Keine sechs Stunden nach Verkündung des Freispruchs im Februar 2020 erhob die Istanbuler Staatsanwaltschaft bereits eine erneute Anklage gegen den gerade erst freigesprochenen Kavala. In der neuen Anklage wird ihm die Beteiligung an dem gescheiterten Putschversuch gegen die türkische Regierung unter Staatspräsident Recep Tayip Erdoğan im Juli 2016 vorgeworfen. Als die erneute Festnahme für ihn angeordnet wurde, hatte sich Kavala noch nicht auf freiem Fuß befunden. Der Gezi-Prozess wurde gegen sechzehn Angeklagte geführt, unter ihnen die bekannte Architektin Mücella Yapıcı, der Anwalt Can Atalay und der im deutschen Exil lebende Journalist Can Dündar. Gemeinsam mit Kavala wurden am 18. Februar 2020 acht andere Angeklagte freigesprochen, der Prozess der weiteren sieben Angeklagten wurde separat verhandelt, da diese sich während des Prozesses im Ausland befanden. Nach ihnen wird weiterhin per Haftbefehl geahndet.
Osman Kavala ist türkischer Unternehmer, Verleger, Kunst- und Kulturförderer und Menschenrechtler. Seit mehr als zwei Jahren ist er vor allem politischer Gefangener. Kavala studierte Management und Wirtschaftswissenschaften in Ankara und Manchester. Nach dem Tod seines Vaters kehrte er nach Istanbul zurück und übernahm das Familienunternehmen Kavala Group. Zudem ist er Mitbegründer des Iletisim Verlagshauses, das insbesondere demokratische Werke veröffentlicht. Er investiert regelmäßig sein Vermögen in gesellschaftliche Projekte, wie das türkisch-armenische Jugend-Symphonieorchester.
Gezi-Park Proteste werden Kavala zum Verhängnis
Die Gezi-Proteste im Sommer 2013 stellten sich ursprünglich gegen die Pläne der Regierung, ein Einkaufszentrum zu errichten und damit sämtliche Bäume zu fällen. Im weiteren Verlauf wandelten sich diese jedoch in eine Forderung nach Meinungs- und Versammlungsfreiheit um. Kavala unterstütze die Demonstrant*innen mit Lebensmitteln und Sitzgelegenheiten. Aus diesem Grund wurde ihm seitens der Staatsanwaltschaft eine Verschwörung zum Sturz der Regierung unterstellt. Am 18. Oktober 2017 wurde er ohne Nennung offizieller Gründe festgenommen und saß seitdem in Untersuchungshaft. Erst im März 2019 legte die Staatsanwaltschaft Anklage vor: Kavala sei Organisator der Proteste am Gezi-Park gewesen. Im Rahmen der Anklage wurde Kavala zudem vorgeworfen, an dem Staatsstreich 2016 beteiligt gewesen zu sein. Die Organisation der Gezi-Proteste konnte ihm allerdings nicht eindeutig nachgewiesen werden, weshalb er und acht andere Angeklagte im Februar 2020 freigesprochen wurden.
Untersuchung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte
Die Anklage gegen Kavala und die damit verbundene Untersuchungshaft führten auch zu einer Untersuchung des Falls durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR). Dieser forderte bereits im Dezember 2019 die Freilassung von Kavala. Der EGMR warf dem türkischen Gericht vor, dass die Haft lediglich den Nutzen habe, Kavala und andere Menschrechtler*innen zum Schweigen zu bringen. Der Europäische Gerichtshof ist der Ansicht, dass die Regierung alle notwendigen Maßnahmen ergreifen müsse, um die Inhaftierung des Antragstellers zu beenden und seine sofortige Freilassung sicherzustellen. Der ehemalige Vorsitzende der Instanbuler Anwaltskammer Turgut Kazan und der türkische Medienanwalt Fikret İlkiz äußerten gegenüber der taz, dass Kavala, dem Urteil der EGMR folgend, umgehend aus der Haft entlassen werden müsse. Erdogan ignorierte allerdings schon in der Vergangenheit Beschlüsse aus Straßburg.
Der Fall Kavala spaltet die türkische Gesellschaft
Nach der angekündigten Freilassung Kavalas durch ein türkisches Gericht warteten dutzende Unterstützer*innen vergeblich vor dem Gefängnis auf ihn. Enttäuscht wurden sie durch Bekanntwerden seiner Wiederverhaftung wegen Kavalas vermeintlicher Beteiligung am Staatsstreich 2016.
Neben dieser Pro-Kavala-Bewegung bildete sich am Abend nach der erneuten Verhaftung auch eine Contra-Kavala Seite ab, angeführt durch den Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan. Er verkündete vor seiner Fraktion der AKP (türkisch für: Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung), die Taten Kavalas (Proteste am Gezi-Park und Staatsstreich) seien „ein niederträchtiger Angriff auf Staat und Volk“.
Mithat Sancar, Mitglied der oppositionellen prokurdischen HDP und stellvertretender Parlamentspräsident, bezeichnete den Umgang mit Kavala als Machtkampf zwischen der türkischen Führung und der Justiz. Sancar sieht hier einen Konflikt zwischen denen, die sich eine demokratische Türkei wünschen, die mit anderen Staaten kooperiert und denen, die einen autoritär geregelten Staat wollen und eine von anderen Staaten unabhängige Türkei herbeisehnen. Als Zeichen dafür kann beispielsweise auch der Umgang mit den Richter*innen aus dem Gezi-Prozess einen Tag nach dem Freispruch gesehen werden. DIE ZEIT berichtete, dass gegen diese Richter*innen, die auf Grund von fehlenden Beweismitteln Kavala und die anderen Angeklagten freisprachen, jetzt durch den Rat der Richter*innen und Staatsanwält*innen ermittelt wird.
#FreeOsmanKavala: Engagement türkischer Kulturschaffende
Kavala stand in der türkischen Kulturszene vor allem dafür, dass „Konflikte gelöst und Gesellschaften durch den Austausch von Kunst und Kultur einander näherkommen können“, so Zareh Altıntaş* im Gespräch mit treffpunkteuropa.de, die sich selber als Kollegin von Osman Kavala sieht. Altıntaş berichtet, dass ein öffentlicher Protest für die Freilassung von Kavala kurz vor der Re-Inhaftierung, während der Eröffnungswoche der Istanbul Biennial im letzten September stattfand. Die Istanbul Biennial ist eine Kunstausstellung, die alle zwei Jahre in Istanbul stattfindet und als Höhepunkt des Jahres für Istanbuls Kunst- und Kulturszene gilt. Im Rahmen dieses Ereignisses wurde eine Schablonenwerkstatt aufgebaut, in der Künstler*innen T-Shirts und Tragetaschen mit „FreeOsmanKavala“-Schablonen anfertigten, berichtet Altıntaş. Diese Taschen und T-Shirts wurden an verschiedenen öffentlichen Plätzen getragen und auf einzelnen Eröffnungsveranstaltungen der Kunstausstellungen riefen die Mengen „Free Osman Kavala“. Zu weiteren großen Protestaktionen kam es allerdings nicht, da „die meisten öffentlichen Proteste entweder verboten oder durch Tränengas und Polizeigewalt unterbrochen“ wurden.
Allerdings gab es auch in der Kunst- und Kulturszene Istanbuls Schweigen von Institutionen, wie der Istanbuler Stiftung für Kultur und Kunst (IKSV), das Arter Museum und die Vehbi Koç Stiftung. Nach Informationen von ArtAsiaPacific, einem australischen Magazin für kontemporäre Kunst und künstlerischen Protest, sei dieses Schweigen aber nicht auf fehlende Unterstützung zurückzuführen, denn viele Mitarbeiter*innen seien Unterstützer*innen seiner Initiativen und eng mit Kavala befreundet. Ihr Schweigen beruhe auf der Angst, zur Zielscheibe der Regierung zu werden. Organisationen, wie die IKSV haben seit Jahren eine angespannte Beziehung zu der Regierung bezüglich der Genehmigungen von Veranstaltungen oder der Nutzung öffentlicher Räume.
Kulturelle Unterstützung aus dem Gefängnis
Altıntaş sieht die Wirkungskraft von Osman Kavala als Kernfigur der türkischen Kunst- und Kulturszene durch seine Inhaftierung in keiner Weise gestoppt. Sie argumentiert, die Inhaftierung habe zu einer „physischen Abwesenheit geführt, aber seine Unterstützung für Kunst und Kultur wird durch seine Institutionen weitergeführt“. Asena Günal, die zuvor Programm-Koordinatorin für einen anderen Kunstraum war, übernahm einen großen Teil von Kavalas Aufgaben. Kavala ist trotz Inhaftierung noch an der Umsetzung der Projekte beteiligt: Für junge Türk*innen steht Kavala nach mehr als 850 Tagen Gefängnis, in denen er seine Projekte weiterführte und für seine Werte einstand, für Geduld und Beharrlichkeit. „Vor dem Ausbruch von Covid-19 […] besuchten ihn seine Anwälte, Frau Günal und die stellvertretende Direktorin des Vorstands von Anadolu Kültür, eine der von Kavala gegründeten NPOs zur Kulturförderung, regelmäßig und informierten ihn über den Stand der Projekte. Im Rahmen dieser Besuche empfing und versandte er auch Notizen an andere Kollegen, und war weiterhin in die Umsetzung der Projekte stark involviert“, so Altıntaş.
Europäische Reaktionen auf die erneute Verhaftung Kavalas
Die erneute Inhaftierung Kavalas wurde von der Menschenrechtskommissarin des Europarates, Dunja Mijatović, stark verurteilt und als Illustration der Krise innerhalb der türkischen Judikativen eingestuft. Weiterhin appellierte sie in ihrem Statement an die türkische Judikative und den Rat der Richter*innen, solche Missbräuche von Strafverfahren nicht gerichtlich zu bestätigen. Die erneute Verhaftung Kavalas kann nur als ein weiterer Konfliktpunkt in der bereits angespannten EU-Türkei Beziehung gesehen werden. Kavalas Arbeit diente Reimar Volker zufolge (Leiter des Goethe Institutes in der Türkei) „letztlich der Versöhnung, der Zusammenarbeit, dem Kontakt mit dem Iran, aber auch nach Europa“. In Deutschland und anderen europäischen Ländern ist Kavala besonders durch Amnesty International, Reporter ohne Grenzen und eine Petition der Künstler*innen des 3. Berliner Herbstsalons mit der Forderung nach einer sofortigen Freilassung Osman Kavalas bekannt. Auch Politiker*innen und Kulturschaffende in Deutschland, wie Cem Özdemir und Shermin Langhoff (Intendantin des Maxim-Gorki-Theaters) positionierten sich öffentlich für einen Freispruch von Kavala.
Wie geht es weiter?
Am 9. März 2020 wurde Kavala, nach Informationen der unabhängigen türkischen Presseagentur Bianet, in dem neuen Gerichtsverfahren erstmalig befragt. Nach seiner Vernehmung wurde er auf Basis des Vorwurfs der Spionage inhaftiert. Dieser Vorwurf wird innerhalb des bestehenden Verfahrens aufgrund des „Versuches die konstitutionelle Ordnung in der Türkei zu stören“ mit den Kontakten von Kavala zu Henri Barkey begründet. Dieser ist ein ehemaliger Mitarbeiter des US Department of State, dem vorgeworfen wird einer der Putschisten im Putschversuch 2016 gewesen zu sein. In Folge der Vernehmung vom 9. März kamen Stimmen auf, die behaupten, dass auf Basis von türkischem Recht die derzeitig andauernde Inhaftierung von Kavala nicht zu rechtfertigen sei. Eine dieser Stimmen stammt von dem türkischen Journalisten und Abgeordneten der HDP im türkischen Parlament Ahmet Şık. Kavala hätte rechtlich gesprochen spätestens am 25. Februar 2020 freigelassen werden müssen. Weiterhin argumentiert Şık, dass Kavala erneut am 10. März hätte freigesprochen werden müssen, da das Urteil des EGMR am 10. Dezember 2019 gefasst wurde. Die Türkei hatte nach der Veröffentlichung des Urteils drei Monate Zeit gegen dieses zu wiedersprechen, dies tat sie jedoch nicht. Somit wird die Nichtumsetzung des Urteils automatisch zu einer Prüfung durch das Ministerkomitee des Europarates führen. Dies ist ein langwieriger Prozess, der als letztes Mittel eingesetzt werden und den Ausschluss des angeklagten Staates aus dem Europarat zufolge haben kann. Da in dem Urteil des EGMR auch der Putschversuch schon mit thematisiert wurde, gilt nach der Einschätzung von Şık der Freispruch auch für die erneute Anklage. Kavalas Inhaftierung bleibt jedoch bis heute bestehen. Für die türkische Kulturszene jedoch bleibt es eine rein physische Absenz, seine Ideen und Konzepte werden weitergetragen.
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