Sie wurde schon erwartet - und sie hat nicht enttäuscht. Am Mittwoch, den 27. Mai, hat die Europäische Kommission ihren Vorschlag für eine Fiskalpolitik vorgestellt, die wirtschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie und der mehr oder weniger drastischen Eindämmungsmaßnahmen der begrenzen soll.
Vor einem (aufgrund der Social Distancing-Regeln) äußerst spärlich besetzten Plenarsaal des Europäischen Parlaments stellte die Präsidentin der Europäischen Kommission Ursula von der Leyen die Strategie vor. Seit dem Treffen des Europäischen Rats am 23. April sollte die EU-Exekutive an diesem arbeiten, da sich die Mitgliedstaaten nicht einigen konnten. Ursprünglich für Anfang Mai angekündigt wurde die Präsentation der Strategie mehrmals verschoben, um letzte Details zu klären. Nach Angaben der französischen Tageszeitung Le Monde wurde auch den Kommissar*innen der vollständige Plan erst wenige Minuten vor dem Betreten des Saals mitgeteilt.
Gemeinsame Schulden und ein umgestaltetes Budget
In ihrer 18-seitigen Mitteilung fasste die Europäische Kommission die Grundzüge einer Strategie zusammen, die von vielen Beobachter*innen als historisch angesehen wird. Unter dem Titel „Next Generation EU“ sieht der Plan vor, dass die Kommission 750 Milliarden Euro auf den Finanzmärkten aufnimmt, die über einen Zeitraum von drei Jahren zwischen 2021 und 2024 ausgegeben werden sollen. 500 Milliarden würden in Form von Subventionen für Regionen und Wirtschaftssektoren verwendet, die vom Coronavirus schwer betroffen sind. So hatte es zuvor auch der von Angela Merkel und Emmanuel Macron vorgestellte deutsch-französische Plan befürwortet. Die restlichen 250 Milliarden würden in Form von konventionellen Krediten verteilt und müssten von den Empfängerländern zurückgezahlt werden. Aufgrund einer Verteilung, die sich an den Auswirkungen von Covid-19 orientiert, werden die am stärksten betroffenen Länder, allen voran Italien und Spanien, die ersten Nutznießer*innen dieses Finanzrahmens sein - ein konkretes Beispiel für die Solidarität, die der Plan mit sich bringt.
Die Strategie würde auch in den nächsten mehrjährigen Finanzrahmen (MFR), den europäischen Haushalt, für 2021-2027 aufgenommen werden. Ursula von der Leyen kündigte an, dass dieser Betrag auf 1100 Milliarden Euro über sieben Jahre erhöht werden solle - zusätzlich zu den Geldern, die gegen das Coronavirus mobilisiert wurden. Das entspricht etwa 1,1 Prozent des europäischen Bruttoinlandsprodukts nach dem Brexit. Insgesamt würde sich der MFR auf 1850 Milliarden Euro belaufen, von denen etwa die Hälfte, 900 Milliarden Euro, in den ersten drei Jahren ausgegeben werden soll.
Trotz des Widerstands einiger nordeuropäischer Länder greift die Europäische Kommission damit die beiden wichtigsten Neuerungen des deutsch-französischen Plans von letzter Woche auf: sowohl die teilweise Zusammenlegung von Schulden als auch die Haushaltssolidarität in Form von Transfers. Obwohl es nicht das erste Mal ist, dass die Brüsseler Institution im Namen der Mitgliedstaaten Kredite aufnimmt, ist die Summe beispiellos: Da die EU ein sehr gutes Finanzrating hat, kann sie Kredite zu sehr niedrigen oder sogar negativen Zinssätzen aufnehmen. Die 500 Milliarden an Haushaltsmitteln stellen aber einen Präzedenzfall dar und lassen auf die künftige Bildung einer sogenannten Transferunion hoffen, die für die Gewährleistung des Zusammenhalts der europäischen Volkswirtschaften und Gebiete unerlässlich ist. Der Aufbau einer Transferunion würde bedeuten, dass die EU-Mitglieder sich zu einem regelmäßigen Finanzausgleich untereinander verpflichten.
Die im Plan enthaltenen 750 Milliarden Euro kämen zu den 540 Milliarden Euro hinzu, die Anfang April von der Eurogruppe mobilisiert wurden, sowie zu den 1.000 Milliarden Euro des Ende März angekündigten Rückkaufplans der Europäischen Zentralbank (EZB) für öffentliche Anleihen. Damit würde die EU 2290 Milliarden Euro zur Verfügung stellen, um die europäische Wirtschaft wieder in Schwung zu bringen - nationale Pläne und von der Kommission genehmigte staatliche Beihilfen in Höhe von mehreren tausend Milliarden Euro nicht mitgerechnet.
Cross-Compliance im Mittelpunkt des Plans der Kommission
All dies soll im Dienste der Wirtschaft der Zukunft stehen - insbesondere der grünen und der digitalen Umstellung. Präsidentin von der Leyen bestand darauf, dass jede Generation von Europäer*innen ihren „Moment“ habe. Von der Schaffung des Friedens bis zur großen Erweiterung in den 2000er Jahren über die Errichtung des Binnenmarktes bis zur einheitlichen Währung. „Unser Moment“ sei der, den wir den zukünftigen Generationen schulden würden, indem wir ihnen eine neutrale und digitalisierte Wirtschaft hinterließen. In diesem Sinne sei das Konjunkturprogramm sowohl Teil des Green Deals als auch Teil der Unterstützung der digitalen Wirtschaft.
Angesichts der Höhe der zugesagten Beträge hielt die Kommission es für notwendig, die Auszahlung der Gelder an die Erfüllung wirtschaftlicher und demokratischer Bedingungen zu knüpfen. Die Länder, die in den Genuss der Zuschüsse kommen, müssen daher Investitions- und Reformpläne aufstellen, die den Prioritäten der Kommission hinsichtlich des grünen und digitalen Übergangs, aber auch der wirtschaftlichen Souveränität im Gesundheitsbereich entsprechen. Jedes Jahr wird die Kommission Empfehlungen über die Verwendung der Mittel aussprechen. Darüber hinaus wird der Achtung der Rechtsstaatlichkeit besondere Aufmerksamkeit geschenkt.
Mit Ausnahme der europäischen Grünen unterstützten alle im Plenarsaal anwesenden Fraktionsvorsitzenden den Vorschlag von der Leyens. Die Maßnahme erscheint notwendig, weil der Kommission in diesem Punkt rechtlich die Hände gebunden sind. Mit dem Vorschlag der Konditionalität, also der Kopplung von Finanzhilfen an das Einhalten bestimmter Prinzipien, bewaffnet sich die europäische Exekutive zudem mit einem nicht unerheblichen Werkzeug für den Erhalt der Werte der Union.
Europäischer Haushalt: der Kampf der Eigenmittel
Es gibt jedoch keine Garantie dafür, dass die politischen Errungenschaften des Plans aufrechterhalten werden. Als Antwort auf eine Frage des Journalisten Christian Spillmann zur möglichen Schaffung eines europäischen Schatzamtes lehnte die Kommissionspräsidentin die Idee (oder zumindest Spillmanns Formulierung) ab, um die „genügsamen“ Länder zu beruhigen. Für Ursula von der Leyen ist „Next Generation EU“ ein „einmaliger“ Plan, der nur gilt, bis die wirtschaftlichen Folgen der Krise überwunden sind. Mit diesem Mechanismus beabsichtigt die Kommission, die widerstrebenden Staaten zu überzeugen. Diese 750 Milliarden müssen in der Tat zwischen 2028 und 2058 zurückgezahlt werden, wahrscheinlich durch Beiträge der Staaten an den europäischen Haushalt für Subventionen sowie durch direkte Rückzahlungen für Darlehen.
Eigenmittel wären dabei eine Lösung, um mehr Geld zur Verfügung zu haben, ohne die Beiträge der Mitgliedstaaten zu erhöhen. Gegenwärtig machen sie weniger als 20 Prozent des Gesamtbudgets aus (hauptsächlich in Form von Zöllen und Mehrwertsteuer) und sind auf 1,2 Prozent des jeweils nationalen Bruttonationaleinkommens begrenzt. Die Kommission schlägt vor, diese Obergrenze auf 2 Prozent anzuheben, damit sie ihre eigenen finanziellen Hebel in Bewegung setzen kann, wie zum Beispiel eine CO2-Steuer - ein Vorschlag, der bereits im Rahmen des Green Deal gemacht wurde - oder eine sogenannte „GAFAM-Steuer“ für digitale Giganten.
Schwierige Verhandlungen stehen bevor
„Die Verhandlungen werden schwierig sein“, waren die Worte von Angela Merkel nach der Rede von der Leyens. Und das aus gutem Grund: Der nächste EU-Gipfel findet am 18. und 19. Juni statt und wird sich mit dem Budget in der „erhöhten“ Version befassen. Bereits im vergangenen Februar waren die Diskussionen zum Stillstand gekommen: Die „vier Sparsamen“, Österreich, Schweden, Dänemark und den Niederlanden, hielten dagegen, damals mit deutscher Unterstützung. Ihr Ziel war es, den EU-Haushalt unter 1 Prozent des Bruttonationaleinkommens der Union zu halten. Mit dem aktuellen Vorschlag würde der MFR kaum mehr als 1,1 Prozent betragen, womit die Forderung der Sparsamen fast erfüllt wäre.
„Next Generation EU“ würde jedoch zumindest in den ersten Jahren eine Erhöhung des EU-Haushalts ermöglichen. Das wäre ein guter Weg, um das „Nein“ der Sparsamen zu umgehen. Angesichts dessen werde es für die vier schwierig sein, sich einem Ende des Neins zu widersetzen. Sie müssten die Verantwortung dafür übernehmen, dass das europäische Projekt ins Stocken gerät oder gar zerstört würde. Vermutlich werden sie nicht alle Bedingungen des Plans akzeptieren, aber sie werden nicht in der Lage sein, sich seinem eigentlichen Wesen entgegenzustellen: dem Prinzip der Solidarität. Der österreichische Premierminister scheint das verstanden zu haben, da er schnell erklärte, dass der Plan sehr wohl „der Ausgangspunkt“ für die Verhandlungen sei.
Ein großer Moment auf dem Weg zu einem föderalen Europa?
Als in der vergangenen Woche der deutsch-französische Plan vorgestellt wurde, der den Weg für gemeinsame, europäische Schulden ebnete, sprachen die Medien, insbesondere die angelsächsischen Medien, von einem „Hamilton’schen“ Moment für die EU. Sie bezogen sich dabei auf Alexander Hamilton, dem es Ende des 18. Jahrhunderts gelang, den US-Kongress davon zu überzeugen, eine Staatsverschuldung zu erlassen, die eine Voraussetzung für die Föderalisierung der Vereinigten Staaten und damit für ihre Nachhaltigkeit war.
Wird die Coronavirus-Krise eine Gelegenheit bieten, die europäischen Institutionen in Richtung einer stärkeren Integration zu stärken? Einer der Schlüssel ist eine größere Autonomie gegenüber den Mitgliedstaaten, sowohl durch ein Europäisches Parlament, das vollständig in die europäischen Entscheidungen eingebunden ist, als auch durch die schrittweise Abschaffung der Einstimmigkeitsregel, insbesondere bei der Abstimmung über den Haushalt. Trotz des Umfangs der noch zu bewältigenden Aufgabe lässt der Ehrgeiz der von Frankreich, Deutschland und der Europäischen Kommission vorgeschlagenen Pläne damit die Hoffnung auf einen Hamilton-Sprung in Richtung eines föderalen Europas aufkommen.
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