweitern, um sein nationales Ziel zu verwirklichen - das ist der normale Weg der Zusammenarbeit in den internationalen Beziehungen. Die hegemoniale Rolle der USA in den letzten Jahrzehnten hat zu einer etwas anomalen Situation geführt, die sowohl in den USA als auch in Europa aus dem Gleichgewicht geraten ist. Es gab die Vorstellung, dass die USA die Sicherheit für Europa und den Nahen Osten in einer Weise gewährleisten, die - in der Sprache der Hegemonialmacht - auf die Bereitstellung öffentlicher Güter abzielt. Im Grunde genommen ging es um das öffentliche Gut der Stabilität in Osteuropa und das öffentliche Gut der Stabilität im Nahen Osten, was sie zum Teil für sich selbst taten, aber vor allem für die Welt, weil es niemand anderes tat und weil niemand die Macht dazu hatten.

Und diese Art von Dingen - oder was das Ende in Afghanistan angeht - ist ein Signal, denn im Grunde genommen war die Theorie, dass die USA sich in Afghanistan engagierten, natürlich wegen 9/11 aber auch um einen Staat zu errichten. Sie sind nicht um ihrer selbst willen dort, sondern um die regionale Stabilität zu sichern. Und mit der Zeit hat man sich gefragt, warum wir uns um regionale Stabilität in einer Region bemühen, in der wir nicht sind - wir haben unser Terrorismusproblem gelöst. Wir haben dieses schreckliche Problem gelöst. Und trotzdem kämpfen wir immer noch in Afghanistan. Und wenn es für andere wichtig ist, dann sollten die Anderen dies tun. Und wenn es nicht wichtig ist, dann können sie es aus dem Ruder laufen lassen. Dieses Experiment machen sie gerade in Afghanistan. Ich denke, dass die USA wirklich keine andere Wahl hatten, als dies zu tun. Es ist ein Vorbote für die Art und Weise, wie die USA beispielsweise mit Russland umgehen werden: Sie haben andere geopolitische Prioritäten als Russland, vor allem China.

Es geht um die Vorstellung, dass die USA die Sicherheit für die reichsten und mächtigsten Staaten der Welt in Westeuropa gegen Russland gewährleisten, obwohl diese Länder es selbst tun könnten - und obwohl es sie viel mehr angehen sollte als die Vereinigten Staaten. Ich denke, das ist auf lange Sicht einfach nicht vertretbar. Was sie anstreben, ist meiner Meinung nach eine verantwortungsvolle Neugewichtung der transatlantischen Beziehungen, die durchaus möglich ist. Die europäische Souveränitätsbewegung, wie auch immer man sie nennen will, könnte ein wichtiger Teil davon sein. Aber es muss geschehen. Und wenn es nicht auf verantwortungsvolle Weise geschieht, wird es auf unverantwortliche Weise geschehen.



Außen- und Sicherheitspolitikexperte Jeremy Shapiro. Foto: ECFR / ECFR / Lizenz


TPE: Sie haben gerade die militärischen Beziehungen angesprochen, insbesondere für Europa die Beziehung zu den USA. Ein großer Teil der militärischen Fähigkeiten der EU beruht darauf, dass sie Teil der NATO ist und im Wesentlichen von den USA geschützt wird. Nun tendieren die USA tendieren, sich aus Europa zurückzuziehen. Können wir erwarten, dass die Europäische Union über eine weitere Integration und die Bereiche der Außen- und Sicherheitspolitik nachdenkt? Und wie würde sich das wiederum auf die Verbreitung von Menschenrechten oder die Propagierung von Menschenrechten durch die EU und die Stellung der EU als normativer Akteur auswirken?

Shapiro: Die EU bezieht ihre militärische Macht nicht nur aus der Mitgliedschaft in der NATO. Vielleicht hat die Mitgliedschaft in der NATO einen sicherheitspolitischen Vorteil, nämlich den, dass sie versucht, die Vereinigten Staaten einzubinden. Ich gebe zu, das ist ein etwas pedantischer Punkt. Aber ich denke, es ist ein bisschen wichtig, weil es zeigt, dass die Mitgliedstaaten der Europäischen Union wie die Mitgliedstaaten der NATO heute über eigene militärische Fähigkeiten verfügen, die bereits ziemlich umfangreich sind - aber wahrscheinlich noch umfangreicher werden müssen. Aber es ist nicht so, dass diese militärischen Fähigkeiten Teil der NATO sind. Es sind ihre eigenen, die sie der NATO zur Verfügung stellen und die sie der EU zur Verfügung stellen können und auch tun. Es geht also nicht darum, europäische Fähigkeiten zu schaffen. Es geht vielmehr um die Pflege der europäischen Fähigkeiten und um die Frage, wie man diese Fähigkeiten in etwas integrieren kann, das auf europäischer Ebene nutzbar ist. Nutzt die EU die NATO? Nutzt die NATO, die EU? Oder nutzt man Ad-hoc-Gruppierungen? Ich glaube, dass die Europäer in den kommenden Jahren sowohl ihre Fähigkeiten auf nationaler Ebene als auch ihre Fähigkeiten zur Organisation und Integration dieser Fähigkeiten auf verschiedene Weise verbessern müssen: Durch die NATO, durch die EU und durch Ad-hoc-Gruppierungen. Und ich denke, dass alle drei Möglichkeiten weiterhin von Bedeutung sein werden. Ich glaube nur, dass die NATO-Option etwas an Bedeutung verlieren wird, weil ihr Hauptzweck darin besteht, die Amerikaner einzubinden, und das wird immer schwieriger werden. Aber ich glaube, dass man die Amerikaner immer noch für verschiedene Dinge einbeziehen kann, und die NATO wird dafür weiterhin nützlich sein. Außerdem ist die NATO ein ziemlich nützlicher Mechanismus für die Integration ausschließlich europäischer Fähigkeiten.

Wenn man sie von Grund auf neu schaffen würde, würde man die NATO wahrscheinlich nicht gründen, aber es gibt sie. Und sie ist ziemlich beeindruckend. Als ständiges Militärbündnis ist sie in der Geschichte der Welt recht ungewöhnlich und ziemlich nützlich. Ich denke, es kann auch dann recht nützlich sein, wenn die Amerikaner eine geringere Rolle spielen. Aber ich glaube nicht, dass dies andere Arten von integrativen Zusammenschlüssen, einschließlich der EU, ausschließt. Ich weiß, dass die Leute sich viele Sorgen über Doppelarbeit machen. Es geht hier nicht um die Dinge, deren Duplizierung teuer ist. Wir sprechen nicht von einer Verdoppelung der Kräfte. Wir sprechen davon, dass wir die Art und Weise, wie wir sie organisieren, duplizieren. Und das ist mit einigen Kosten verbunden. Aber es könnte sich durchaus lohnen und bezahlbar sein. Ich denke, dass die EU ihre Integrationsfähigkeit für militärische Streitkräfte deutlich erhöht und in den letzten Jahren - *lach* für EU-Verhältnisse - einiges getan hat, was PESCO, den EEF und einige andere Mechanismen angeht. Natürlich liegt noch ein langer Weg vor uns, aber es ist ein guter Anfang.

Ich denke, dass die Europäer mehr Möglichkeiten an der Ad-hoc-Front haben, wo sie Koalitionen der Willigen zwischen Mitgliedstaaten bilden, die an einer bestimmten Frage interessiert und bereit sind. Ich denke, dass die Plattformen sowohl der NATO als auch der EU als Mechanismen dienen können, um sicherzustellen, dass solche Dinge möglich sind, denn sie können die Interoperabilität sicherstellen, sie können Gewohnheiten der Zusammenarbeit schaffen und sie können Mechanismen schaffen, an die die Menschen gewöhnt sind und die dann in Ad-hoc-Koalitionen übernommen werden können. Das könnte die Zukunft der europäischen Verteidigungszusammenarbeit sein, aber ich bin mir da nicht sicher. Und zweitens würde ich sagen, dass, selbst wenn ich Recht habe, alle drei Mechanismen fortbestehen werden und sollten. Sie wird nur nie auf kartesische Weise organisiert werden. Und ich denke, das ist in Ordnung.

TPE: Nur eine kurze Folgefrage: Glauben Sie, dass eine Verstärkung des militärischen Engagements Europas sich auf die Rolle Europas als anspruchsvolle normative Macht in der Welt auswirken würde? Würde eine Verstärkung des militärischen Engagements der EU bedeuten, dass sie an Einfluss gewinnt?

Shapiro: Sie wird an Einfluss gewinnen, wenn sie ihre militärischen Fähigkeiten ausbaut. Das führt zurück zu unserer ursprünglichen, früheren Diskussion darüber, ob sie jemals eine normative Macht waren. Aber sie werden an Einfluss gewinnen, wenn sie ihre militärische Macht ausbauen. Wofür sie diesen Einfluss nutzen, ist eine andere Frage. Ich glaube nicht, dass sie ihn in großem Umfang für normative Zwecke nutzen werden, und ich glaube auch nicht, dass sie dabei sehr erfolgreich sein würden, wenn sie es versuchten. Aber ich denke, sie werden an Einfluss gewinnen.

TPE: Unsere letzte Frage richtet sich gen Zukunft und Ihr Wahrsager Talent. Könnten Sie uns eine Vorhersage darüber geben, worauf wir uns in der EU konzentrieren müssen, um eine internationale Position von geopolitischer Bedeutung zu erlangen oder vielleicht sogar wiederzuerlangen?

Shapiro: Kurz vor diesem Anruf habe ich an unseren Vorhersagen für 2022 gearbeitet. Wenn Sie also irgendwelche Vorhersagen haben, wäre das sehr hilfreich *lacht*. Ich habe auch versucht, uns selbst zu bewerten und die Noten für das letzte Jahr gegeben. Ich habe so getan, als ob wir sehr gut abgeschnitten hätten und das ist definitiv der Vorteil, wenn man sich selbst benotet.

Was ich jetzt sagen werde ist jedoch keine Vorhersage an sich, denn Sie fragen sozusagen: Was muss die EU tun? Ich glaube wirklich, dass etwas geschafft werden wird, aber es ist ganz klar, dass eine einheitliche Entscheidungsfindung absolut zentral für die Fähigkeit der EU ist, geopolitischen Einfluss geltend zu machen. Und das ist derzeit ihre größte Schwäche - das ist kein Geheimnis. Diese Hauptschwäche besteht darin, dass die EU nicht annähernd so einheitlich ist wie andere geopolitische Akteure - China, die USA oder Russland. Sie sind kein Land. Sie sind einheitlicher als andere Ländergruppen, aber sie sind immer noch eine Gruppe von Ländern. Das macht sich wirklich bemerkbar. Es lässt sich darüber streiten, ob das überhaupt ein Problem ist. Aber wenn man wollte, dass es geopolitische Bedeutung erlangt, müsste man sich damit auseinandersetzen. Da die Welt geopolitisch immer wettbewerbsfähiger wird, wird die EU mehr geopolitische Bedeutung erlangen wollen. In diesem Sinne waren die größten Förderer einer geopolitischen Rolle der EU in den letzten fünf Jahren Wladimir Putin, Donald Trump und die Impulse, die von diesen beiden ausgingen - in Zukunft sicherlich Putin selbst und vielleicht wieder Donald Trump, aber wenn nicht Donald Trump, dann jemand ähnliches.

TPE: Würden Sie diese These erläutern?

Shapiro: All diese Leute schaffen tagtäglich mehr und mehr Anreize für die EU, sich so auszurichten, dass sie ihren geopolitischen Einfluss geltend macht. Und das ist im Wesentlichen der Ursprung der Souveränitäts Bewegung. Sie entspringt nicht einer Art Ideologie in irgendeinem EU-Mitgliedstaat. Sie entspringt der wachsenden Einsicht einer Notwendigkeit und der Tatsache, dass Mitgliedstaaten zwar viele negative Aspekte im Hinblick auf ihre eigene nationale Unabhängigkeit sehen aber langsam setzt sich die Erkenntnis durch, dass tiefere Integration geschehen muss. Und ich glaube, dass es in den letzten Jahren in dieser Hinsicht Fortschritte gegeben hat. Ich meine, es ist kein Zufall, dass diese europäische Kommission gekommen ist und gesagt hat: “Wir wollen eine geopolitische Kommission sein.” Und sie haben versucht, das zu leben - sie hatten einige Erfolge und einige Misserfolge.

Ich glaube, dass die Dinge erst schlechter werden müssen, bevor sie besser werden können. Wenn es zum Beispiel im Februar zu einer russischen Invasion in der Ukraine kommt, wie von vielen erwartet, dann wird das ein wichtiger Anstoß für eine EU sein, die institutionellen Mechanismen für eine einheitliche Vertretung und einheitliche Positionen zu nutzen. Ich denke, wenn sich die Welt im nächsten Jahr wie durch ein Wunder zum Besseren wenden würde, würde diese Integrations Bewegung in Europa auseinanderfallen. Da ich aber mit einer Verschlechterung der Lage rechne, wird sie zunehmen. Die Frage ist, ob die EU zu weit hinter der Kurve zurückbleiben wird, um wirklich zu reagieren. Jedoch ist ein faszinierender Vorbote für diese Bewegung, die Reaktion der EU auf die Flüchtlingskrise in Belarus. Und etwas weniger beachtet, aber trotzdem bezeichnend: die Reaktion auf eine ähnliche Flüchtlingskrise mit der Türkei im Jahr 2019. Ende 2019 wurde die EU von der Coronavirus-Krise, die nur ein paar Monate später auftrat, ein wenig überrollt. Aber was man in diesen beiden Fällen gesehen hat, war etwas ganz anderes als das, was man 2015 gesehen hat, nämlich dass die gesamte EU erkannt hat, dass beiden Vorfälle geopolitische Bemühungen waren. Sie erkannten, dass der Grund, warum diese Bemühungen funktionieren könnten, darin liegt, dass Migrant*innen und Flüchtlinge einen großen Einfluss auf die Innenpolitik haben. Die meisten Länder in der EU waren bereit, recht unangenehme geopolitische Mittel einzusetzen. Auf eine stille Art und Weise. Sie trompeten nicht damit, dass sie dies taten, aber sie taten es, um diesen Zwang zu durchbrechen. Und in beiden Fällen haben sie diesen Zwang durchbrochen.

Dabei verletzten sie eine Menge ihrer normativen Werte. Sie unterstützten eine polnische Regierung, die, wie ich meine, eine geopolitisch kluge, aber grausame Politik an dieser Grenze verfolgte. Sie haben nicht wirklich etwas unternommen, um das zu verhindern. Im Jahr 2015 hingegen hätten sie das sicherlich getan. Und aus geopolitischer Sicht hat es funktioniert - aus normativer Sicht war es eine kleine Katastrophe. Das ist also die Art von Fähigkeit, die die EU erwirbt. Sie erwirbt die Fähigkeit, geopolitischer, effektiver und grausamer zu sein. Und das ist wahrscheinlich auch notwendig. Aber es ist ziemlich traurig, und zwar auf eine gewisse Weise: Ich will nicht dafür plädieren, dass sie etwas dagegen tun, aber es ist traurig, dass die Welt so weit gekommen ist. Ich glaube nicht, dass sie wirklich eine Wahl hatten. Ich glaube nicht, dass es wirklich politisch oder geopolitisch vertretbar war, diese Art von Zwang fortzusetzen. Ich denke, das zeigt, wozu die EU fähig ist und in welche Richtung sie geht, aber es ist klar, dass sie noch einen langen Weg vor sich hat.

TPE: Vielen Dank, Jeremy, dass Sie sich die Zeit genommen haben.

Dieser Artikel ist der vierte Teil in der vierteiligen Serie „Die EU und Grundrechte in einer multipolaren Welt“ im Rahmen unseres Themenschwerpunkts EuroRights

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